Siebentes Kapitel
Die mittelalterliche Metaphysik der Geschichte und Gesellschaft

[328] Die Metaphysik des Mittelalters erwies in ihrer klassischen Zeit, daß die menschlichen Seelen immaterielle unsterbliche Substanzen sind. Als dann mit Duns Scotus die Beweisbarkeit der Unsterblichkeit bestritten zu werden begann, blieb die Erörterung hierüber eine Streitfrage der Schulen und gewann auf die Überzeugungen keinen Einfluß; die Leugnung individueller Fortdauer ist nur in dem engen Kreise radikaler Aufklärung aufgetreten, welcher vorwiegend unter arabischem Einfluß stand. So sind immaterielle Substanzen verschiedener Art für[328] den mittelalterlichen Menschen ein metaphysisches Reich; Engel, böse Geister und Menschen. Sie bilden unter Gott als ihrem Haupte eine Hierarchie der Geister, deren Rangordnung sich in der vor der Mitte des sechsten Jahrhunderts unter dem Namen des Dionysius Areopagita aufgetauchten Schrift von der himmlischen Hierarchie mit Reinlichkeit beschrieben und festgestellt fand. Diese Hierarchie erstreckt sich von dem Throne Gottes bis zu der letzten Hütte und bildet die ungeheure für den mittelalterlichen Geist greifbare Realität, welche allen metaphysischen Spekulationen über die Geschichte und die Gesellschaft zugrunde lag.

Es bestand kein Bedenken mehr, die metaphysische Beweisführung auf diese geistige und gesellschaftliche Welt auszudehnen. Thomas von Aquino erwies vermittels der von den Neuplatonikern zuerst ausgeführten Gründe, umfassender aus dem teleologischen Zusammenhang der Welt in Gott, daß ein Reich endlicher Geister besteht und die Schöpfung in ihm zu ihrem Prinzip zurückkehrt: wie sie von dem göttlichen Intellekt ausging, so muß sie in geistigen Wesen ihren Abschluß erreichen.373 Ja er leitet durch ein weiteres metaphysisches Schlußverfahren die Gliederung der Geisterwelt ab, nach welcher Gott getrennt ist vom Reiche der Engel, dieses von dem der menschlichen Seelen.374 Und so hat die mittelalterliche Philosophie eine vollständige Metaphysik der geistigen Substanzen geschaffen, die lange in dem Denken der europäischen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem seit Duns Scotus die Angriffe gegen sie beständig an Ausdehnung und Gewicht zunahmen.

Wir nähern uns der erhabenen Konzeption des Mittelalters, welche nun der Metaphysik der Natur als der Schöpfung des griechischen Geistes zur Seite trat. Sie besteht in der auf die Lehre von den geistigen Substanzen gegründeten Philosophie der Geschichte und Gesellschaft. Wie vielfach auch das mittelalterliche Denken von dem der alten Völker abhängig gewesen ist: hier ist es schöpferisch, und die am meisten auffälligen Züge in der politischen Tätigkeit des mittelalterlichen Menschen sind durch dieses System von Vorstellungen mitbedingt; mag man nun den theokratischen Charakter der mittelalterlichen Gesellschaft betrachten oder die Macht der Kaiseridee in derselben oder die der Einheit der Christenheit, wie sie am gewaltigsten in den Kreuzzügen hervortritt. So zeigt sich von neuem, wie bedeutend die Funktion gewesen ist, welche die Metaphysik innerhalb der europäischen Gesellschaft auszuüben hatte. Es wird zugleich sichtbar, wie vor ihr, während sie voranschritt, eine unlösbare Antinomie[329] nach der anderen sich auftat, da sie doch keine wirklich gelöst hinter sich zurückließ. Sie gleicht den sagenhaften Helden, welche, je mehr sie ringen, um so fester sich in Banden verstrickt finden.

Die geistigen Substanzen, welche das Reich Gottes bilden, werden von dieser Metaphysik in ihrem Mittelpunkt, als Willen, gefaßt und so besteht nach ihr das menschliche und geschichtliche Leben in dem Zusammenwirken des Wollens dieser geschaffenen Substanzen mit der göttlichen Providenz, welche in ihrer Willensmacht sie alle ihrem Ziele entgegenführt. Dieses Schema des Lebens ist von der Betrachtungsweise der Alten ganz verschieden. Dieselben hatten an dem Kosmos ihre Auffassung der Gottheit gebildet, und selbst ihre teleologischen Systeme kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzusammenhangs. Hier tritt Gott in die Geschichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung seines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßigkeit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr ersetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur Apparat ist. Ein Ziel der Entwicklung steht fest und so empfängt der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn.

Indem dieser Plan Gottes mit der Freiheit des Menschen zusammengedacht werden soll, tritt in den Mittelpunkt der christlichen Metaphysik der Geschichte das Problem, welches durch die Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menschen bestimmenden Weltzusammenhangs gebildet wird. Dasselbe entspricht innerhalb der realen geschichtlichen Welt dem, welches wir während des Mittelalters in der Vorstellung Gottes aus der Antinomie zwischen dem denknotwendigen Zusammenhang und dem freien Willen hervortreten sahen.375 Es hat von dem Gegensatz der griechischen und lateinischen Väter und dem pelagianischen Streite ab mannigfache Formen angenommen. Aber sowenig einst das Verhältnis des Bestandes der Ideen zu dem Dasein der Einzeldinge hatte widerspruchslos gedacht werden können, war nun die innere Beziehung des schaffenden, erhaltenden und leitenden göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menschlicher Willen der Aufklärung durch irgendeine begriffliche Zauberformel fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und widerspruchsloses System auf dem Begriff der Substanz aufzubauen, so gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwischen den Bestandteilen des Systems von Ursachen und Wirkungen, welche für den Willen Raum gelassen hätte, dem Begriff der Kausalität abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an diesem Punkte das metaphysische Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende. Alles Wirken eines endlichen[330] Subjektes, sei es ein Naturding oder ein Wille, empfängt in jedem Augenblicke die Kraft zu seiner Leistung von der ersten Ursache. Doch verhält sich das Wirken der endlichen Substanzen zu dem der ersten Ursache nicht einfach wie das mittlere Glied einer Verkettung von Ursachen rückwärts zur ersten Ursache oder Substanz. Die Wirkung, welche ein endliches Geschaffenes, sonach auch der Wille, hervorbringt, ist ganz bedingt durch seine Beschaffenheit und ebenso ganz durch die der ersten Ursache. Das endliche Reale ist in der teleologischen Ordnung gleichsam ein Instrument in der Hand Gottes, und dieser verwendet es der Natur dieses Realen gemäß, wenn auch in seinem Zweckzusammenhang. So gebraucht Gott den Willen des Menschen gemäß der Beschaffenheit desselben, welche Freiheit einschließt, und in der Richtung seines letzten Ziels, welches die Ähnlichkeit mit ihm selber, sonach wiederum die Freiheit in sich faßt.376 Aber vergeblich versuchen nun die Formeln, welche Thomas entwarf, sich hindurchzuwinden zwischen dem Deismus, welcher für Gott etwa die Vollkommenheit der Leistung beansprucht, welche dem Erbauer einer Maschine zukommt, so daß seine Welt nicht beständiger Nachhilfe bedarf, und dem Pantheismus, nach welchem aus der beständigen Erhaltung des gesamten Einzelwesens auch die gänzliche Verursachung aller von ihm ausgehenden Wirkungen folgt. Widersprüche quellen überall hervor, sobald man anstatt erkenntnistheoretisch den Ursprung dieser verschiedenen Bestandteile unserer Vorstellung vom Leben aufzuzeigen und so die bloß psychologische Bedeutung dieser Antinomie klarzulegen, das Unvereinbare durch künstliche Veranstaltungen in Harmonie bringen will. Kausalzusammenhang können wir nicht denken, wo wir Freiheit denken. Ebensowenig können wir beide äußerlich voneinander abgrenzen. Und welche Art solcher äußerlichen Abgrenzung wir versuchen mögen, dieselbe vermag nicht die Schöpfung der endlichen Wesen durch Gott in solcher Weise faßbar zu machen, daß Gott von der Urheberschaft des Bösen freigesprochen werden könnte; sie vermag nicht den Widerspruch zwischen dem göttlichen Vorherwissen und der Freiheit des Menschen aufzulösen.

