Diese Antinomien können in keiner Metaphysik aufgelöst werden

[327] So entsteht der innerlich widerspruchsvolle Charakter der mittelalterlichen Metaphysik. Der objektive und denknotwendige Zusammenhang der Welt findet sich gegenüber den freien Willen in Gott, dessen Ausdruck die geschichtliche Welt, die Schöpfung aus Nichts und die moralisch-religiöse Ordnung der Gesellschaft sind. Hier begegnen wir der ersten, noch unvollkommenen Form eines Gegensatzes, welcher die Metaphysik von innen zerstören und eine selbständige Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft gegenüberstellen mußte. Ja Kants Kritik der Metaphysik empfing ihre Richtung durch diese Aufgabe, den notwendigen Kausalzusammenhang mit der moralischen Welt zusammenzudenken.

Oder wie sollte die objektive Unveränderlichkeit eines den Einzeltatsachen vorhergehenden und ihre Bedeutung zeitlos ausdrückenden Ideenzusammenhangs in einem Willen Bestand haben, der lebendige Geschichte ist, dessen Vorsehung auf das Einzelne sich richtet und dessen Taten Einzelrealität sind? Mit formaler Geschicklichkeit haben Albert der Große und Thomas einen Vertrag dieser Begriffe miteinander errichtet. Duns Scotus zerreißt ihn. Er erkennt neben dem Intellekt einen freien Willen in Gott an, welcher auch eine ganz andere Welt hätte hervorbringen können372, und damit ist der denknotwendige metaphysische Zusammenhang so weit aufgehoben, als dieser freie Wille reicht, welcher den rationalen Zusammenhang ausschließt. – Und entsteht weiter die Aufgabe, Verstand und Willen in Gott, diese sich befehdenden Abstraktionen, in einen psychologischen Zusammenhang zu setzen, so finden wir eine solche Vorstellung natürlich insgeheim durch die ungeeignete Analogie des menschlichen Bewußtseins geleitet; romanhafte Spiegelbilder unseres eigenen Seelenlebens, auseinandergezogen ins Große, treten uns gegenüber. So gewiß die Persönlichkeit Gottes in unserem Leben als Realität gegeben ist, weil wir uns selbst gegeben sind, so gewiß können wir doch nur durch eine spielende Übertragung in die Gottheit uns versetzen, wobei dann der Widerspruch zwischen einem solchen von uns ersonnenen Wesen und dem[327] Schöpfer Himmels und der Erde hervortritt. Eitle Träume! – Occam läßt für den rationalen Zusammenhang keinen Schlupfwinkel in Gott übrig.

Wie sollte, nachdem die Allgemeinbegriffe als Schöpfungen der Abstraktion anerkannt sind, ein Dasein derselben in Gottes Verstände abgesondert von dem Willen, als dem Erklärungsgrund der einzelnen Dinge, gedacht werden können? Eine solche Annahme wiederholt nur den Irrtum von einem System der Gesetze und Ideen, welches, der Wirklichkeit vorausgehend, dieser seine Gebote auflege. Gesetze sind nur abstrakte Ausdrücke für eine Regel der Veränderungen, Allgemeinbegriffie Ausdrücke für das im Kommen und Gehen der Objekte Verharrende. Verlegt man dagegen den Ursprung dieses Systems von Ideen und Gesetzen in die Tat Gottes, so entsteht der andere Widersinn, daß der Wille Wahrheiten schafft. Es gibt eben hier keine metaphysische, sondern nur eine erkenntnistheoretische Auflösung. Die Provenienz dessen, was ich Ding, Wirklichkeit nenne, ist eine andere als die Provenienz dessen, was ich als Begriffe und Gesetze, sonach als Wahrheit im Denken entwickle, zu dem Zwecke entwickle, diese Wirklichkeit zu erklären. Indem ich von dieser Verschiedenheit des psychologischen Ursprungs ausgehe, kann ich zwar die Schwierigkeiten nicht auflösen, aber ihre Unauflösbarkeit erklären und die Fragestellung, in der sie entstanden, als eine unrichtige nachweisen.

Wie sollte der Streit, ob Gott die Welt, wie sie ist, geschaffen, weil sie so gut ist, oder ob sie gut ist, weil er sie so schuf, geschlichtet werden können? Jede Erörterung dieser Fragen setzt einen Gott, der will, aber in dem das Gute noch nicht ist, oder einen solchen, in dem die intelligible Welt des Guten ist, der aber noch nicht will. Weder jener noch dieser ist ein wirklicher Gott, und so ist diese Metaphysik nur ein Spiel der Abstraktionen.

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Duns Scotus in sent. I, dist. 8 qu. 4. 5. Die voluntas ist eben dadurch voluntas, daß eine ratio für den Zusammenhang, aus welchem der Willensakt hervorgeht, nicht aufgestellt werden kann, vgl. ebda. II, dist. 1 qu. 2. Die Unterscheidung eines ersten und zweiten Verstandes in Gott (ebda. I, dist. 39) löst die so entstehende Antinomie nicht auf.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 327-328.
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
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