[99] 12. viçeshaṇâc ca
auch wegen der Scheidung.

Auch, weil eine Scheidung eben zwischen der individuellen und der höchsten Seele gemacht wird, wenn weiterhin | in demselben Werke, da wo es heisst (Kâṭh. 3, 3):[99]


»Als Wagenlenker wisse dich,

Als einen Wagen deinen Leib« u.s.w.,


in dieser Parabel vom Wagenlenker, Wagen u.s.w., von der Schrift die individuelle Seele einem zur Wanderung und Erlösung dahinfahrenden Wagenlenker verglichen wird, während sie hingegen den höchsten Âtman mit dem Endziele, zu dem derselbe hinfährt, vergleicht, in den Worten (Kâṭh. 3, 9):


»Der Mann erreicht das Ziel des Weges,

Das, was des Vishnu höchster Schritt.«


Und eben diese Unterscheidung findet sich auch im vorhergehenden Teile des Werkes, da wo es heisst (Kâṭh. 2, 12):


»Schwer zu erschauen, in Dunkel eingegangen,

Tief in der Höhle weilt versteckt der Alte;

Ihn weiss als Gott durch innigste Verbindung

Der Weise und wird frei von Leid und Freude;«


auch hier werden beide, die individuelle und die höchste Seele, als Subjekt und Objekt des Wissens voneinander unterschieden. Hierzu kommt, dass der Gegenstand, von dem unsere Stelle handelt, der höchste Âtman ist. Denn wenn es (Kâṭh. 3, 1) heisst: »Die Brahmanwisser sagen«, so ist diese nähere Bestimmung derer, die das Folgende sagen, nur dann gerechtfertigt, wenn es sich in ihm um den höchsten Âtman handelt. Somit sind es die individuelle und die höchste Seele, von denen unsere Stelle redet.


Dieselbe Methode ist anzuwenden bei der Stelle (Muṇḍ. 3, 1, 1):


»Zwei Freunde schön befiedert wisse

Auf einem Baum verbunden du;« –


auch hier können, weil von psychischen Verhältnissen die Rede ist, nicht zwei natürliche Vögel verstanden werden. Vielmehr zeigt das Weiterfolgende:


»Der eine isst die süsse Beere,

Der andre schaut nicht essend zu«,


dass unter ersterem, wie das Merkmal des Essens beweist, die individuelle Seele, unter letzterem, wie sich aus dem Nichtessen und blossen Zuschauen ergiebt, der höchste Âtman zu verstehen ist. Auch sind es diese beiden, welche als Subjekt und Objekt des Erkennens von der Schrift unterschieden werden in dem darauf folgenden Mantra (Muṇḍ. 3, 1, 2):[100]


»Zu solchem Baum versank und liegt gebannt

In Unfreiheit der Geist und Wahn und Schmerzen;

