[93] 8. sambhoga-prâptir, iti cen? na! vaiçeshyât
dass er mitleide, meint ihr, folge? O nein! wegen der Unterschiedlichkeit.

Man könnte einwenden: ›wenn das wie der Raum allgegenwärtige Brahman mit dem Herzen alles Lebenden verbunden ist, und[93] sich auch insofern, als es geistiger Natur ist, von der verkörperten Seele nicht unterscheidet, so muss es doch ebenso wie diese auch an dem Genusse von Lust und Schmerz teilnehmen; und dies scheint auch aus der Einheit [des Âtman] sich zu ergeben. Denn es giebt ja ausser der höchsten Seele gar keine andere, wandernde Seele, indem die Schrift sagt: »nicht giebt es ausser ihm einen Erkennenden« (Bṛih. 3, 7, 23.) Folgt nicht hieraus, dass die höchste Seele an den Leiden der Seelenwanderung teilnehmen muss?‹ – Auf diese Meinung entgegnen wir: »O nein, wegen der Unterschiedlichkeit.« Denn zunächst folgt daraus, dass Brahman mit dem Herzen alles Lebenden verbunden ist, keineswegs, dass es ebenso wie die verkörperten Seelen an den Leiden teilnimmt, | »wegen der Unterschiedlichkeit«; d.h. weil gleichwohl ein Unterschied besteht zwischen der verkörperten Seele und dem höchsten Gotte; die eine ist handelnd und geniessend, vollbringt Gutes und Böses und erleidet Lust und Schmerz; der andere hingegen besitzt die Eigenschaften der Freiheit von allem Übel u.s.w. Darum also, weil die beiden verschieden sind, leidet die eine, der andere aber nicht. Folgte aus dem blossen Zugegensein und ohne weitere Teilnahme an dem Thatvermögen einer Sache eine Teilnahme an ihren Wirkungen, so würde z.B. der Raum auch mit den Körpern verbrennen müssen. Übrigens ist uns diese Schwierigkeit sowie auch ihre Hebung gemeinsam mit allen denen, welche [wie die Sâ khya's u.a.] eine Vielheit der Seelen und dabei eine Allgegenwart derselben lehren. Wenn aber weiter behauptet wurde, dass wegen der Einheit des Brahman, und weil es eine andere Seele nicht giebt, das Brahman an dem Leiden der verkörperten Seele teilnehmen müsse, so ist darauf Folgendes zu erwidern. Zunächst müssen wir dich, du Freund der Götter, fragen, mit welchem Rechte du behauptest, dass es keine andere Seele ausser Brahman gebe? Willst du dich etwa berufen auf Schriftstellen wie: »das bist du« (Chând. 6, 8, 7), »ich bin Brahman« (Bṛih. 1, 4, 10), »nicht giebt es ausser ihm einen Erkennenden« (Bṛih. 3, 7, 23)? Nun, dann musst du den Sinn der Schriftworte auch in schriftmässiger Weise auffassen und darfst es nicht bei einer halben Verdauung bewenden lassen. Die Schrift aber, sofern sie durch das Wort »das bist du«, das von allem Übel u.s.w. freie Brahman als das Selbst der verkörperten Seele aufweist, bestreitet überhaupt sogar, dass die verkörperte Seele das Leiden empfinde. Wie kannst du also schliessen, dass darum, weil sie leide, auch das Brahman leiden müsse! – Oder aber du nimmst die Einheit der verkörperten Seele mit dem Brahman nicht an: nun dann trifft das auf dem falschen Wahne [der empirischen Anschauung] beruhende Leiden die verkörperte Seele; das Brahman hingegen wird, weil es seinem Wesen nach die [über jenen Wahn erhabene] absolute Realität ist, von dem Leiden nicht berührt. Denn deswegen, weil Unerfahrene[94] die blaue Farbe des Grundes u.s.w. dem Himmelsraume andichten, kann das Merkmal der blauen Farbe u.s.w. nicht im Sinne der absoluten | Realität dem Himmelsraume beigelegt werden. – In diesem [idealistischen, ausser in dem oben angenommenen realistischen] Sinne sagt unser Sûtram: »O nein, wegen der Unterschiedlichkeit.« D.h. auch wenn man die Einheit annimmt, so braucht man nicht zuzugeben, dass bei dem Leiden der verkörperten Seele das Brahman mitleide, »wegen der Unterschiedlichkeit«; nämlich es besteht ein Unterschied zwischen der falschen Erkenntnis und der vollkommenen Erkenntnis; auf der falschen Erkenntnis beruht das Leiden, auf der vollkommenen Erkenntnis die Anschauung der Einheit; durch das von der falschen Erkenntnis angenommene Leiden wird die durch die vollkommene Erkenntnis angeschaute Realität nicht berührt. Somit lässt sich nicht behaupten, dass Gott von dem Leiden auch nur im geringsten betroffen werde.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 93-95.
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