Antinomie zwischen der Ewigkeit der Welt und ihrer Schöpfung in der Zeit

[324] Die Antinomie, welche die mittelalterliche Metaphysik im Innersten zerreißt, setzt sich in die Auffassung des Verhältnisses Gottes zur Welt fort. Der Wissenschaft vom Kosmos ist die Welt ewig, der Erfahrung des Willens Schöpfung aus Nichts in der Zeit. Die arabischen Peripatetiker sind die Repräsentanten der ersteren Lehre, und wie die Leugnung der Unsterblichkeit hat die Überzeugung von der Ewigkeit der Welt und der Unabhängigkeit der Materie dem abendländischen Mittelalter die Gestalt des Ibn Roschd zu einem Typus des metaphysischen Unglaubens gemacht. Von Albertus ab bekämpft die abendländische Metaphysik diese Überzeugung mit einleuchtenden Gründen. Sie versucht ihrerseits vergeblich, die Schöpfung der Welt aus Nichts[324] in der Zeit vorstellig zu machen und in einer Wissenschaft vom Kosmos ihr einen Platz zu bestimmen.

Die Lehre von der Ewigkeit der Welt war innerhalb der Aristotelischen Wissenschaft notwendig.365 Es gibt innerhalb der kosmischen Anschauung von dem System der Bewegungen keinen Weg zu dem Gedanken eines bewegungslosen Zustandes oder gar zu dem einer Abwesenheit der Materie; dieses System muß als ewig gedacht werden. Der Satz: aus Nichts wird Nichts fordert die Ewigkeit der Welt und schließt jede Schöpfungslehre aus.366

Die christliche Schöpfungslehre war der vorstellungsmäßige Ausdruck für die innere Erfahrung der Transzendenz des Willens gegenüber der Naturordnung, wie sie in dem Vermögen, sein Selbst aufzuopfern, ihre höchste Erfahrung hat. Sie verneinte den Naturprozeß der Welterklärung, mochte er emanatistisch oder naturalistisch gedacht werden367, sowie die Einschränkung des göttlichen Vermögens durch eine Materie. Aber sie vermochte ihren positiven Gehalt nur durch die für die Vorstellung unvollziehbaren Formeln: »ex nihilo«, »nicht aus dem Wesen Gottes«, »in der Zeit« auszudrücken.368

Aus dem Gegensatz dieser beiden Begriffe entsteht eine Antinomie, sofern das religiöse Bewußtsein die Beziehung Gottes zur Welt irgendwie zu erkennen sich auf dem unkritischen Standpunkt genötigt findet. Denn unter den Bedingungen des Vorstellens und Erkennens muß die Welt entweder ewig oder in der Zeit entstanden und entweder aus der Materie geformt oder aus Nichts geschaffen gedacht werden. Und zwar kann jedes dieser beiden Glieder durch Aufhebung des anderen gesetzt werden.

Das Ringen des Mittelalters mit dieser Antinomie stellt sich darin dar, daß Satz wie Gegensatz durch entscheidende Gründe vernichtet werden, aber die Versuche einer befriedigenden positiven Aufstellung vergeblich sind. Dieser Streit besteht seit dem Anfang des achten Jahrhunderts zwischen den arabischen Theologen und Philosophen, aber insbesondere die Epoche von Ibn Roschd, Albertus Magnus und Thomas von Aquino ist erfüllt von ihm. – Einerseits wird[325] die Existenz der Materie und die Ewigkeit der Welt von der christlichen Philosophie widerlegt. Langsam war die Lehre von der Formung der Materie seit Ibn Sina bei den arabischen Peripatetikern herangewachsen; in Ibn Roschd empfing sie ihre härteste Form, da nach ihm in der Materie die Formen keimartig liegen und durch die Gottheit hervorgezogen werden (extrahuntur), und wie diese Lehren ins Abendland dringen, nimmt Albertus den Kampf gegen sie auf. Die Unmöglichkeit der Ewigkeit der Welt wird von Albertus daraus erwiesen, daß von dem gegenwärtigen Zeitmoment ab rückwärts nicht eine unendliche Zeit verflossen sein kann, da sonst dieser Zeitmoment nicht eintreten konnte.369 Und die Unmöglichkeit einer Materie neben Gott wird daraus gezeigt, daß sie Gott einschränken und sonach seine Idee aufheben würde. – Andererseits weisen die Araber nach, daß in dem Zusammenhang der natürlichen Weltansicht die Schöpfung nicht gedacht werden kann. Denn, wie Ibn Roschd richtig folgert, die Entstehung aus Nichts in der Zeit hebt den Grundsatz der Wissenschaft: ex nihilo nihil fit auf. Eine Veränderung, für welche von außen ein Grund nicht vorliegt und die von innen nicht aus einer anderen Veränderung folgt, kann nicht gedacht werden.370 Verteidigen sich Albertus und Thomas hiergegen durch die Unterscheidung des natürlichen Bewegungssystems und der transzendenten Ursache371: so sind wir hier bei einem Übergang aus dem Übersinnlichen zu den Naturvorgängen angekommen, welcher sich der Vorstellbarkeit entzieht. Daher denn schon von Thomas ab die Schöpfung dem Glauben überlassen und von der Metaphysik ausgeschlossen wurde.