Wohl ihm, wenn er | als Gott in sich erkannt

Den andern hat; dann weicht das Leid vom Herzen!«


Andere Meinung: »Zwei Freunde schön befiedert« u.s.w.; dieser Vers ist nicht für den Siddhânta (die endgültige Ansicht) dieses Abschnittes verwendbar, weil er im Pai gi-rahasya-brâhmaṇam anders erklärt wird, nämlich folgendermassen: »›der eine isst die süsse Beere‹, – das ist das Sattvam; ›der andre schaut nichtessend zu‹, – nichtessend blickt auf ihn herab der Geist (jña); diese beiden sind das Sattvam und der Kshetrajña (Seele.)« Man könnte denken, dass in dieser Stelle das Wort Sattvam die individuelle Seele und das Wort Kshetrajña den höchsten Âtman bedeute; aber dies geht nicht an, nicht nur, weil Sattvam und Kshetrajña ganz überwiegend gebräuchlich sind, um das Innenorgan [antaḥkaraṇam, d.h. das Manas] und die verkörperte Seele zu bezeichnen, sondern weil sie auch als solche ebendaselbst [im Pai gi-rahasya-brâhmaṇam] erklärt werden, wenn es weiter heisst: »Dasjenige ist das Sattvam, womit man das Traumbild schaut; aber die im Körper befindliche [oder: verkörperte, çârîra], zuschauende Seele, die ist der Kshetrajña; beide zusammen sind das Sattvam und der Kshetrajña.« – Ebensowenig aber kann man die obige Stelle für den Pûrvapaksha (die gegnerische Meinung) in diesem Adhikaraṇam verwenden. Denn es ist hier nicht die Rede von dem verkörperten Âtman, dem Kshetrajña, sofern er mit den Eigenschaften des Saṃsâra, dem Thätersein, Geniessersein u.s.w., behaftet ist; sondern vielmehr, sofern er, über alle Eigenschaften des Saṃsâra erhaben, seinem Wesen nach das Brahman und rein geistiger | Natur ist; denn die Stelle [im Pai gi-rahasya-brâhmaṇam] erklärt ihn durch die [ebenfalls metrischen] Worte: »nichtessend blickt auf ihn herab der Geist (jña.)« Und andere Stellen der Schrift und Smṛiti sagen: »das bist du« (Chând. 6, 8, 7); – »auch als den Kshetrajña sollst du mich wissen« (Bhag. G. 13, 2), u.s.w. Nur auf diese Weise kommt auch die Zusammenfassung der Lehre zu ihrem Rechte, welche sich zeigt in den Worten [des Pai gi-rahasya-brâhmaṇam]: »beide zusammen sind das Sattvam und der Kshetrajña. – Fürwahr, an dem, der Solches weiss, bleibt kein Staub hängen« u.s.w. – ›Aber wie ist es, bei dieser Auffassung, zu erklären, dass in den Worten [des Pai gi-rahasya-brâhmaṇam] »›der eine isst die süsse Beere‹, das ist das Sattvam« dem nichtgeistigen Sattvam ein Geniessersein zugeschrieben wird?‹ – Wir antworten: diese Schriftstelle hat gar nicht die Absicht, dem ungeistigen Sattvam ein Geniessersein zuzuschreiben, sondern ihre Absicht ist vielmehr zu zeigen, dass der geistige Kshetrajña [in Wahrheit] Nicht-Geniesser und[101] seinem Wesen nach Brahman ist. Zu diesem Zwecke legt sie dem Sattvam, sofern dasselbe [z.B. nach der Sâ khya-Lehre] als Modifikationen die Lust u.s.w. hat, das Geniessersein in übertragenem Sinne bei. Nämlich das ganze Thätersein und Geniessersein wird dem Sattvam und Kshetrajña nur beigelegt, sofern man ihre beiderseitigen Wesenheiten nicht unterscheidet. Der höchsten Realität nach hingegen kommt es weder dem einen noch dem andern zu, weil das Sattvam ein ungeistiges, der Kshetrajña aber ein unmodificierbares Princip ist. Und wenn man bedenkt, dass das ganze Sattvam seiner Natur nach nur von dem Nichtwissen (avidyâ) aufgestellt wird, so kommt ihm jenes [Thätersein und Geniessersein] erst recht nicht zu. Und in diesem Sinne sagt auch die Schrift: »Nämlich wo gleichsam ein anderes ist, da sieht der eine das andere« u.s.w. (Bṛih. 4, 3, 31, vgl. Bṛih. 4, 5, 15); diese Worte besagen, dass, vergleichbar der Beschäftigung mit dem im Traum gesehenen Elefanten und dergleichen (Bṛih. 4, 3, 20), die ganze Beschäftigung mit dem Thätersein u.s.w. nur dem Bereiche des Nichtwissens angehört. Und wenn es heisst: »wo aber einem alles zum eigenen Selbste geworden ist, wie sollte da einer den anderen sehen«, u.s.w. (Bṛih. 4, 5, 15), so besagen diese Worte, dass für den, welcher die Unterscheidung (viveka) erlangt hat, die ganze Beschäftigung mit dem Thätersein u.s.w. aufgehoben ist.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 99-102.
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