Die veränderte Anschauung des Reiches der Geister spiegelt sich in der von den christlich gewordenen romanisch-germanischen Völkern geschaffenen Dichtung des Mittelalters, in den ritterlichen Epen so gut als in Dantes Göttlicher Komödie. Nicht mehr in sich geschlossene Typen allein, welche gegeneinander in Wirksamkeit treten, erscheinen in dieser Dichtung, sondern Geschichte des Seelenlebens, insbesondere des Willens, wie denn Augustinus sagt: immo omnes nihil[331] aliud quam voluntates sunt, alsdann Auffassung dieser Geschichte des Willens nach ihren Beziehungen zu dem providentiellen Willen Gottes; in dieser Auffassung ist aber ein ungelöster Zwiespalt zwischen der inneren freien Entwicklung und dem dunklen Hintergrund von Kräften aller Art, die ihn beeinflussen.

Das Reich der Einzelgeister verwirklicht nun einen metaphysischen Zweckzusammenhang, welcher in der Offenbarung ausgesprochen ist. Hierin stimmt das ganze europäische Mittelalter überein, und nur die Frage, wieviel von diesem Inhalt aller Geschichte in Begriffen erkannt werden kann, wird ungleich entschieden.

Die Metaphysik des Verlaufs der Geschichte und der Organisation der Gesellschaft hat während des Mittelalters ihre letzten Gründe in dem Bewußtsein, daß der ideale Gehalt dieses Verlaufs und dieser Organisation in Gott angelegt, in seiner Offenbarungverkündigt und nach seinem Plane in der Geschichte der Menschheit verwirklicht ist und sich weiter verwirklichen wird. Hiermit war gegenüber dem Altertum ein Fortschritt von großer Bedeutung vollzogen. Das Zweckleben der Menschheit, wie es in den Systemen der Kultur sich entfaltet und durch die äußere Organisation der Gesellschaft wirkt, wurde als ein einheitliches System erkannt und auf ein erklärendes Prinzip zurückgeführt. So erlangte die Erkenntnis des inneren Zusammenhangs in den Vorgängen der menschlichen Gesellschaft ein Interesse, das von der Absicht technischer Anweisung für das Berufsleben ganz unabhängig war.377 Diese Erkenntnis wurde jetzt bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Versenkung in den Gedanken von der Vorsehung Gottes gesucht, bald von den Publizisten der Kurie wie des kaiserlichen Hofes im Dienste der Parteien verwertet.

Aber war schon die Methode der Aristotelischen Staatswissenschaft darin ungenügend gewesen, daß sie für die Zergliederung nicht Kausalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden Wissenschaften benutzen, sonach die einzelnen Zweckzusammen hänge, wie Wirtschaftsleben, Recht, Religion usw. nicht durch analytische Erkenntnis, sondern nur durch unvollkommene Vorstellungen von einer in der Physis angelegten Zweckmäßigkeit erklären konnte378: das Mittelalter war noch viel weniger geneigt, die Zusammenhänge, wie sie in den einzelnen Kultursystemen sich darstellen und schließlich der äußeren Organisation der Gesellschaft zugrunde liegen, methodisch zu zergliedern und die so gewonnenen Teilinhalte der gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu verwerten. Zudem enthielt die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie sich ihm darbot, die Inhaltlich-

[332] keit des geschichtlichen Lebens noch auf einer niederen Stufe von Differenzierung. Das Auge des Betrachters sah damals in jedem geistigen Inhalt den Zusammenhang mit dem Gesetze Gottes oder den Widerstreit gegen dasselbe. Religion, wissenschaftliche Wahrheit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ selbständige Zweckzusammenhänge Vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, sondern für dieses war ein Idealgehalt in ihnen, und erst seine Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und Tat des Menschen schien die Verschiedenheit dieser Lebensformen hervorzubringen. So sah man in Gott, sofern er das Vernunftideal in sich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende Norm, und zwar die höchste, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt wurde.379 Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geschichtlichen Lebens nicht wie sie in diesem wirklich da ist, als Recht, Sittlichkeit, Kunst usw. analysiert und dargestellt, sondern sie wurde in einförmiger und erhabener Unbestimmtheit in Gott aufgesucht, und alle nähere Erklärung wurde dem System von Bedingungen anheimgegeben, unter welchen dieser ideale Gehalt auf dem Schauplatz der Erde sich verwirklicht. So hat diese mittelalterliche Metaphysik der Gesellschaft das Problem der Geisteswissenschaften in weltumspannendem Geist gestellt, aber anstatt seiner methodischen Auflösung nur ein grandioses theologisches Schema der Gliederung geschichtlichen Lebens entworfen.

