[384] 6. pratijñâ-ahânir avyatirekâc, chabdebhyaḥ
die Verheissung der Schrift bleibt [nur dann] nicht unerfüllt, wenn [der Raum] nicht darüber hinaus besteht, wegen der Schriftstellen.

Die Schrift sagt: »wodurch [auch] das Ungehörte ein [schon] Gehörtes, das Unverstandene ein Verstandenes, das Unerkannte[384] ein Erkanntes wird« (Chând. 6, 1, 2); – »fürwahr, von wem der Âtman gesehen, gehört, verstanden und erkannt worden ist, von dem wird diese ganze Welt gewusst« (Bṛih. 4, 5, 6); – »was ist das, o Ehrwürdiger, mit dessen Erkenntnis diese ganze Welt erkannt ist« (Muṇḍ. 1, 1, 3); – »kein Wissen giebt es ausserhalb des Seienden«; – so lautet in den verschiedenen Vedântatexten die Verheissung [des Einen, in dem Alles erkannt sein solle]. Diese Verheissung bleibt nur dann nicht unerfüllt, besteht nur dann ohne Widerspruch, wenn die gesamte aus Dingen bestehende Welt über das zu erkennende Brahman nicht hinausreicht. Reicht irgend etwas über Brahman hinaus, so geht die Verheissung, dass mit der Erkenntnis des einen [Brahman] alles erkannt sein solle, nicht in Erfüllung. Dieses Nichthinausreichen ist aber nur dann möglich, wenn die gesamte aus Dingen bestehende Welt aus dem einen Brahman entstanden ist. Denn »wegen der Schriftstellen« ergiebt sich, dass die Erfüllung jener Verheissung nur in dem Sinne zu denken ist, in welchem das Produkt nicht über den Urstoff, aus dem es hervorgegangen, hinausreicht. Denn wenn es z.B. heisst: »wodurch [auch] das Ungehörte ein [schon] Gehörtes wird« (Chând. 6, 1, 2), so wird hier etwas verheissen; | und diese Verheissung [das Eine zu lehren, in welchem Alles inbegriffen sei], wird verwirklicht durch die Gleichnisse vom Thone u.s.w., deren Zweck es ist, die Identität der Wirkung mit der Ursache zu lehren; und nur der Erweisung dieser Identität dienen die weiter folgenden Aussprüche: »seiend nur o Teurer, war dieses zu Anfang, eines nur und ohne zweites« (Chând. 6, 2, 1); »dasselbige beabsichtigte, ... da schuf er das Feuer« (Chând. 6, 2, 3.) Nachdem diese Stellen alle Weltwirkungen aus dem Brahman abgeleitet haben, so zeigt das darin Folgende, dass sie nicht über dasselbe hinausreichen, wenn es heisst: »dessen Wesens ist dieses Weltall« u.s.w. bis zum Ende des Abschnittes (Chând. 6, 8, 7-16.) Wäre der Raum keine Wirkung des Brahman, so würde die Erkenntnis des Raumes nicht in der Erkenntnis des Brahman einbegriffen sein, und somit würde die Schriftverheissung unerfüllt bleiben. Es ziemt sich aber nicht, die Unerfülltheit einer Schriftverheissung zuzugeben und dadurch den Veda um seine Autorität zu bringen. – In ähnlicher Weise geben, je nach den verschiedenen Vedântatexten, bald diese, bald jene Gleichnisse jene Verheissung [als erfüllt] zu erkennen, z.B. da wo es heisst: »dieses Weltall ist was diese Seele ist« (Bṛih. 2, 4, 6); – »Brahman allein ist dieses Unsterbliche im Osten« (Muṇḍ. 2, 2, 11) u.s.w. Somit folgt, dass ebenso gut wie das Feuer u.s.w. auch der Raum (Äther) u.s.w. entstanden ist.

