Viertes Kapitel
Die geistige Welt als Wirkungszusammenhang

[185] So tut sich uns im Erleben und Verstehen vermittels der Objektivation des Lebens die geistige Welt auf. Und diese Welt des Geistes, die historische wie die gesellschaftliche Welt, ihrem Wesen nach als Objekt der Geisteswissenschaften näher zu bestimmen, muß nun die Aufgabe sein.

Fassen wir zunächst die Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchungen in bezug auf den Zusammenhang der Geisteswissenschaften zusammen. Dieser Zusammenhang beruht auf dem Verhältnis von Erleben und Verstehen, und in diesem ergaben sich drei Hauptsätze. Die Erweiterung unseres Wissens über das im Erleben Gegebene vollzieht sich durch die Auslegung der Objektivationen des Lebens, und diese Auslegung ist ihrerseits nur möglich von der subjektiven Tiefe des Erlebens aus. Ebenso ist das Verstehen des Singularen nur möglich durch die Präsenz des generellen Wissens in ihm, und dies generelle Wissen hat wieder im Verstehen seine Voraussetzung. Endlich erreicht das Verstehen eines Teiles des geschichtlichen Verlaufes seine Vollkommenheit nur durch die Beziehung des Teiles zum Ganzen, und der universal-historische Überblick über das Ganze setzt das Verstehen der Teile voraus, die in ihm vereinigt sind.

So ergibt sich die gegenseitige Abhängigkeit, in der die Auffassung jedes einzelnen geisteswissenschaftlichen Tatbestandes in dem gemeinschaftlichen geschichtlichen Ganzen, dessen Teil der einzelne Tatbestand ist, und die der begrifflichen Repräsentation dieses Ganzen in den systematischen Geisteswissenschaften zueinander stehen. Und zwar zeigen sich die Wechselwirkung von Erleben und Verstehen in der Auffassung der[185] geistigen Welt, die gegenseitige Abhängigkeit des allgemeinen und singularen Wissens voneinander und endlich die allmähliche Aufklärung der geistigen Welt im Fortschritte der Geisteswissenschaften an jedem Punkte ihres Verlaufes. Daher finden wir sie in allen Operationen der Geisteswissenschaften wieder. Sie bilden ganz allgemein die Unterlage ihrer Struktur. So werden wir die gegenseitige Abhängigkeit von Interpretation, Kritik, Verbindung der Quellen und von Synthese eines geschichtlichen Zusammenhanges anzuerkennen haben. Ein ähnliches Verhältnis besteht bei der Bildung der Subjektsbegriffe, wie Wirtschaft, Recht, Philosophie, Kunst, Religion, die Wirkungszusammenhänge verschiedener Personen zu gemeinsamer Leistung bezeichnen. Jedesmal wenn das wissenschaftliche Denken die Begriffsbildung zu vollziehen unternimmt, setzt die Bestimmung der Merkmale, die den Begriff konstituieren, doch die Feststellung der Tatbestände voraus, die in dem Begriff zusammengenommen werden sollen. Und die Feststellung und Auswahl dieser Tatbestände fordert Merkmale, an denen ihre Zugehörigkeit zum Umfange des Begriffes konstatiert werden kann. Um den Begriff der Dichtung zu bestimmen, muß ich ihn abziehen aus denjenigen Tatbeständen, die den Umfang dieses Begriffes ausmachen, und um festzustellen, welche Werke unter die Poesie gehören, muß ich bereits ein Merkmal besitzen, an welchem das Werk als dichterisch erkannt werden kann.

Dieses Verhältnis ist so der allgemeinste Zug der Struktur der Geisteswissenschaften.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a. Main 1970, S. 185-186.
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