Daher besitzt das Mittelalter kein anderes Studium der allgemeinen Eigenschaften des Rechts, der Sittlichkeit usw. als dies metaphysische. Und wie die Grundlegung der Metaphysik von dem Widerspruch zwischen dem Willen Gottes und dem notwendigen Zusammenhang des Kosmos in seinem Verstande, zwischen der Ökonomie des Heils und den ewigen Wahrheiten innerlich zerrissen wird, so setzt sich derselbe in die Metaphysik der Gesellschaft fort. Die so entstehende Antinomie tritt zu der zwischen der menschlichen Freiheit und der göttlichen Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch sie gesetzte Institution und Tatsächlichkeit sind in bald verschwiegenem bald laut ausbrechendem Widerstreit mit der Konstruktion aus der Notwendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende[333] wird zeigen, daß Wille und Plan Gottes der mächtigere Teil dieser theologischen Metaphysik waren; wie sie denn auch das letzte Wort behielten.

Von dem durch die Offenbarung vermittelten Bewußtsein des Idealgehaltes von Weltlauf und Geschichte geht nun das Licht aus, welches dieser mittelalterlichen Metaphysik der Gesellschaft den inneren Zusammenhang der Weltgeschichte erleuchtet.

Die Einheit der Weltgeschichte liegt in dem Plane Gottes. »Es ist nicht zu glauben«, sagt Augustinus, »daß Gott, der nicht allein Himmel und Erde, nicht allein den Engel und den Menschen, sondern auch das Innere des kleinen so leicht mißachteten Tieres, das Flügelchen des Vogels, die kleine Blüte des Grases und das Blatt des Baumes ohne eine Angemessenheit ihrer Teile und gleichsam eine friedliche Harmonie nicht hat lassen wollen, die Reiche der Menschen, ihre Herrschafts- und ihre Abhängigkeitsverhältnisse von der Gesetzgebung seiner Providenz hätte ausschließen wollen.«380 Dieser Zusammenhang des Planes der Vorsehung ist in Anfang, Mitte und Ende durch die Offenbarung festgestellt. Der Stammvater der Menschen, in welchem alle sündigten, Christus, in dem alle erlöst wurden, und die Wiederkunft, in der über alle gerichtet wird, sind solche feste Punkte, zwischen denen nun die Deutung der Tatsachen der Geschichte ihre Fäden zieht. Diese Deutung ist ausschließlich teleologisch. Die Glieder des geschichtlichen Verlaufs werden nicht als die einer Kausalreihe, sondern als die eines Planes betrachtet. Die Frage, welche folgerecht an die einzelne geschichtliche Tatsache gestellt wird, ist nicht die nach ihrer ursächlichen Beziehung zu anderen Tatsachen oder allgemeineren Verhältnissen, sondern die nach ihrer Zweckbeziehung zu diesem Plan. Daher bedienen sich die mittelalterlichen Geschichtschreiber zwar des Pragmatismus zur Erklärung der Handlungen der einzelnen Personen, aber die geschichtlichen Massenerscheinungen treten ihnen niemals in einen kausalen Zusammenhang. Diese Metaphysik der Weltgeschichte sucht in ihr als Erklärung ihres Zusammenhanges einen Sinn, wie wir einen solchen in dem Epos eines Dichters suchen.

Und zwar fand sich das christliche Nachdenken zunächst zu einer solchen teleologischen Deutung der Geschichte durch die Einwendungen der Gegner genötigt. Daher entstand die Metaphysik der Geschichte schon in der Epoche der Väter und des Ringens zwischen Christentum, antikem Götterglauben und Judentum durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fortgebildet. Warum, so[334] fragten die Gegner des Christentums, mußte das von Gott durch Moses gegebene Gesetz verbessert werden, da man doch nur verbessert, was schlecht gemacht worden ist?381 Warum soll der Römer die religiösen Überzeugungen, auf welchen die Gesellschaft beruht, und die gemeinsame Bildung, welche die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlassen?382 Warum, so fragten Celsus und Porphyrius in ihren Streitschriften gegen das Christentum gemeinsam, ist es Gott erst nach so langem Verlauf der Geschichte eingefallen, die Menschen zu erlösen?383 Und seitdem die Barbaren das römische Imperium zu bedrängen begannen, ja die christlichen Goten Rom erobert und verwüstet hatten, entstand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Geschichte hineinführende Frage: ist nicht das Christentum die Ursache aller neuesten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann, im Gegensatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, diese ungeheure politische Krisis gedeutet werden?384 Die ersten dieser Fragen riefen eine Deutung der inneren Geschichte der religiösen und philosophischen Ideen hervor, welche in dem geschichtlichen christlichen Bewußtsein schon angelegt war.385 Die letzte Frage zwang, das römische Imperium in den Kreis dieser metaphysischen Betrachtung der Geschichte zu ziehen, und zu ihrer Beantwortung traten die ersten Entwürfe einer umfassenden Philosophie der Geschichte, die Schrift des Augustinus über den Gottesstaat und die Historien seines Schülers Orosius, hervor.

Über diesen Rätseln sann der christliche Geist, geschichtlich in seinem Wesen, zurückblickend auf nunmehr abgeschlossene Gestalten des geistigen Lebens, die innerlich vergangen waren, und zu universalhistorischer Betrachtung aufgeregt, da die Nacht der Barbarenherrschaft über das Imperium Romanum hereinzubrechen schien. So entstand die Lösung dieser Rätsel durch den Gedanken einer inneren Entwicklung des Menschengeschlechtes als einer Einheit[335] in einer Stufenfolge, in welcher jede frühere Stufe die notwendige Bedingung der späteren ist. Die Stufen sind nicht im Kausalzusammenhang als Wirkungen bedingt, sondern in dem Plane Gottes als Bestandteile angelegt. Und der Gedanke des Fortgangs durch sie verbleibt in den Grenzen eines Schema, nach welchem der Fortschritt durch eine Anpassung der göttlichen Erziehung an die Zustände des Menschengeschlechts bewirkt wird. – Tertullian betrachtet das Menschengeschlecht in Rücksicht seiner religiösen Erziehung als einen einzelnen Menschen, welcher in verschiedenen Lebensaltern lernend und voranschreitend die notwendigen Stufen seiner Entwicklung durchläuft. Der religiöse Fortgang im Menschengeschlecht zeigt nach ihm ein organisches Wachstum. Das Bild des Organismus, welches als Leitfaden für das Verständnis des Verhältnisses der Teile zum Ganzen in der Gesellschaft verwandt worden war, wird von ihm gebraucht, um die Art, wie hier das Frühere das Spätere trägt und bedingt, aufzuklären.386 Diesem Stufengang der Erziehung hat Clemens vermittels seiner Lehre vom Logos auch die griechische Philosophie eingeordnet387; jedoch hat eine so weitherzige Lehre keine Folgen für den nächsten Verlauf der Metaphysik der Geschichte gehabt. Und Augustinus findet die Veränderungen, welche innerhalb der Offenbarungsreligion stattfinden, bedingt durch eine Entwicklung der Menschheit, welche der Stufenfolge der Lebensalter vergleichbar ist.388 – So beherrscht diese und andere Kirchenväter dieselbe Auffassung. Die Menschheit ist eine Einheit, gleichsam ein Individuum, welches eine Lebensentwicklung durchlaufen muß, dem aber, als einem Zögling, die Regel dieser Entwicklung vorherrschend von dem planmäßig wirkenden Erzieher kommt. Neben dieser tieferen Gliederung der Geschichte der Menschheit geht die mehr äußerliche Einteilung her, welche dieselbe in den Schöpfungstagen entsprechende Weltalter zerlegt.