Wenn hingegen behauptet wurde, dass der Raum nicht entstanden sein könne, weil das Schriftzeugnis [in der Stelle Chând. 6, 2, 3) dafür fehle, so ist dieses unzutreffend, weil eine andere[385] Schriftstelle sich aufweisen lässt, welche die Entstehung des Raumes bezeugt mit den Worten: »fürwahr, aus diesem Âtman ist der Raum entstanden« (Taitt. 2, 1.) – ›Freilich lässt sie sich aufweisen‹, könnte man sagen, ›aber sie tritt auf im Widerspruche mit jener andern Stelle: »da schuf er das Feuer« (Chând. 6, 2, 3), indem nicht alle Schriftstellen miteinander übereinstimmen. Denn Übereinstimmung ist nur zwischen dem, was sich nicht widerspricht; hier aber liegt ein Widerspruch vor. Denn es ist nicht möglich, den Schöpfer, wenn er nur einmal genannt wird, | auf ein Zweiheit von geschaffenen Dingen zu beziehen; auch können zwei Dinge nicht beide zugleich das Ersterschaffene sein; und ein Wahlbelieben [wie im Werkteile des Veda] ist hier nicht zulässig.‹ – Diese Einwendungen sind nicht zutreffend, weil auch im Taittirîyakam die Schöpfung des Feuers, und zwar an dritter Stelle, erwähnt wird, indem es heisst: »fürwahr aus diesem Âtman ist der Raum entstanden, aus dem Raume der Wind, aus dem Winde das Feuer« (Taitt. 2, 1.) Diese Schriftstelle nämlich kann man nicht anders deuten, während sich die Stelle im Chândogyam auch so auffassen lässt, dass Brahman erst nach Erschaffung des Raumes und des Windes das [dort erwähnte] Feuer erschaffen habe. Denn diese Stelle hat, da es ihr nur darum zu thun ist, die Schöpfung des Feuers zu lehren, nicht die Kraft, die in einer andern Schriftstelle bezeugte Schöpfung des Raumes auszuschliessen. Denn die eine Stelle kann nicht zwei Zwecke haben [den, die Schöpfung des Feuers zu lehren, und den, die des Raumes zu verneinen]. Wohl aber kann der Schöpfer, obwohl er einer ist, der Reihe nach verschiedene Produkte hervorbringen. Da somit die Annahme einer Übereinstimmung der Stellen möglich ist, so darf man nicht die Schriftstelle, unter dem Vorgeben, dass sie jener andern widerspreche, im Stiche | lassen. Übrigens haben wir gar nicht die Absicht, den Schöpfer da, wo er nur einmal vorkommt, mit einer Zweiheit des zu Schaffenden zu verknüpfen; sondern vielmehr wegen der andern Schriftstelle nehmen wir das andere zu Schaffende hinzu. Und ebenso wie deshalb, weil in der Stelle »fürwahr dieses Weltall ist Brahman; als Tajjalân« [u.s.w.] (Chând. 3, 14, 1) die Entstehung des Dinglichen aus Brahman schon ausgesagt wird, die nachher an einem andern Orte gelehrte, mit dem Feuer anfangende Stufenreihe der Schöpfung nicht ausgeschlossen zu werden braucht, – ebenso braucht weiter auch, weil hier die Entstehung des Feuers aus Brahman ausgesagt wird, die in einem andern Texte gelehrte mit dem Äther anfangende Stufenreihe der Schöpfung nicht ausgeschlossen zu werden. – ›Aber hat die erwähnte Stelle, in der es weiter heisst: »als Tajjalân soll man ihn ehren in der Stille« (Chând. 3, 14, 1), nicht vielmehr nur den Zweck, die Stille des Gemütes anzubefehlen, und nicht den, eine Schöpfung zu lehren;[386] so dass sie nicht nötig hat, mit der an einer weiterhin folgenden Stelle gelehrten Stufenreihe zu harmonieren; während hingegen in dieser weiter folgenden Stelle: »da schuf er das Feuer« (Chând. 6, 2, 3), eine Aussage über die Schöpfung vorliegt, daher hier die Stufenreihe so festzuhalten ist, wie sie von der Schrift gegeben wird?‹ – Wir antworten: nein! denn wir haben nicht nötig, der Erstentstehung des Feuers zuliebe den durch eine andere Schrift bezeugten Artikel von der Raumschöpfung aufzugeben, weil die Reihenfolge nur eine Qualität der verschiedenen Artikel | ist [somit diese schon voraussetzt und nicht die Kraft hat sie umzustossen]. Übrigens sagt die Stelle: »da schuf er das Feuer« (Chând. 