Eine andere Antinomie ist mit dieser verknüpft, führt aber bereits in die metaphysische Behandlung der Geisteswissenschaften. In Gottes Verstande ist die Wirklichkeit in ewigen Wahrheiten und in der[326] Form des Allgemeinen gegeben, in seinem Willen als Geschichte, und in dem Zusammenhang derselben ist es gerade die einzelne Person, auf welche der göttliche Wille sich bezieht.

365

Vgl. S. 213.

366

Renan (Averroes3 108 ff.) gibt eine Erörterung des Ibn Roschd aus dem großen Kommentar desselben zur Metaphysik des Aristoteles (Buch XII) in Übertragung, welche über diese Thesis sich zureichend ausspricht.

367

Thomas contra gentil. I, c. 81 sq. p. 111 a; IV, c. 13 P. 540 a : Deus res in esse producit non naturali necessitate, sed quasi per intellectum et voluntatem agens.

368

Die Formel ex nihilo ist die Übertragung von 2. Makk. VII, 28; in der Stelle war möglicherweise das Nichtseiende in Platonischem Sinne zu verstehen; schon Hermas mandatum 1 (Pastor, herausgeg. v. Gebh. u. Harn. p. 70): ho poiêsas ek tou mê ontos eis to einai ta panta. – Die Begründung der Antithesis, nämlich der Schöpfungslehre z.B. Thomas contra gentil. II, c. 16 p. 145 a.

369

Albertus Magnus summa theol. II, tract. 1 qu. 4. m. 2 art. 5, part. 1 p. 55 a ff. Vgl. Kant 2, 338 ff. (Rosenkr.). Eine gute Darstellung im Kusari, wo der erste Lehrsatz der Medabberim (das heißt der philosophierenden arabischen Theologen) so gefaßt ist: »Zuerst maß man die Erschaffenheit der Welt feststellen und dies durch Widerlegung des Glaubens an die Nichterschaffenheit bestätigen. Wäre diese Zeit ohne Anfang, so wäre die Zahl der in dieser Zeit bis jetzt bestandenen Individuen unendlich; was unendlich ist, tritt aber nicht in die Wirklichkeit, und wie sind jene Individuen in die Wirklichkeit getreten, da sie ja der Zahl nach unendlich sind?«.... »was in die Wirklichkeit tritt, muß endlich sein, was aber unendlich ist, kann nicht in die Wirklichkeit treten.« Also hat die Welt einen Anfang. Kusari übers, von Cassel2 S. 402. Ebenso bestimmt schon bei Saadja Emunot, übers, v. Fürst S. 122, und anders gewendet bei Maimuni, More Nebochim I, c. 74, 2 (Munk I, 422).

370

Averroes destruct. destr. I, disp. 1 fol. 15 ff.

371

Besonders Thomas contra gentil. II, c. 10 p. 140 b; c. 16 sq. p. 145 a; c. 37 P. 177 a und summa theol, I, qu. 45 art. 2: antiqui philosophi non consideraverunt nisi emanationem effectuum particularium a causis particularibus, quas necesse est praesupponere aliquid in sua actione. et secundum hoc erat eorum communis opinio, ex nihilo nihil fieri. sed tamen hoc locum non habet in prima emanatione ab universali rerum principio.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 324-327.
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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