Diese Idee von dem inneren Zusammenhang der Geschichte der Menschheit, welche flüchtig und unfaßbar wie sie war zwischen den harten Tatsachen der Geschichte schien zerfließen zu müssen, empfing festen Umriß und Körperlichkeit durch den Zusammenhang religiöser und weltlicher Vorstellungen, in welchen sie eintrat. In der Unabhängigkeit der religiösen Erfahrung und des auf sie[336] begründeten religiösen Gemeinlebens, welches auch gegenüber der römischen Weltherrschaft sich aufrechterhielt und sich im Gefühl seiner Unbesiegbarkeit behauptete, war die Trennung der religiösen Sphäre der Gesellschaft von der weltlichen begründet. Sie war zuerst in der Entscheidung Christi ausgesprochen worden: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist. Durch diese Trennung wurden Gesetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten Philosophie in der stoischen Schule gewesen waren, in eine weltliche Ordnung der Gesellschaft und einen religiösen Zusammenhang zerlegt. Dementsprechend lehnte sich nun die nähere Vorstellung von dem Zusammenhang der Historie und der Gesellschaft an zwei geschichtliche Vorstellungskreise, deren einer die Kirche, der andere das römische Weltreich, seine Vorläufer und sein Schicksal zum Gegenstande hatte. Da diese Gesellschaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging, konnte sie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zusammenhang der Geschichte deduzieren, sondern mußte aus den großen geschichtlichen Beziehungen dieses Willens den Plan Gottes deuten. Die spekulative Konstruktion trat nur nachträglich zu dieser religiösen Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Diese Deutung arbeitete aber mit einem elenden Material. Der unwissenschaftliche Charakter des mittelalterlichen Geistes und die Herrschaft des Aberglaubens über denselben kann nur aus seiner Stellung zu den geschichtlichen Tatsachen und zu der geschichtlichen Tradition verstanden werden. Denn ihm stand eine abgekürzte und verfälschte Überlieferung über die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ursachen waren, die ihn zu einem so unkritischen Verhalten bestimmt haben. Und indem diese seine Lage gegenüber den historischen Wissenschaften mit dem Zustande seines naturwissenschaftlichen Denkens zusammentraf, breiteten sich von hier aus tiefe Schatten und fabelhafte Wesen über die Erde aus.

Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren Organisation der Gesellschaft im Mittelalter sich zusammensetzt, war das wichtigste die Anschauung der Kirche. Diese bestimmte den theokratischen Charakter der mittelalterlichen gesellschaftlichen Auffassung. Die geistigen Substanzen aller Rangordnungen sind in der Kirche zu einem mystischen Körper verbunden, der von der Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächst stehen, hinabreicht bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchentür und dem leibeigenen Mann, der demütig in dem letzten Winkel der Kirche kniend das Opfer der Messe empfängt.

Der schöpferische Keim dieser Anschauung liegt in den Briefen des Apostels Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Christen als[337] Glieder des Leibes Christi; unter Christus als dem Haupte sind die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geistes zu einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieses Organismus haben die einzelnen Gemeindeglieder verschiedene, aber dem Leben des Ganzen notwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem Glied alle anderen Glieder mit. In dieser Paulinischen Anschauung des christlichen Gemeindelebens ist die Übertragung des Begriffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus daran gedacht, den Zusammenhang des religiössittlichen Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organischen Lebens herabzumindern. Aber dieser Tropus drückt hier den Tatbestand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur ist, als die in einem politischen Ganzen. Denn das Pneuma ist in der Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Psyche in einem menschlichen Körper. Und daher empfängt in dieser Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn.

Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefsinnige Anschauung des Paulus sich bezog, die rechtliche und politische Organisation der katholischen Kirche erwuchs, entstand ein Begriff, in welchem dieser Staat Gottes vorgestellt wurde als zusammengehalten durch ein reales Band, dem gleichsam neben und zwischen den Individuen eine Art von Existenz zukam. Wir können die Momente erkennen, welche diesen Begriff gestaltet haben. Der Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geist Gottes beseelten Körpers empfängt zunächst eine Stütze in der Auffassung des Abendmahls, welche in demselben das Sakrament der Einverleibung in die Kirche sieht. Diese Auffassung, wie sie bei Augustinus abgeschlossen vorliegt ist dadurch vermittelt, daß unter dem Körper Christi die Kirche verstanden wird; daher in dem Abendmahl die Teilnahme an diesem Körper Christi, der alleinseligmachenden Kirche, die Inkorporation des einzelnen in der Kirche stattfindet.389 Eine weitere Unterstützung empfängt die Idee von dem realen Bande, welches die Kirche zusammenhält, durch die Vorstellung von einer Übertragung tatsächlicher Art, vermöge deren in den Weihen Kräfte der übersinnlichen Welt auf den Klerus von oben übergehen, ja gleichsam in Stufen abwärts strömen; so entspringt mit der Ordination die von den Laien unterscheidende geistliche Befähigung, vermöge deren der Kleriker seine Funktionen übt. Auf diese Weise empfängt die Idee der Kirche als des corpus mysticum Christi eine sinnliche Vorstellbarkeit. Da aber zugleich diese Kirche zu einer civitas Dei, einem staatähnlichen Ganzen wird, welches Träger ausgedehnter Machtbefugnisse ist, wird der[338] Begriff der Einheit des kirchlichen Organismus nun auf diesen politischen Körper übertragen. Dies hat zur Folge, daß der von oben wirkende Geist als Träger von Machtbefugnissen erscheint, welche durch seinen Körper in der Kirche ausgeübt werden. Das dem Kleriker durch die Weihen übertragene Amt enthält nach dieser Seite das Recht und die Pflicht, die Kirchengewalt in einem bestimmten materiellen Umfang und innerhalb eines bestimmten räumlichen Bezirks auf Grund des ständig erteilten Auftrags auszuüben. Die Machtbefugnisse der Kirche innerhalb der Gesellschaft sind einerseits, als Machtbefugnisse, durch Rechtssätze darstellbar und demgemäß in einer Rechtsordnung, dem kanonischen Rechte, gegliedert, und andererseits haben sie, als von Gott stammend, die höchste Geltung in der menschlichen Gesellschaft. So entstand die Anschauung der aus Haupt und Gliedern bestehenden Gesamtheit der Kirche, in welcher, als ihrem Körper, die aus der transzendenten Welt auf sie übertragene, eine göttliche Heilsordnung vollziehende Einheit wohnt: als Seele dieses Körpers verwirklicht sie den höchsten Zweck mit den höchsten Machtbefugnissen; wie mit diesem Zweck verglichen alle die Interessen, welchen die politischen Ordnungen leben, nur Mittel sind, so sind alle politischen Ordnungen ihr untertan.

