[106] 17. anavasthiter asambhavâc ca na itaraḥ
wegen der Unbeständigkeit und der Unzutreffendheit nicht ein anderer.

Wenn oben behauptet wurde, dass der im Auge Weilende auch das Spiegelbild oder eine individuelle oder eine göttliche Seele[106] sein könne, so entgegnen wir darauf, dass »nicht ein anderer«, z.B. das Spiegelbild oder dergleichen, verstanden werden darf; warum? »wegen der Unbeständigkeit.« Denn was zunächst das Spiegelbild betrifft, so befindet sich dieses nicht beständig im Auge. Nämlich nur wenn eine Person an das Auge herantritt, zeigt sich im Auge das Bild dieser Person, entfernt sie sich aber, so ist es nicht mehr zu sehen. Auch besagen die Worte, »der Mann, welchen man im Auge siehet«, wie aus der Nebeneinanderstellung hervorgeht, dass hier ein Mann, welcher im eigenen Auge [nicht in einem fremden] zu sehen ist, zur Verehrung empfohlen wird; man darf aber die Stelle nicht so auffassen, als müsste man zur Zeit der Andacht irgend einen andern Menschen zur Hervorbringung eines Spiegelbildes sich vor Augen bringen und diesen dann verehren. Und auch die Stelle: »mit diesem Leibe gehet es zugleich zu Grunde« (Chând. 8, 9, 1), | zeugt für die »Unbeständigkeit« eines solchen Spiegelbildes. Weiter auch kann das Spiegelbild nicht gemeint sein, »wegen der Unzutreffendheit«, d.h., weil die [hier vorkommenden] Eigenschaften der Unsterblichkeit u.s.w. auf das Spiegelbild nicht zutreffen. – Ebensowenig aber kann man von der individuellen Seele behaupten, dass sie sich ausschliesslich im Auge befinde, da sie vielmehr allgemein mit dem ganzen Leibe und den Sinnesorganen verbunden ist; während hingegen bei dem Brahman, obwohl es alldurchdringend ist, eine zum Zwecke der Auffassung angenommene Verbindung desselben mit dem Herzen und andern speciellen Orten in der Schrift vorkommt. Übrigens gilt ebenso gut [wie für das Spiegelbild] auch für die individuelle Seele, dass die Eigenschaften der Unsterblichkeit u.s.w. bei ihr »unzutreffend« sind. Denn wenn auch der individuelle Âtman von dem höchsten Âtman eigentlich nicht verschieden ist, so wird demselben doch in Folge des Nichtwissens, der Begierden und der Werke eine Sterblichkeit in uneigentlichem Sinne beigelegt und ebenso die Furcht, so dass die Unsterblichkeit und Furchtlosigkeit auf ihn nicht passen; und ebenso sind auch die Bezeichnungen als Liebeshort u.s.w. auf denselben, da er der Gottherrlichkeit (aiçvaryam) ermangelt, nicht anwendbar. – Was endlich die Annahme betrifft, dass eine Götterseele hier gemeint sei, so könnte einer solchen zwar nach der Stelle »jener fusst durch die Strahlen in diesem« (Bṛih. 5, 5, 2) das Weilen im Auge beigelegt werden, aber es passt nicht auf sie, dass der Mann im Auge »der Âtman« genannt wird, weil sie eine Gestalt der Aussenwelt ist. Und auch die Eigenschaften der Unsterblichkeit u.s.w. würden nicht auf eine Götterseele passen, weil eine solche, nach der Schriftlehre, entstanden und vergänglich ist. Denn wenn auch von einer »Unsterblichkeit« der Götter die Rede ist, so bedeutet dies doch nur ein Bestehen derselben durch lange Zeit; und auch ihre Gottherrlichkeit (aiçvaryam) ist keine ursprüngliche, sondern[107] eine solche, welche von dem höchsten Gotte abhängig ist. Denn ein Schriftlied sagt (Taitt. 2, 8):


»Aus Furcht vor ihm geht auf die Sonne,

Aus Furcht vor ihm fährt hin der Wind,

Aus Furcht vor ihm nur tummeln sich

Mond, Feuer und zufünft der Tod.«


| Somit kann unter dem, der im Auge weilet, nur der höchste Gott verstanden werden. Wenn aber derselbe dabei durch den Ausdruck »den man im Auge siehet« als etwas Bekanntes angeführt wird, so bezieht sich dieses auf die Schriftoffenbarung, betrifft den Wissenden und ist zu betrachten als eine Verherrlichung des Wissens.

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 106-108.
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