I. Abgrenzung der Geisteswissenschaften

[89] Es gilt, die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften durch sichere Merkmale vorläufig abzugrenzen. In den letzten Dezennien haben über die Natur- und Geisteswissenschaften und besonders über die Geschichte interessante Debatten stattgefunden: ohne in die Ansichten einzugehen, die in diesen Debatten einander gegenübergetreten sind, lege ich hier einen von ihnen abweichenden Versuch vor, das Wesen der Geisteswissenschaften zu erkennen und sie von den Naturwissenschaften abzugrenzen. Die vollständige Erfassung des Unterschieds wird sich erst in den weiteren Untersuchungen vollziehen.


1.

Ich gehe von dem umfassenden Tatbestand aus, welcher die feste Grundlage jedes Räsonnements über die Geisteswissenschaften bildet. Neben den Naturwissenschaften hat sich eine Gruppe von Erkenntnissen entwickelt, naturwüchsig, aus den Aufgaben des Lebens selbst, welche durch die Gemeinsamkeit des Gegenstandes miteinander verbunden sind. Solche Wissenschaften sind Geschichte, Nationalökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften, Religionswissenschaft, das Studium von Literatur und Dichtung, von Raumkunst und Musik, von philosophischen Weltanschauungen und Systemen, endlich die Psychologie. Alle diese Wissenschaften beziehen sich auf dieselbe große Tatsache: das Menschengeschlecht. Sie beschreiben und erzählen, urteilen und bilden Begriffe und Theorien in Beziehung auf diese Tatsache.

Was man als Physisches und Psychisches zu trennen pflegt, ist in dieser Tatsache ungesondert. Sie enthält den lebendigen Zusammenhang beider. Wir sind selber Natur, und die Natur wirkt in uns, unbewußt, in dunkeln Trieben; Bewußtseinszustände[89] drücken sich in Gebärde, Mienen, Worten beständig aus, und sie haben ihre Objektivität in Institutionen, Staaten, Kirchen, wissenschaftlichen Anstalten: eben in diesen Zusammenhängen bewegt sich die Geschichte.

Dies schließt natürlich nicht aus, daß die Geisteswissenschaften, wo ihre Zwecke es fordern, sich der Unterscheidung des Physischen und Psychischen bedienen. Nur daß sie sich bewußt bleiben müssen, daß sie dann mit Abstraktionen arbeiten, nicht mit Entitäten, und daß diese Abstraktionen nur in den Schranken des Gesichtspunktes Geltung haben, unter dem sie entworfen sind. Ich stelle den Gesichtspunkt dar, aus welchem die nachfolgende Grundlegung Psychisches und Physisches unterscheidet und welcher den Sinn bestimmt, in dem ich die Ausdrücke anwende. Das Nächstgegebene sind die Erlebnisse. Diese stehen nun aber, wie ich hier früher nachzuweisen versucht habe1, in einem Zusammenhang, der im ganzen Lebensverlauf inmitten aller Veränderungen permanent beharrt; auf seiner Grundlage entsteht das, was ich als den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens früher beschrieben habe; er umfaßt unsere Vorstellungen, Wertbestimmungen und Zwecke, und er besteht als eine Verbindung dieser Glieder2. Und in jedem derselben existiert nun der erworbene Zusammenhang in eigenen Verbindungen, in Verhältnissen von Vorstellungen, in Wertabmessungen, in der Ordnung der Zwecke. Wir besitzen diesen Zusammenhang, er wirkt beständig in uns, die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände sind an ihm orientiert, unsere Eindrücke werden durch ihn apperzipiert, er reguliert unsere Affekte: so ist er immer da und immer wirksam, ohne doch bewußt zu sein. Ich wüßte nicht, was dagegen eingewandt werden könnte, wenn an dem Menschen durch[90] Abstraktion dieser Zusammenhang von Erlebnissen innerhalb eines Lebenslaufs abgesondert und als das Psychische zum logischen Subjekt von Urteilen und theoretischen Erörterungen gemacht wird. Die Bildung dieses Begriffs rechtfertigt sich dadurch, daß das in ihm Ausgesonderte als logisches Subjekt Urteile und Theorien möglich macht, die in den Geisteswissenschaften notwendig sind. Ebenso legitim ist der Begriff des Physischen. Im Erlebnis treten Eindrücke, Impressionen, Bilder auf. Physische Gegenstände sind nun das zu praktischen Zwecken ihnen Untergelegte, durch dessen Setzung die Impressionen konstruierbar werden. Beide Begriffe können nur angewandt werden, wenn wir uns dabei bewußt bleiben, daß sie nur aus der Tatsache Mensch abstrahiert sind – sie bezeichnen nicht volle Wirklichkeiten, sondern sind nur legitim gebildete Abstraktionen.

