[112] 21. adṛiçyatva-âdi-guṇako, dharma-ukteḥ
der mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w., wegen Nennung seiner Qualitäten.

Die Schrift sagt: »aber die höhere [Wissenschaft] ist die, durch welche jenes Unvergängliche erkannt wird, das Unsichtbare, Ungreifbare, Namenlose, Farblose, ohne Augen und Ohren, ohn' Händ' und Füsse, ewig, alldurchdringend, allgegenwärtig, sehr fein, unvergänglich, was als der Wesen Mutterschoss die Weisen schauen« (Muṇḍ. 1, 1, 5.) – Es erhebt sich die Frage, ob unter diesem, »mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w.« ausgestatteten[112] Mutterschosse der Wesen die Urmaterie zu verstehen ist, oder die verkörperte Seele, oder vielmehr der höchste Gott?

Man könnte denken, dass es das Richtige sei, ›hier unter dem Mutterschosse der Wesen die ungeistige Urmaterie zu verstehen, sofern auch in dem hinzugefügten Gleichnisse nur Ungeistiges vorkommt, wenn es [a.a.O. weiter] heisst: »Wie eine Spinne auslässt und zurücknimmt [den Faden], wie die Pflanzen aus der Erde, wie aus dem Lebenden die Haare wachsen, so aus dem Unvergänglichen das Weltall« (Muṇḍ. 1, 1, 7.)‹ – Aber sind nicht die Spinne und der Mensch, die hier in dem Gleichnisse vorkommen, geistige Wesen? – ›Doch nicht, so antworten wir, denn aus einem blossen Geiste kann nicht der Faden, können nicht die Haare hervorgehen; vielmehr ist der zwar von einem Geistigen bewohnte, selbst aber ungeistige Leib der Spinne die Ursache des Fadens, sowie der Leib des Menschen die der Haare. Hierzu kommt, dass wir zwar an früheren Stellen, wiewohl die [dort erwähnte] Unsichtbarkeit u.s.w. dazu gepasst hätten, doch nicht die Urmaterie verstehen durften, weil die [daneben stehende] Bezeichnung als das Sehende u.s.w. auf dieselbe nicht passte; | dass hier hingegen die Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w. auf die Urmaterie passen, und auch dabei von keiner Eigenschaft die Rede ist, die ihr widerspräche.‹ – Aber es heisst doch weiterhin (Muṇḍ. 1, 1, 9) »der alles kennt und alles weiss«, und diese Fortsetzung passt doch nicht auf die ungeistige Urmaterie! Wie kann man also unter dem Mutterschosse der Wesen die Urmaterie verstehen? – ›Darauf erwidern wir: wenn es heisst: »die [Wissenschaft], durch welche jenes Unvergängliche erkannt wird, das Unsichtbare« u.s.w., so wird hier der mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w. ausgestattete Mutterschoss der Wesen als »das Unvergängliche« bezeichnet, und mit demselben Namen wird er benannt, wenn es weiter unten heisst: »noch höher als das höchste Unvergängliche« (Muṇḍ. 2, 1, 2); wohingegen derjenige, welcher hier »noch höher« als dieses Unvergängliche genannt wird, eben jener »der alles kennt und alles weiss« sein mag, während der daneben als »das Unvergängliche« erwähnte Mutterschoss der Wesen nur die Urmaterie sein kann. – Soll aber unter dem Worte »Mutterschoss« [nicht die materielle sondern] die bewirkende Ursache verstanden werden, nun, so könnte auch die verkörperte Seele der Mutterschoss sein, sofern sie durch ihre guten und bösen Werke alle Wesen, welche entstehen, mit schaffen hilft.‹

Auf diese Annahme antworten wir, dass unter dem »mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w.« ausgestatteten Mutterschosse nur der höchste Gott und kein anderer verstanden werden kann. Woraus schliessen wir das? »wegen Nennung seiner Qualitäten«, d.h., weil hier eine Qualität des höchsten Gottes genannt[113] wird, wenn es heisst: »der alles kennt und alles weiss« (Munḍ. 1, 1, 9); denn es kann weder von der ungeistigen Urmaterie, noch auch von der verkörperten Seele, deren Gesichtskreis durch die Upâdhi's eingeschränkt ist, behauptet werden, dass sie alles kennen und alles wissen. – ›Aber wir wiesen doch darauf hin, dass diese Eigenschaft des Allkennens und Allwissens erst demjenigen beigelegt wird, was hier »höher als« der unter dem »Unvergänglichen« zu verstehende Mutterschoss der Wesen heisst, | dass sie sich somit nicht auf diesen Mutterschoss der Wesen selbst beziehen kann!‹ – Darauf erwidern wir, dass das nicht angeht; weil die Schrift, nachdem sie durch die Worte: »So aus dem Unvergänglichen das Weltall« den vorerwähnten Mutterschoss der Wesen als die materiale Ursache alles Entstandenen bezeichnet hat, sofort darauf als eben diese materiale Ursache des Entstandenen jenes allwissende Wesen nennt, indem sie sagt (Muṇḍ. 1, 1, 9):


»Der alles kennt und alles weiss, des Busse ganz Erkenntnis ist,

Aus diesem ist Brahman entstanden, Name, Gestalt und Nahrungskeim.«


Da somit aus der Gleichheit der Schilderung zu ersehen, dass hier von demselben wie vorher die Rede ist, so ergiebt sich, dass es nur das in Rede stehende Unvergängliche, als Mutterschoss der Wesen, sein kann, als dessen Qualitäten hier das Allkennen und Allwissen genannt werden. Und wenn es weiter unten heisst: »noch höher als das höchste Unvergängliche« (Muṇḍ. 2, 1, 2), so ist auch dies nicht von etwas zu verstehen, welches noch höher als das in Rede stehende, den Mutterschoss der Wesen bildende, Unvergängliche wäre. Mit welchem Recht wir das behaupten, fragt ihr? Weil in den [unmittelbar vorher Muṇḍ. 1, 2, 13 stehenden] Worten:


