[111] 20. ēārīraē ca, ubhaye 'pi hi bhedena enam adhīyate
und die verkörperte, denn beide lesen so, dass jene unterschieden.

»Und« auch nicht – dieses »nicht« hat man aus dem vorigen Sūtram zu ergänzen – »die verkörperte« Seele darf unter dem innern Lenker verstanden werden. Denn wenn auch die Eigenschaften des Sehens u.s.w. ihr zukommen, so kann sie doch nicht, sofern sie durch die Upādhi's, wie der Raum durch die Gefässe, abgegrenzt ist, allgemein als der inwendig in der Erde u.s.w. weilende und dieselben regierende Geist bezeichnet werden. Hierzu kommt, dass »beide« Vedaschulen, die Kāṇva's und die Mādhyandina's, an der Stelle »so lesen, dass jene«, die verkörperte Seele, von dem innern Lenker »unterschieden« wird, indem auch sie, ebenso wie die Erde u.s.w., einer der Standorte desselben ist und von ihm innerlich gelenkt wird. Denn die Kāṇva's lesen (Bṛih. 3, 7, 22): »Der in der Erkenntnis wohnend« u.s.w., und die Mādhyandina's lesen [an der entsprechenden Stelle, Ēatap. br. 14, 6, 7, 30] »der in dem Selbste wohnend«. Liest man [mit ihnen] »der in dem Selbste wohnend«, so ist unter dem Worte »Selbst« hier die verkörperte Seele zu verstehen; aber auch wenn man liest »der in der Erkenntnis wohnend«, so kann hier das Wort »Erkenntnis« ebenfalls nur die verkörperte Seele bedeuten, denn der »erkenntnisartige« Ātman [vijńānamaya, vgl. Taitt. 2, 4; gewöhnlicher vijńānātman genannt] ist die verkörperte Seele. Somit steht es fest, dass man unter dem innern Lenker nicht die verkörperte Seele, sondern Gott zu verstehen hat. – ›Aber wie kann man in dem einen Leibe zwei Sehende annehmen, nämlich Gott als den innern Lenker und die von ihm verschiedene verkörperte Seele? Worin | die Unangemessenheit liege, fragt ihr? nun darin, dass das Schriftwort: »nicht giebt es ausser ihm einen Sehenden«[111] (Bṛih. 3, 7, 23) dieser Annahme entgegen ist. Denn nach ihm giebt es ausser dem in Rede stehenden innern Lenker keinen anderen, sehenden, hörenden, denkenden und erkennenden Ātman. Und dass die Stelle nur den Zweck habe, einen zweiten innern Lenker auszuschliessen, lässt sich nicht annehmen, indem an einen solchen zu denken keine Veranlassung ist, auch das Schriftwort ganz allgemein sich ausdrückt.‹ – Hierauf erwidern wir: diese Bezeichnung des Unterschiedes zwischen der verkörperten Seele und dem innern Lenker beruht nur auf den Upādhi's der Organe des Wirkens, wie sie vom Nichtwissen aufgestellt werden, und ist nicht im höchsten Sinne real. Denn es giebt in Wahrheit nur eine innere Seele und nicht zwei, die Auffassung dieser einen als zwei aber wird, ebenso wie die des [besonderen] Raumes im Gefässe innerhalb des grossen Raumes, nur bedingt durch die Upādhi's. Und auf diesen Upādhi's beruht es, dass solche Schriftstellen, welche Subjekt und Objekt der Erkenntnis unterscheiden, dass ferner die Erkenntnismittel wie Wahrnehmung u.s.w., das Bewusstsein des Saṃsāra und der Schriftkanon der Gebote und Verbote, alles dieses miteinander möglich ist. – Und in diesem Sinne sagt die Schrift: »denn wo eine Zweiheit gleichsam ist, da sieht einer den anderen«; mit diesen Worten lässt sie für den Bereich des Nichtwissens alles Thun und Treiben bestehen; wenn es aber weiter heisst: »wo aber einem alles zum eigenen Selbste geworden ist, wie sollte da einer den anderen sehen« (Bṛih. 4, 5, 15), so erklärt die Schrift mit diesen Worten, dass in dem Bereiche des Wissens alles Thun und Treiben [des Saṃsāra] nicht mehr besteht.

Quelle:
Die Sūtra's des Vedānta oder die Ēārīraka-Mīmāṅsā des Bādarāyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 111-112.
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