Dies ist der Grundgedanke der theokratischen Gesellschaftsordnung des Mittelalters. – Die Theologen, vor allen Augustinus, haben diesen Grundgedanken theoretisch dargestellt. Indem sie sich an die durch die Stoiker geschaffene Verknüpfung des Naturrechts mit einer teleologischen Metaphysik anschlossen390, fiel ihnen weiter mit dem göttlichen Rechte dessen Träger die Kirche ist, das natürliche zusammen, und so stellten sie das kirchliche Recht als ein aus Gottes ewigem Heilsplan erfließendes, darum an sich und unveränderlich gültiges, den menschlichen Satzungen gegenüber.391 Sie betrachteten die gegen die kirchlichen Gesetze verstoßenden Anordnungen und Gesetze des Staats als unverbindlich.392 Sie ordneten im Zusammenhang mit der ganzen eben dargelegten christlichen Teleologie den Staat dem mystischen Körper Christi oder der Kirche als Mittel, als dienendes[339] Instrument unter.393 – Aber während die Theologen diese Theorie entwickelten, hat die monarchische Staatsgewalt des römischen Imperiums an den Grundlagen des überkommenen römischen Rechtes festgehalten; nur allmählich drangen die christlich-kirchlichen Ideen in das Rechtsleben ein, und erst die Kanonisten haben sie in den wissenschaftlichen Zusammenhang der positiven Jurisprudenz mit schöpferischer Kraft eingeführt. Wir heben nur den Grundgedanken heraus. Die Korporation der Kirche beruht auf unmittelbarer göttlicher Einsetzung; sie wird von dem himmlischen König regiert; von diesem transzendenten Willen aus durchströmt sie der Geist Gottes; und zwar ist die Art wie er in der Kirche wirkt durch die göttliche Einsetzung festgestellt, daher in rechtlichen Formen bestimmt, an welche die Heilsmitteilung wie die in ihr begründete Machtbefugnis der Kirche gebunden ist; die Form dieser Verfassung ist der rechtliche Ausdruck der Tatsache, daß in ihr der göttliche Wille aus der transzendenten Welt in die irdische, und innerhalb dieser von dem Stellvertreter Christi in Stufen abwärts geleitet wird. Man gewahrt hier, daß dem System der Hierarchie innerlich eine emanatistische Vorstellungsweise entspricht, wie denn die Darstellung der himmlischen und irdischen Hierarchie durch den Areopagiten und die Wirkung dieser Darstellung im Mittelalter einen solchen Zusammenhang bestätigt; die Idee Gottes ist in einen lebendigen Fluß und Prozeß aufgelöst; von Gott aus erstreckt sich ein Willenszusammenhang in den Naturzusammenhang.

Diese theokratische Gesellschaftsordnung des Mittelalters setzt an die Stelle der bisherigen politischen Prinzipien des Abendlandes das der Autorität, die von Gott stammt. Die in ihr wirkende Anschauung hat die ganze Auffassung der Gesellschaft im Mittelalter umgestaltet. In der Jurisprudenz entstand nun ein Begriff der Korporation, welchem gemäß die natürlichen Individuen, die in ihr verbunden sind, nur das wirkliche Rechtssubjekt repräsentieren, das als unleiblich und unsichtbar allein durch seine Glieder zu handeln vermag; die wichtigen staatsrechtlichen Begriffe der Repräsentation und des persönlichen Amtes bildeten sich aus. In der politischen Wissenschaft entstand die theologische Begründung der Begriffe vom Staat und, verbunden mit ihr, eine erste Metaphysik der Gesellschaft, welche in der allgemeinen Metaphysik gegründet war und die ganze damals bekannte Wirklichkeit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Phänomene umfaßte.[340]

Aber das gerade gab und erhielt dieser theokratischen Gesellschaftslehre ihre Macht, wie ihr Grundgedanke sich mit den mannigfachsten Elementen verband; vom Altertum her mit den Begriffen der griechischen Philosophie und des römischen Rechts sowie der Tatsache des römischen Kaisertums; von dem Leben der germanischen Völker her mit rechtlichen und politischen Ideen und Institutionen. Hier war ein weltlicher Vorstellungskreis begründet, welcher teils von dem theokratischen System unterworfen wurde und so mit ihm verschmolz, teils demselben entgegenwirkte.

Als das römische Imperium noch aufrecht stand, wenn auch von den anstürmenden germanischen Barbaren bereits erschüttert, schrieb Augustinus sein Werk über den Staat Gottes, in welchem er den weltlichen Staat dem Gottes gegenüberstellte. Nach diesem Werke ist das römische Weltreich eine Repräsentation der civitas terrena in ihrem letzten und mächtigsten Stadium. Die Römer haben von Gott die Weltherrschaft empfangen, weil sie den höchsten irdischen Leidenschaften, vor allem der Begierde des Nachruhms, »durch welchen sie auch nach dem Tode gleichsam fortleben wollten«, alle niederen Leidenschaften unterordneten; ihre Aufopferung für den irdischen Staat ist den Christen ein Vorbild der Aufopferung, welche sie dem himmlischen schuldig sind.394 Der Gedanke des römischen Weltreiches war nach den staatsphilosophischen Erörterungen des Polybius in der geschichtlichen Literatur der Kaiserzeit selbst durch die dürftigen Handbücher eines Florus und Eutrop befestigt worden; Augustinus bestimmte nun in seiner Konstruktion die Bedeutung, die dem römischen Weltreich im Plan der Vorsehung zukomme, und zugleich deren Grenze, wie er sie vom Standpunkte des Christentums aus einzusehen glaubte. Als dann die Kirche die kaiserliche Krone dem großen Germanenkönig auf das Haupt setzte, trat der Gedanke der römischen Weltmonarchie in ein näheres Verhältnis zu dem Begriff einer von der Kirche umfaßten einheitlichen Christenheit. Wenige Jahre danach (829) haben zwei Konzilien zu Paris und zu Worms auf Grund der Lehre von dem einen Körper der Christenheit entwickelt, daß dieser Körper einerseits vom Priestertum, andererseits vom Königtum regiert werde.395 Eine Tatsache und ein begrifflicher Zusammenhang begegneten[341] sich so in der Konstruktion der Weltmonarchie. Und rückwärts verfolgte man den Gedanken derselben unter dem Einfluß der Stelle im Buche Daniel über die vier Reiche in das Morgenland: fabelumgebene Bilder von den vier Weltmonarchien wurden das Schema der politischen Geschichte.