»Durch die man kennt das Unvergängliche, den Geist, die Wahrheit,

Die Wissenschaft vom Brahman legte er ihm aus mit Klarheit«, –


nur das vorhererwähnte, den Mutterschoss der Wesen bildende, »mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w.« ausgestattete Unvergängliche als dasjenige bezeichnet wird, worüber eine Belehrung durch das Folgende in Aussicht gestellt wird. Warum dieses [im Folgenden Mitgeteilte] aber trotzdem »noch höher als das höchste Unvergängliche« (Muṇḍ. 2, 1, 2) genannt wird, das werden wir in einem späteren Sûtram erklären. Hierzu kommt, | dass es [im Eingange der Upanishad] hiess, zwei Wissenschaften müsse man kennen, die höhere und die niedere; und nachdem als die niedere Wissenschaft der Ṛigveda u.s.w. bezeichnet worden war, so wurde weiter gesagt: »Aber die höhere ist die, durch welche jenes Unvergängliche erkannt wird« u.s.w. Hier wird das »Unvergängliche« als der Gegenstand der höheren Wissenschaft[114] bezeichnet. Würde nun aber dieses mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w. ausgestattete Unvergängliche für etwas anderes als den höchsten Gott gehalten, so könnte die Wissenschaft von ihm nicht die höhere heissen. Nämlich diese Einteilung der Wissenschaft in eine niedere und höhere wird darum gemacht, weil die eine als ihre Frucht Beglückung, die andere hingegen das höchste Gut [d.h. Erlösung] bringt. Dass aber die Wissenschaft von der Urmaterie das höchste Gut als Frucht habe, wird niemand behaupten wollen. Bestünde hier die Absicht, den höchsten Âtman, wie oben behauptet wurde, als ein höheres gegen das den Mutterschoss der Wesen bildende Unvergängliche hinzustellen, so müssten [in der Eingangsstelle] drei Wissenschaften in Aussicht genommen werden. Es werden aber vielmehr nur zwei Wissenschaften als zu wissen aufgestellt. Und auch die vorhergehende Frage: »was ist das, o Ehrwürdiger, mit dessen Erkenntnis die ganze Welt erkannt ist?« (Muṇḍ. 1, 1, 3), welche auf die eine Erkenntnis abzweckt, die der Inbegriff aller Erkenntnis sei, ist nur dann am Platze, wenn von dem alles beseelenden Brahman die Rede sein soll, nicht aber, wenn es sich um die bloss für das Ungeistige den Ausgangspunkt bildende Urmaterie oder um die ein zu Geniessendes ausser sich habende, geniessende [individuelle] Seele handelt. Auch heisst es [in den Eingangsversen Muṇḍ. 1, 1, 1]:


»Der lehrte seinem ältesten Sohn Atharva

Das Brahmanwissen, | alles Wissens Grundstein.«


Wenn hier das Brahmanwissen als Thema aufgestellt und sodann, nach Unterscheidung des niedern und höhern Wissens, als Gegenstand des höhern Wissens das »Unvergängliche« bezeichnet wird, so folgt daraus, dass das Wissen von ihm jenes Brahmanwissen ist. Und diese Bezeichnung als »Brahmanwissen« würde, wenn das durch dasselbe zu erlangende Unvergängliche nicht das Brahman wäre, hinfällig werden. Die niedere Wissenschaft aber, d.h. die auf den Ṛigveda u.s.w. bezügliche Werkwissenschaft wird hier zu Eingang der Wissenschaft von Brahman erwähnt, um das Brahmanwissen zu verherrlichen. Denn wenn es [im weitern Verlaufe, Muṇḍ. 1, 2, 7] heisst:


»Doch wandelbar und unbeständig sind

Die achtzehn, die sich auf das Opfer stützen,

In denen ausgedrückt das niedere Werk liegt. –

Der Thor, der dieses als das Heil begrüsst,

Verfällt dem Alter und dem Tod aufs neue«, u.s.w.,


so wird hier eine Verwerfung jener niedern Wissenschaft ausgesprochen; und nachdem sie verworfen worden, so wird gezeigt, wie der, welcher sich von ihr abwendet, für die höhere Wissenschaft berufen sei, in den Worten (Muṇḍ. 1, 2, 12):[115]


»Betrachtend diese Welt, gebaut durch Werke,

Soll von ihr ab sich wenden der Brahmane!

Was unvollbringlich ist, vollbringt kein Werk;

Dies zu erkennen soll mit Brennholz er

Zu einem Lehrer gehen, der die Schrift kennt

Und in dem Brahman festgewurzelt steht.«


Wenn weiter bemerkt wurde, dass deswegen, weil in dem Gleichnisse von ungeistigen Dingen, wie Erde u.s.w., die Rede ist, auch das Verglichene, nämlich der Mutterschoss der Wesen, ein Ungeistiges sein müsse, so ist das unzutreffend, weil keine Regel verlangt, dass das Gleichnis und das Verglichene absolut gleich sein [lies: sâmyena] müssen, | wie denn z.B. deswegen, weil die im Gleichnisse vorkommenden, Erde u.s.w., grobmateriell sind, der verglichene Mutterschoss der Wesen nicht grobmateriell zu sein braucht. Somit kann also unter dem »mit den Eigenschaften der Unsichtbarkeit u.s.w.« ausgestatteten Mutterschosse der Wesen nur der höchste Gott verstanden werden.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 112-116.
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