Die Subjekte der Aussagen in den angegebenen Wissenschaften sind von verschiedenem Umfang – Individuen, Familien, zusammengesetztere Verbände, Nationen, Zeitalter, geschichtliche Bewegungen oder Entwicklungsreihen, gesellschaftliche Organisationen, Systeme der Kultur und andere Teilausschnitte aus dem Ganzen der Menschheit – schließlich diese selbst. Es kann von ihnen erzählt, sie können beschrieben, es können Theorien von ihnen entwickelt werden. Immer aber beziehen sich diese auf dieselbe Tatsache: Menschheit oder menschlich-gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit. Und so entsteht zunächst die Möglichkeit, diese Wissenschaftsgruppe durch ihre gemeinsame Beziehung auf dieselbe Tatsache: Menschheit zu bestimmen und von den Naturwissenschaften abzugrenzen. Zudem ergibt sich aus dieser gemeinsamen Beziehung weiter ein Verhältnis gegenseitiger Begründung der Aussagen über die in dem Tatbestand »Menschheit« enthaltenen logischen Subjekte. Die beiden großen Klassen der angegebenen Wissenschaften, das Studium der Geschichte bis zur Beschreibung des heutigen Gesellschaftszustandes und die systematischen Wissenschaften des Geistes, sind an jeder Stelle aufeinander angewiesen und bilden so einen festen Zusammenhang.


2.

[91] Aber diese Begriffsbestimmung der Geisteswissenschaften enthält zwar richtige Aussagen über sie, aber sie erschöpft deren Wesen nicht. Wir müssen die Art der Beziehung aufsuchen, welche in den Geisteswissenschaften zu dem Tatbestand der Menschheit besteht. So erst kann deren Gegenstand genau festgestellt werden. Denn es ist klar, daß die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften nicht logisch korrekt als zwei Klassen gesondert werden können durch zwei Tatsachenkreise, die sie bilden. Behandelt doch auch die Physiologie eine Seite des Menschen, und sie ist eine Naturwissenschaft. In den Tatbeständen an und für sich kann also nicht der Einteilungsgrund für die Sonderung der beiden Klassen liegen. Die Geisteswissenschaften müssen sich zu der physischen Seite des Menschen anders verhalten als zur psychischen. Und so ist es in der Tat.

In den bezeichneten Wissenschaften ist eine Tendenz wirksam, die in der Sache selber gegründet ist. Das Studium der Sprache schließt ja ebenso in sich die Physiologie der Sprachorgane als die Lehre von der Bedeutung der Worte und dem Sinn der Sätze. Der Vorgang eines modernen Krieges enthält ebenso die chemischen Wirkungen des Schießpulvers als die moralischen Eigenschaften der in Pulverdampf stehenden Soldaten. Aber in der Natur der Wissenschaftsgruppe, über die wir handeln, liegt eine Tendenz, und sie entwickelt sich in deren Fortgang immer stärker, durch welche die psysische Seite der Vorgänge in die bloße Rolle von Bedingungen, von Verständnismitteln herabgedrückt wird. Es ist die Richtung auf die Selbstbesinnung, es ist der Gang des Verstehens von außen nach innen. Diese Tendenz verwertet jede Lebensäußerung für die Erfassung des Innern, aus der sie hervorgeht. Wir lesen in der Geschichte von wirtschaftlicher Arbeit, Ansiedlungen, Kriegen, Staatengründungen. Sie erfüllen unsere Seele mit großen Bildern, sie belehren uns über die historische Welt, die uns umgibt; aber vornehmlich bewegt uns doch in diesen Berichten das den Sinnen Unzugängliche, nur Erlebbare, aus dem die[92] äußeren Vorgänge entstanden, das ihnen immanent ist und auf das sie zurückwirken; und diese Tendenz beruht auf einer von außen an das Leben herantretenden Betrachtungsweise: sie ist in ihm selber begründet. Denn in diesem Erlebbaren ist jeder Wert des Lebens enthalten, um dieses dreht sich der ganze äußere Lärm der Geschichte. Hier treten Zwecke auf, von denen die Natur nichts weiß. Der Wille erarbeitet Entwicklung, Gestaltung. Und in dieser schaffend, verantwortlich, souverän in uns sich bewegenden geistigen Welt und nur in ihr hat das Leben seinen Wert, seinen Zweck und seine Bedeutung.