Diese geschichtlichen und politischen Realitäten, vermischt mit Fabeln von solchen, erhielten in dem theokratischen System ihren Platz und eine mit dessen tiefsten Prinzipien zusammenhängende Deutung. Schon die Stoiker hatten die Monarchie Gottes mit dem römischen Universalstaat in Beziehung gebracht; nun wird aus dem einheitlichen Plane Gottes und der Einheit des Menschengeschlechtes als seines Gegenstandes die Monarchie in Dantes Verstande, d.h. der Weltstaat gefolgert, entsprechend dem geistlichen Einheitsstaate der Kirche. Dante hat diesen Zusammenhang am eindringlichsten dargestellt, in einer Mehrzahl von Argumenten, deren Nerv derselbe ist. Das Menschengeschlecht, ein Teil des von Gott geleiteten Universums, hat einen einheitlichen Zweck, welcher in dem Auswirken aller intellektuellen und praktischen Kräfte der Menschennatur besteht. Nun wird eine Vielheit zu einem Zweck am sichersten durch eine einheitliche Kraft gelenkt, wie die Vernunft alle Kräfte der Menschennatur leitet, das Familienhaupt sein Haus, der Einzelfürst seinen Staat und schließlich Gott die Welt, in welcher das Menschengeschlecht enthalten ist. So allein wird der Friede unter den Menschen verwirklicht und die Ähnlichkeit mit dem Vollkommensten, der Herrschaft Gottes über die Welt, hergestellt. So allein wird die äußere Bedingung für die Herstellung der Gerechtigkeit erfüllt, da ein System streitender Staaten keine höchste Instanz zur Entscheidung nach dem Rechte besäße. So allein wird endlich die innere Voraussetzung, deren die Gerechtigkeit bedarf, geschaffen, da der Kaiser allein, dessen Jurisdiktion nur an dem Ozean seine Schranken hat, keinen Wunsch mehr haben kann und so keine Begierde in ihm die Gerechtigkeit hemmt. Mit allem Aufwand des syllogistischen Handwerks jener Tage erschließt der große Dichter, daß nur das Kaisertum als Weltstaat einen befriedigenden Zustand des Menschengeschlechts herbeiführen könne.396 Wie alle Deduktionen der mittelalterlichen Metaphysik der Gesellschaft, konnte auch diese von entgegenstehenden Interessen leicht bekämpft und durch andere ersetzt werden. Die Verteidiger des Rechtes der Einzelmonarchien durften den Willen Gottes aus der Verschiedenheit[342] der Lebensbedingungen, der Sitten wie des Rechtes der Einzelvölker im Sinne des Natio nalitätsgedankens deuten.397

Die nähere Einordnung des Staates in den dargelegten theokratischen Zusammenhang ist eine verschiedene gewesen, je nach der wechselnden Wertung des Imperiums, des Staatslebens überhaupt. Drei verschiedene Arten, den Wert des weltlichen Staates zu bestimmen, können hier unterschieden werden.

Augustinus betrachtete allein den »Staat, dessen König Christus ist,« d.h. die Kirche, als Stiftung Gottes und als Ausdruck der in ihm gegründeten sittlichen Weltordnung, dagegen leitete er Eigentum und Herrschaftsverhältnisse aus dem Sündenfall ab. Daher war ihm der weltliche Staat, wenn er nicht in den Dienst des himmlischen tritt, eine Schöpfung der Selbstsucht: civitas diaboli.398 So begründete er die hierarchische Auffassung des Staatslebens, für welche der Staat ein an sich wertloses Instrument im Dienste der Kirche zum Schutze des wahren Glaubens und zur Bekämpfung der Ungläubigen gewesen ist. Gregor VII. und Vertreter seiner päpstlichen Politik haben denselben Standpunkt festgehalten399, und in der extremen päpstlichen Partei hatte er während des ganzen Mittelalters seine Vertreter. Aber bei den hervorragendsten politischen Metaphysikern des Mittelalters besteht im Zusammenhang mit dem Studium des Aristoteles eine andere Wertung des staatlichen Lebens. Thomas von Aquino und Dante bezeichnen den Höhepunkt dieser politischen Metaphysik; sie sind beide von dem Standpunkt des Augustmus weit entfernt; so verschieden sie sich auch selber in dieser Frage verhalten, beide weisen die Ableitung des staatlichen Lebens aus dem Sündenfall ab und finden dasselbe vielmehr in der sittlichen Natur des Menschen begründet.

Und zwar ist Thomas von Aquino der Hauptvertreter der zweiten Richtung in bezug auf die Wertung des Staatslebens. Er bestimmte dessen Aufgabe dahin, daß es das System von Bedingungen verwirkliche,[343] an welche der religiöse Zweck des menschlichen Daseins gebunden ist. Diese Auffassung entspricht der allgemeineren mittelalterlichen Auffassung des weltlichen Lebens als eines Mittels; und einer Grundlage für die Verwirklichung des religiösen, wie sie in der Ethik Alberts des Großen und des Thomas von Aquino ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Der letzte Zweck der menschlichen Gesellschaft ist nach der Schrift des Thomas über das Fürstenregiment, durch tugendhaftes Leben zu dem Genüsse Gottes zu kommen. Dies Ziel kann nicht durch die Kräfte der menschlichen Natur erreicht werden, sondern nur durch die Gnade Gottes. Daher ist die Verwirklichung des tugendhaften Lebens in der staatlichen Gemeinschaft das Mittel für die Erreichung eines Zweckes, welcher jenseit des vom Staate zu Leistenden liegt und von dem göttlichen Könige selber sowie durch Übertragung von dem Priestertum verwirklicht wird. Also ist dieser Hierarchie die weltliche Herrschaft untergeordnet.400 Einen schon aus der Zeit der Kirchenväter herrührenden, von den mittelalterlichen Denkern vielfach angewandten Vergleich aufnehmend, findet Thomas im Verhältnis des weltlichen Staates zur Kirche ein Abbild des Verhältnisses des Leibes zur Seele.401 Diese Wertbestimmung des staatlichen Lebens war unter den mittelalterlichen Schriftstellern die am meisten verbreitete, und Thomas, der weiseste aller Vermittler, hat auch hier die ausgleichende Formel glücklich ausgesprochen.

