I. Von den ersten Kenntnissen eines auf den Geruchsinn beschränkten Menschen.

[19] 1. Wenn unsere Statue auf den Geruchsinn allein angewiesen ist, so können ihre Kenntnisse sich nur auf Düfte erstrecken. Sie kann ebensowenig Vorstellungen von Ausdehnung, Gestalt und etwas ausser ihr oder ihren Empfindungen Seiendem bekommen, als von Farbe, Ton, Geschmack.

2. Wenn wir ihr eine Rose vorhalten, so wird sie in Bezug auf uns eine Statue sein, die eine Rose riecht; aber in Bezug auf sich wird sie nur der Duft dieser Blume selbst sein.

Sie wird also Rosen-, Nelken-, Jasmin-, Veilchenduft sein je nach den Dingen, welche auf ihr Organ wirken. Kurz, die Düfte sind in dieser Hinsicht nur der Statue[19] eigene Modifikationen oder Daseinsweisen, und sie kann sich für nichts Anderes halten, weil das die einzigen Empfindungen sind, für die sie empfänglich ist.

3. Die Philosophen, denen es so augenscheinlich vorkommt, dass Alles materiell sei, mögen sich einen Augenblick an ihre Stelle versetzen und sich vorstellen, wie sie wohl auf den Gedanken kommen könnten, es existire Etwas, welches dem von uns »Materie« Genannten ähnlich ist.

4. Man kann sich also schon jetzt überzeugen, dass man nur die Zahl der Sinne zu vermehren oder zu vermindern braucht, um uns zu ganz anderen Urtheilen zu veranlassen, als die sind, die uns heutzutage so selbstverständlich vorkommen, und unsere auf den Geruchsinn beschränkte Statue kann uns eine Vorstellung von der Klasse von Wesen geben, deren Kenntnisse in den engsten Grenzen bleiben.

Quelle:
Condillac's Abhandlung über die Empfindungen. Berlin 1870, S. 19-20.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Abhandlung über die Empfindungen
Abhandlungen über die Empfindungen.