Man könnte sagen, daß in allen wissenschaftlichen Arbeiten zwei große Tendenzen zur Geltung gelangen.

Der Mensch findet sich bestimmt von der Natur. Diese umfaßt die spärlichen, hier und da auftretenden psychischen Vorgänge. So angesehen erscheinen sie wie Interpolationen in dem großen Texte der physischen Welt. Zugleich ist die so auf der räumlichen Erstreckung beruhende Weltvorstellung der ursprüngliche Sitz aller Kenntnis von Gleichförmigkeiten, und wir sind von Anfang an darauf angewiesen, mit diesen zu rechnen. Wir bemächtigen uns dieser physischen Welt durch das Studium ihrer Gesetze. Diese Gesetze können nur gefunden werden, indem der Erlebnischarakter unserer Eindrücke von der Natur, der Zusammenhang, in dem wir, sofern wir selber Natur sind, mit ihm stehen, das lebendige Gefühl, in dem wir sie genießen, immer mehr zurücktritt hinter das abstrakte Auffassen derselben nach den Relationen von Raum, Zeit, Masse, Bewegung. Alle dieser Momente wirken dahin zusammen, daß der Mensch sich selbst ausschaltet, um aus seinen Eindrücken diesen großen Gegenstand Natur als eine Ordnung nach Gesetzen zu konstruieren. Sie wird dann dem Menschen zum Zentrum der Wirklichkeit.

Aber derselbe Mensch wendet sich dann von ihr rückwärts zum Leben, zu sich selbst. Dieser Rückgang des Menschen in das Erlebnis, durch welches für ihn die Natur da ist, in das Leben, in dem allein Bedeutung, Wert und Zweck auftritt, ist die andere große Tendenz, welche die wissenschaftliche Arbeit bestimmt.[93] Ein zweites Zentrum entsteht. Alles, was der Menschheit begegnet, was sie erschafft und was sie handelt, die Zwecksysteme, in denen sie sich auslebt, die äußeren Organisationen der Gesellschaft, zu denen die Einzelmenschen in ihr sich zusammenfassen – all das erhält nun hier eine Einheit. Von dem sinnlich in der Menschengeschichte Gegebenen geht hier das Verstehen in das zurück, was nie in die Sinne fällt und doch in diesem Äußeren sich auswirkt und ausdrückt.

Und wie jene erste Tendenz dahinzielt, den psychischen Zusammenhang selbst in der Sprache des naturwissenschaftlichen Denkens und unter den Begriffen desselben durch seine Methoden aufzufassen und so gleichsam sich selbst zu entfremden: so äußert sich nun diese zweite in der Rückbeziehung des sinnlich äußeren Verlaufs am menschlichen Geschehen auf etwas, das nicht in die Sinne fällt, im Besinnen auf das, was in diesem äußeren Verlauf sich manifestiert. Die Geschichte zeigt, wie die Wissenschaften, welche sich auf den Menschen beziehen, in einer beständigen Annäherung an das fernere Ziel einer Besinnung des Menschen über sich selbst begriffen sind.

Und auch diese Tendenz greift hinüber über die Menschenwelt in die Natur selber, und sie strebt, diese, die nur konstruiert, aber nie verstanden werden kann, durch Begriffe verständlich zu machen, die im psychischen Zusammenhang gegründet sind, wie das in Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Fechner, Lotze und ihren Nachfolgern geschehen ist, und ihr ihren Sinn abzulauschen, den sie doch nie erkennen läßt.