Ein dritter Standpunkt entsprang aus einer höheren Wertschätzung des Staatslebens. Er betrachtet das Imperium und das sacerdotium als zwei gleich unmittelbar von Gott stammende Gewalten, von denen jede eine selbständige Funktion in der sittlichen Welt ausübte. Er erkennt also dem Staate und der Kirche die gleiche Souveränität zu. Diese Wertschätzung des imperium wird von den literarischen Vertretern der kaiserlichen Ansprüche seit Heinrich IV. zu begründen versucht.402 Sie wird tiefsinnig von Dante in seiner Schrift über die Monarchie entwickelt, aus Sätzen des Aristoteles und Thomas, aber wie in gewaltigerer Sprache, so auch in größerem Stil des Denkens als Thomas ihn zeigt. Der Zweck jedes Teiles der Schöpfung liegt in der ihm eigentümlichen Tätigkeit. Nun vermag nicht ein einzelner Mensch das im Vernunftvermögen Enthaltene zu verwirklichen, sondern das Menschengeschlecht allein kann das theoretische und in zweiter[344] Linie das praktische Vernunftvermögen ganz auswirken. Die Bedingung für die Erreichung dieses Zieles liegt in dem allgemeinen Frieden, und diesen sichert die Monarchie; sie hält die Gerechtigkeit aufrecht und richtet das Wirken der einzelnen auf das eine Ziel.403 So tritt die Monarchie zu der theokratischen Ordnung der Gesellschaft in folgendes Verhältnis. Unter allem, was existiert, steht der Mensch allein in der Mitte zwischen der vergänglichen und einer unvergänglichen Welt. Daher hat er, sofern er vergänglich ist, ein anderes Endziel, als sofern er unvergänglich ist. Die unerschöpflich tiefe Providenz hat ihm in der Seligkeit dieses Lebens, welche in dem Auswirken der ihm eigenen Tugend besteht, das eine und in der Seligkeit des ewigen Lebens, die in dem Genuß der Anschauung Gottes besteht, das andere Ziel gegeben. Wir gelangen zum ersteren Ziele auf dem Wege philosophischer Einsicht vermittels unserer intellektuellen und moralischen Tugenden, und wir erreichen den anderen Endzweck auf dem Wege der Offenbarung vermittels der theologischen Tugenden. Die Leitung des Strebens nach dem ersteren Ziele steht dem Kaiser zu und die nach dem anderen dem Papste. Das Kaisertum lenkt vermittels der philosophischen Einsicht das Menschengeschlecht zu seiner zeitlichen Glückseligkeit, der Papst führt es vermittels der Offenbarungswahrheiten zum ewigen Leben.404 – Diese selbständige Wertschätzung des Staates, wie sie uns in Dante entgegentritt, führte in einem Kopfe wie Marsilius von Padua weiter dahin, gemäß dem Bedürfnis, solchen Dualismus zu überwinden, das sacerdotium als einen Bestandteil und eine Funktion des Staates anzusehen. Marsilius zieht die Konsequenzen des antiken Staatsbegriffs, er bekämpft im Grunde den Fortschritt, welcher in dem Anspruch Christi über das Recht des Kaisers und das Recht Gottes enthalten war.405

Diese Verteilung der Wertgebung zwischen geistlicher und weltlicher Macht hat ihren Ausdruck in den rechtsgeschichtlichen Fabeln von der Übertragung der göttlichen Macht, wie sie einen wichtigen Bestandteil der geschichtlichen Metaphysik des Mittelalters ausmachen. Denn wo der Wille Gottes mit denen der Menschen zu der Verwirklichung eines von der Vorsehung überwachten Planes zusammenwirkt, entsteht der Begriff der Institution, welche in einem besonderen göttlichen Akte begründet ist und in der ein Teil der Aufgabe der Weltregierung einer irdischen Person als dem Stellvertreter Gottes übertragen wird. Die Hierarchie gründet ihre Befugnisse[345] auf die Voll macht des Statthalters Christi. Ebenso wird das Königtum vorherrschend im Mittelalter als ein von Gott übertragenes Amt betrachtet. Und die Frage entsteht dann, ob die Staatsgewalt ihre Vollmacht direkt von oben besitze oder durch eine Übertragung, die von der geistlichen Gewalt ausgegangen ist. Aus den bekannten Erörterungen hierüber ragt Dantes Beweis des legitimen Ursprungs der römischen Weltmonarchie darum hervor, weil er einer historischen Begründung der Legitimität ganz besonders nahe kommt. Dieser Beweis findet die Legitimität in dem Willen Gottes gegründet, sucht aber diesen Willen nicht in theokratischen Einzelakten auf, sondern, wie der Wille eines Menschen von außen nur aus Zeichen erkannt werden kann, so legt Dante die Geschichte als ein System von Zeichen des Willens Gottes aus.406

Wie das theokratische System dem Staate seine Stellung in der äußeren Organisation der Gesellschaft zumaß, ebenso gewährte es einen Anhalt, die Natur des Staates zu bestimmen. Von dem mystischen Leibe der Kirche wurde die Vorstellung des Organismus in einem neuen, über Aristoteles hinausgehenden Sinne auf den Staat übertragen. Die wohl älteste uns noch zugängliche Durchführung der Vergleichung zwischen den Gliedern des Körpers und den Teilen des Staates unter der Voraussetzung, daß die Grundzüge der organischen Struktur wirklich im Staate wieder kehren, war in einer dem Plutarch untergeschobenen Institutio Trajana enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des Johannes von Salisbury noch teilweise wiederzuerkennen vermögen.407 Diese Harmonie des Weltganzen, nach welcher die Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum sich in der seiner Teile, der Individuen, widerspiegelt, bildet den Hintergrund des mittelalterlichen organischen Staatsbegriffs. Und schon die Schriftsteller jener Zeit verwenden geistvoll Beziehungen, die wir am organischen Körper gewahren, zur Aufklärung des politischen Organismus.