6, 2, 3) durchaus nichts über die Reihenfolge aus; vielmehr mutmasst ihr die Reihenfolge nur aus dem Sinne der Stelle; diese [bloss gemutmasste Reihenfolge] aber wird durch die in der andern Stelle »aus dem Winde das Feuer« (Taitt. 2, 1) gelehrte Reihenfolge ausgeschlossen. Eine Wahl hingegen oder eine Zusammenfassung in Bezug auf die Erstentstehung von Raum und Feuer bleibt ausgeschlossen, jene weil sie unmöglich, diese weil sie nicht bezeugt ist. Es ist somit zwischen den beiden Schriftstellen ein Widerspruch nicht zuzugeben. Hierzu kommt, dass schon allein die zu Anfang der Chândogyastelle gemachte Verheissung: »wodurch das Ungehörte ein schon Gehörtes wird« (Chând. 6, 1, 2), um richtig zu sein, dazu nötigt, den Raum, wenn er auch bei der Schöpfung nicht erwähnt wird, zu ergänzen; um wieviel mehr müssen wir ihn hinzunehmen, da er in der Taittirîyastelle ausdrücklich erwähnt wird! – Wenn ferner oben behauptet wurde, dass der Raum, weil er von der Gesamtheit örtlich nicht verschieden sei, schon damit, dass man Brahman und seine Wirkungen wisse, mitgewusst werde, dass somit die Verheissung auch ohne ihn erfüllt werde, und die Stelle von dem Einen ohne Zweites darum keinen Abbruch erleide, indem das Brahman und der Raum, wie Wasser und Milch [wenn sie gemischt sind], nicht übereinander hinausreichten, – so haben wir hierauf zu erwidern, dass man die Stelle, wonach durch die Erkenntnis des einen alles erkannt sei, nicht nach Analogie der mit Wasser gemischten Milch auffassen darf; vielmehr nötigen die Gleichnisse von dem Thon u.s.w. dazu, die Erkenntnis des Ganzen durch Erkenntnis des Einen in dem Sinne zu fassen, in welchem mit dem Urstoffe auch schon alle seine Produkte erkannt sind. Wollte man die Allerkenntnis nach der Analogie mit dem Gemisch von Milch und Wasser verstehen, so würde sie keine vollkommene Erkenntnis sein. Denn das Wasser ist dadurch, dass es durch Erkenntnis der Milch mitbegriffen wird, nicht in vollkommener Weise begriffen. | Auch ist es nicht erlaubt, die Versicherungen des Veda so aufzufassen, dass dabei wie bei Menschenwerken an Irrtum, Täuschung oder Betrug zu denken wäre. Es enthält aber die Stelle: »eines nur und ohne[387] zweites« (Chând. 6, 2, 1) eine Versicherung, welche, wenn man sie nach Analogie des Wassers und der Milch auffassen wollte, nicht zu Rechte bestehen könnte. Auch wäre es nicht berechtigt, [wie p. 611, 10 fg. vorgeschlagen] jene Allerkenntnis und jene Versicherung von dem Einen ohne Zweites nur auf einen Teil der Dinge zu beziehen, indem man sie nur in Bezug auf die aus Brahman hervorgehenden Wirkungen gesagt sein liesse. Und wenn dieses auch wegen der Gleichnisse vom Thon u.s.w. zulässig wäre, so darf man diese doch nicht so auslegen, als ginge ihnen nicht vorher die Stelle: »Çvetaketu! dieweil du, o Teurer, also hochfahrenden Sinnes, dich weise dünkend und stolz bist, hast du denn auch der Unterweisung nachgefragt, durch welche [auch] das Ungehörte ein [schon] Gehörtes wird« u.s.w. (Chând. 6, 1, 2.) Man muss also vielmehr die Allerkenntnis so auffassen, dass sie sich auf alle Dinge ohne Ausnahme bezieht, und dieses dahin verstehen, dass alles als eine Wirkung des Brahman hingestellt wird.

Wenn weiter noch gesagt wurde, dass man die Schriftstelle von der Entstehung des Raumes bildlich verstehen müsse, weil es unmöglich sei, dass der Raum entstanden sei, so erwidern wir darauf:

Quelle:
Die Sûtra's des Vedânta oder die Çârîraka-Mîmâṅsâ des Bâdarâyaṇa. Hildesheim 1966 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1887], S. 384-388.
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