An diesem Punkte schließt sich uns der Sinn des Begriffspaares des Äußern und Innern und das Recht, diese Begriffe anzuwenden, auf. Sie bezeichnen die Beziehung, welche im Verstehen zwischen der äußeren Sinnenerscheinung des Lebens und dem, was sie hervorbrachte, was in ihr sich äußert, besteht. Nur so weit Verstehen reicht, gibt es dieses Verhältnis des Äußern und Innern, wie nur, soweit Naturerkennen reicht, das Verhältnis von Phänomenen zu dem, wodurch sie konstruiert werden, existiert.


3.

[94] Nunmehr gelangen wir zu dem Punkt, auf dem sich eine genauere Bestimmung über Wesen und Zusammenhang der Gruppe von Wissenschaften ergibt, von der wir ausgingen.

Wir sonderten zunächst die Menschheit ab von der ihr nächststehenden organischen Natur und weiter abwärts der unorganischen. Es war eine Trennung von Teilen am Ganzen der Erde. Diese Teile bilden Stufen, und die Menschheit durfte als die Stufe, in welcher Begriff, Wertabschätzung, Realisierung von Zwecken, Verantwortlichkeit, Bewußtsein der Lebensbedeutung auftreten, von der Stufe des tierischen Daseins abgegrenzt werden. Die allgemeinste Eigenschaft, die unserer Wissenschaftsgruppe gemeinsam ist, bestimmten wir nun dahin, daß sie einen gemeinsamen Bezug auf den Menschen, die Menschheit habe. In ihm ist der Zusammenhang dieser Wissenschaften gegründet. Wir faßten dann die besondere Natur dieses Bezuges ins Auge, der zwischen dem Tatbestand Mensch, Menschheit und diesen Wissenschaften besteht. Dieser Tatbestand darf nicht einfach als der gemeinsame Gegenstand dieser Wissenschaften bezeichnet werden. Vielmehr entsteht ihr Gegenstand erst durch ein besonderes Verhalten zur Menschheit, das aber nicht von außen an sie herangebracht wird, sondern in ihrem Wesen fundiert ist. Es handele sich um Staaten, Kirchen, Institutionen, Sitten, Bücher, Kunstwerke; solche Tatbestände enthalten immer, wie der Mensch selbst, den Bezug einer äußeren sinnlichen Seite auf eine den Sinnen entzogene und darum innere.

Es gilt nun weiter, dies Innere zu bestimmen. Hier ist es nun ein gewöhnlicher Irrtum, für unser Wissen von dieser inneren Seite den psychischen Lebensverlauf, die Psychologie einzusetzen. Ich versuche diesen Irrtum durch folgende Erwägungen aufzuklären.

Der Apparat von Rechtsbüchern, Richtern, Prozeßführenden, Angeklagten, wie er in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort sichtbar ist, ist zunächst der Ausdruck eines[95] Zwecksystems von Rechtsbestimmungen, kraft dessen dieser Apparat wirksam ist. Dieser Zweckzusammhang ist auf die äußere Bindung der Willen in eindeutiger Abmessung gerichtet, welche die zwangsweise realisierbaren Bedingungen für die Vollkommenheit der Lebensverhältnisse verwirklicht und die Machtsphären der Individuen in ihrer Beziehung aufeinander, auf die Sachen und den Gesamtwillen abgrenzt. Die Form des Rechtes müssen daher Imperative sein, hinter denen die Macht einer Gemeinschaft steht, sie zu erzwingen. So liegt das historische Verständnis des Rechtes, wie es innerhalb einer solchen Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit besteht, in dem Rückgang von jenem äußeren Apparat zu der vom Gesamtwillen erwirkten, von ihm durchzusetzenden geistigen Systematik der Rechtsimperative, die in jenem Apparat ihr äußeres Dasein hat. In diesem Sinne handelte Ihering vom Geist des römischen Rechts. Das Verstehen dieses Geistes ist nicht psychologische Erkenntnis. Es ist der Rückgang auf ein geistiges Gebilde von einer ihm eigenen Struktur und Gesetzmäßigkeit. Hierauf beruht von der Interpretation einer Stelle im Corpus iuris ab bis zur Erkenntnis des römischen Rechtes und der Vergleichung der Rechte untereinander die Rechtswissenschaft. Sonach ist ihr Gegenstand nicht eins mit den äußeren Tatbeständen und Begebenheiten, durch die und an denen das Recht sich abspielt. Nur sofern diese Tatbestände das Recht realisieren, sind sie Gegenstand der Rechtswissenschaft. Das Einfangen des Verbrechers, die Krankheiten der Zeugen oder der Apparat der Hinrichtung gehören als solche der Pathologie und der technischen Wissenschaft an.

Ebenso verhält es sich mit der ästhetischen Wissenschaft. Vor mir liegt das Werk eines Dichters. Es besteht aus Buchstaben, ist von Setzern zusammengestellt und durch Maschinen gedruckt. Aber die Literargeschichte und die Poetik haben nur zu tun mit dem Bezug dieses sinnfälligen Zusammenhanges von Worten auf das, was durch sie ausgedrückt ist. Und nun ist entscheidend: dieses sind nicht die inneren Vorgänge in dem Dichter, sondern ein in diesen geschaffener, aber von ihnen ablösbarer[96] Zusammenhang. Der Zusammenhang eines Dramas besteht in einer eigenen Beziehung von Stoff, poetischer Stimmung, Motiv, Fabel und Darstellungsmitteln. Jedes dieser Momente vollzieht eine Leistung in der Struktur des Werkes. Und diese Leistungen sind durch ein inneres Gesetz der Poesie miteinander verbunden. So ist der Gegenstand, mit dem die Literaturgeschichte oder die Poetik zunächst zu tun hat, ganz unterschieden von psychischen Vorgängen im Dichter oder seinen Lesern. Es ist hier ein geistiger Zusammenhang realisiert, der in die Sinnenwelt tritt und den wir durch den Rückgang aus dieser verstehen.

Diese Beispiele erleuchten, was den Gegenstand der Wissenschaften, von denen hier die Rede ist, ausmacht, worin infolge davon ihr Wesen begründet ist und wie sie sich von den Naturwissenschaften abgrenzen. Auch diese haben ihren Gegenstand nicht in den Eindrücken, wie sie in den Erlebnissen auftreten, sondern in den Objekten, welche das Erkennen schafft, um diese Eindrücke sich konstruierbar zu machen. Hier wie dort wird der Gegenstand geschaffen aus dem Gesetz der Tatbestände selber. Darin stimmen beide Gruppen von Wissenschaften überein. Ihr Unterschied liegt in der Tendenz, in welcher ihr Gegenstand gebildet wird. Er liegt in dem Verfahren, das jene Gruppen konstituiert. Dort entsteht im Verstehen ein geistiges Objekt, hier im Erkennen der physische Gegenstand.

Und jetzt dürfen wir auch das Wort »Geisteswissenschaften« aussprechen. Sein Sinn ist nunmehr deutlich. Als seit dem 18. Jahrhundert das Bedürfnis entstand, einen gemeinsamen Namen für diese Gruppe von Wissenschaften zu finden, sind sie als sciences morales oder als Geisteswissenschaften oder endlich als Kulturwissenschaften bezeichnet worden. Schon dieser Wechsel der Namen zeigt, daß keiner derselben dem ganz anmessen ist, was bezeichnet werden soll. An dieser Stelle soll nur der Sinn angegeben werden, in dem ich hier das Wort gebrauche. Es ist derselbe, in welchem Montesquieu vom Geist der Gesetze, Hegel vom objektiven Geist oder Ihering vom Geist des römischen Rechts gesprochen hat. Eine Vergleichung des[97] Ausdruckes mit den anderen bisher angewandten in bezug auf ihre Brauchbarkeit ist erst an einer späteren Stelle möglich.


4.

Nun erst können wir aber auch der letzten Anforderung genügen, welche die Wesensbestimmung der Geisteswissenschaften an uns stellt. Wir können jetzt durch ganz klare Merkmale die Geisteswissenschaften abgrenzen von den Naturwissenschaften. Diese liegen in dem dargelegten Verhalten des Geistes, durch welches im Unterschiede von dem naturwissenschaftlichen Erkennen der Gegenstand der Geisteswissenschaften gebildet wird. Die Menschheit wäre, aufgefaßt in Wahrnehmung und Erkennen, für uns eine physische Tatsache, und sie wäre als solche nur dem naturwissenschaftlichen Erkennen zugänglich. Als Gegenstand der Geisteswissenschaften entsteht sie aber nur, sofern menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden. Und zwar umfaßt dieser Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen nicht nur die Gebärden, Mienen und Worte, in denen Menschen sich mitteilen, oder die dauernden geistigen Schöpfungen, in denen die Tiefe des Schaffenden sich dem Auffassenden öffnet, oder die beständigen Objektivierungen des Geistes in gesellschaftlichen Gebilden, durch welche die Gemeinsamkeit menschlichen Wesens hindurchscheint und uns beständig anschaulich und gewiß ist: auch die psychophysische Lebenseinheit ist sich selbst bekannt durch dasselbe Doppelverhältnis von Erleben und Verstehen, sie wird ihrer selbst in der Gegenwart inne, sie findet sich wieder in der Erinnerung als ein Vergangenes; aber indem sie ihre Zustände festzuhalten und zu erfassen strebt, indem sie die Aufmerksamkeit auf sich selber richtet, machen sich die engen Grenzen einer solchen introspektiven Methode der Selbsterkenntnis geltend: nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere[98] belehrenden Menschen über sich selbst; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen. Was wir einmal waren, wie wir uns entwickelten und zu dem wurden, was wir sind, erfahren wir daraus, wie wir handelten, welche Lebenspläne wir einst faßten, wie wir in einem Beruf wirksam waren, aus alten verschollenen Briefen, aus Urteilen über uns, die vor langen Tagen ausgesprochen wurden. Kurz, es ist der Vorgang des Verstehens, durch den Leben über sich selbst in seinen Tiefen aufgeklärt wird, und andererseits verstehen wir uns selber und andere nur, indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens. So ist überall der Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen das eigene Verfahren, durch das die Menschheit als geisteswissenschaftlicher Gegenstand für uns da ist. Die Geisteswissenschaften sind so fundiert in diesem Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen. Hier erst erreichen wir ein ganz klares Merkmal, durch welches die Abgrenzung der Geisteswissenschaften definitiv vollzogen werden kann. Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist.

Aus diesem gemeinsamen Wesen der angegebenen Wissenschaften folgen erst alle die Eigenschaften, welche als dies Wesen konstituierend in den Erörterungen über Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften oder Geschichte herausgehoben worden sind. So das besondere Verhältnis, in welchem hier das Einmalige, Singulare, Individuelle zu allgemeinen Gleichförmigkeiten steht.3 Dann die Verbindung, welche hier zwischen Aussagen über Wirklichkeit, Werturteilen und Zweckbegriffen stattfindet.4 Ferner: »Die Auffassung des Singularen, Individuellen bildet in ihnen so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten«5. Aber mehr noch[99] wird sich von hier aus ergeben: alle leitenden Begriffe, mit welchen diese Gruppe von Wissenschaften operiert, sind von den entsprechenden im Gebiete des Naturwissens verschieden. So ist es zunächst und zu oberst die Tendenz, von der Menschheit, von dem durch sie realisierten objektiven Geiste zurückzugehen in das Schaffende, Wertende, Handelnde, Sichausdrückende, Sichobjektivierende, samt den von ihr aus sich ergebenden Konsequenzen, die uns berechtigt, die Wissenschaften, in denen sie zum Ausdruck kommt, als Geisteswissenschaften zu bezeichnen.[100]

1

Sitzungsbericht vom 16. März 1905, S. 332 ff. [Ges. Schriften VII, S. II ff.]

2

Über den erworbenen Zusammenhang des Seelenlebens, in »Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn«. Rede 1886, S. 13 ff., Die Einbildungskraft des Dichters, in »Philosophische Aufsätze«, Zeller gewidmet, 1887, S. 355 ff., »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie«, Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. 1894, S. 80 ff. [Ges. Schriften VI, S. 142 ff., 167 ff. und V, 217 ff.]

3

Einleitung in die Geisteswissenschaften 33.

4

Ebenda 33, 34.

5

Ebenda S. 33. [Schriften Bd. I, S. 26 f.]

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 89-101.
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