Jenseit dieser ganzen theokratischen Auffassung von Geschichte und gesellschaftlicher Ordnung trat im Fortschreiten des Mittelalters immer mächtiger eine ganz entgegengesetzte hervor, welche aus den freien Stadtgemeinden des Altertums stammte: die Ableitung der politischen Willenseinheit und des Rechtes der Herrschaft aus[346] den Einzelwillen der zu einer Organisation verbundenen Personen. Diese Theorie erklärte die Entstehung von Willenseinheit in der äußeren Organisation der Gesellschaft nicht aus Übertragung des göttlichen Herrscherrechtes, sondern durch ein von den Einzelwillen ausgehendes pactum subjectionis, sonach durch eine Konstruktion von unten, von den Elementen des Staatslebens aus. Sie führte den Grundgedanken des griechischen Naturrechtes fort. Aber wenn dieses das Problem einer mechanischen Erklärung der politischen Willenseinheiten aus der Anarchie der gesellschaftlichen Atome ganz allgemein vorgestellt hatte und wir es so als eine Metaphysik der Gesellschaft bezeichnen konnten, so verfolgte das Mittelalter das schon von den Römern eingeschlagene Verfahren, diese griechischen Spekulationen mit der positiven Jurisprudenz in Beziehung zu setzen. Unter der Hand der Kanonisten und Legisten war der Begriff der Korporation zu dem herrschenden auf dem Gebiet der äußeren Organisation der Gesellschaft geworden und wurde auf Staat wie Kirche angewandt. Die juristische Konstruktion dieses Begriffs ließ aus einem konstituierenden Akte die einheitliche Rechtssubjektivität der Korporation, vermöge deren sie Person ist, entspringen. So wurde die Konstruktion der Willenseinheit in einem politischen Ganzen durch einen solchen Akt Mittelpunkt jeder publizistischen Theorie, und die Mitwirkung oder die ausschließliche Wirksamkeit der vereinigten Willen in dem Akte, durch welchen der Staat entsteht, gaben diesem den Charakter eines Vertrags. Grundvorstellungen des älteren deutschen Rechtes, dann die Rechtsfabel von einem konstituierenden Akte, in welchem das römische Volk die Herrschaft auf den Imperator übertragen habe, weiter die Einwirkung der griechischen Theorien, endlich das Selbstregiment freier Kommunen in Italien, dem wichtigsten Lande für die politische Theorie jener Zeit: dies alles ließ die naturrechtliche Strömung anwachsen. Von der Wende des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts ab formierte sich systematisch die juristische Konstruktion aus den Einzelwillen und ihrem Vertrag. Gesellschaftsvertrag, Souveränität des Volkes, Einschränkung des positiven Rechtes durch das Naturrecht traten in das öffentliche Recht ein. Diese positiv-rechtliche Fortentwicklung des Naturrechts verstärkte seine revolutionäre Kraft für eine künftige Zeit, zunächst aber hatte sie während des Mittelalters die Anpassung desselben an die anderen gesellschaftlichen Ideen der Zeit zur Folge. Erst in einem Marsilius von Padua löst dieser radikale Standpunkt sich von den anderen gesellschaftlichen Ideen des Mittelalters los und das bezeichnet die Morgendämmerung der modernen politischen Ideen. Die volle Machtentfaltung des Naturrechts begann dann bei den neueren Völkern mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen. Nun war der[347] Punkt in der Entwicklung der neueren Gesellschaft erreicht, an welchem mit der Souveränität der Individuen Ernst gemacht werden konnte, entsprechend dem Punkte in der Entwicklung der griechischen Gesellschaft, an dem das Naturrecht der Sophisten sich Geltung verschafft hatte.408

So fand die theokratische Gesellschaftslehre in der naturrechtlichen ihre Grenze, und diese letztere ihrerseits entbehrte noch der generellen Fassung und der Hilfsmittel der Analysis, welche ihr eine zureichende Erklärung der Gesellschaft ermöglicht hätten.

Wir überblicken und prüfen schließlich die Verbindung der entwickelten Sätze in dieser theokratischen Metaphysik der Gesellschaft. – Diese Theorie war jeder früheren darin überlegen, daß sie von dem umfassenden Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens der Menschheit ausging und jeder Satz über die Befugnisse einer politischen Gewalt sogut als jede Behauptung über den Begriff einer Tugend oder einer Pflicht durch diesen Zusammenhang bedingt war. – Aber die zusammengesetzten Tatsachen, welche sich der Geschichtskunde und der politischen Beobachtung darbieten, sind von den mittelalterlichen Denkern nicht in einfachere Einzelzusammenhänge zerlegt worden, vielmehr wurden sie durch teleologische Deutung zu einem Ganzen verbunden. Hieraus hätte nun nichts als ein willkürliches Spiel entstehen können, wenn nicht für diese Chiffren der Geschichte und der Gesellschaft der Schlüssel in der Offenbarung zur Hand gewesen wäre: sie legte Anfang, Mitte und Ende des Lebenslaufs der Menschheit fest und bestimmte dessen Gehalt. Daher bildete den Grundzug dieser Metaphysik der Gesellschaft: Jede Konstruktion in Begriffen ist nur der nachträgliche Versuch, das, was Tradition und religiöser Tiefsinn besitzen, in Begriffen darzustellen und zu beweisen. – Und zwar ist die herrschende mittelalterliche Gesellschaftslehre ein theokratisches System, jedoch galt dieses nicht ohne Widerspruch. Das Leben der Korporationen enthielt ein anderes Element, ein Recht der Gesamtheit, welches auf ein Vertragsverhältnis zurückzuweisen schien. Dieser Bestandteil wurde von der theokratischen Gesellschaftslehre nicht erklärt, und wie die naturrechtliche Gesellschaftslehre sich entwickelte, bezeichnete sie für das theokratische System eine Schranke seiner Brauchbarkeit und eine Lücke in seinen Prämissen. – Innerlich ist diese theokratische Metaphysik der Gesellschaft von den Antinomien zerrissen, welche aus der metaphysischen Prinzipienlehre in die Philosophie der Gesellschaft hineinreichen. Die tiefste dieser Antinomien wirkt in der[348] Gesellschaftslehre als der Widerspruch zwischen der Auffassung Gottes als eines Intellekts, für welchen nur das Ewige und Allgemeine ist, und als eines Willens, welcher Veränderungen zu einem Ziele hindurchläuft, in zeitlichen Akten sich kundtut und von den Taten freier Willen zu Gegenwirkungen angeregt wird. Die ewigen Wahrheiten haben als Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung für das Altertum innerhalb der Menschenwelt dieselbe Bedeutung wie die substantialen Formen innerhalb der Natur. Als Aristoteles die Platonischen Ideen in die Welt selber verlegte, stattete er diese Welt mit Ewigkeit sowohl in Rücksicht ihres Bestandes als ihrer Formen aus. In unveränderlicher Selbstgleichheit entsteht innerhalb derselben aus dem organischen Keime das lebendige Wesen und der Keim selber rückwärts aus dem Leben. Der Verlauf der Geschichte erringt nach Aristoteles der Seele und der von ihr verwirklichten Eudämonie keinen tieferen Inhalt. Ein festes Gefüge von Begriffen, welches das sich stets gleiche Gesetz des Staatslebens enthält, wird von seiner deskriptiven Wissenschaft der Politik entwickelt und hat an den veränderlichen Lebensbedingungen der Gesellschaft nur seinen wechselnden Stoff. So tief Aristoteles das Verhältnis der Lebensbedingungen der Staaten zu den politischen Formen aufgefaßt hat: die Entwicklung der Zweckzusammenhänge des menschlichen Lebens bedarf nach ihm nicht einen immer neuen, dem veränderten Gehalt entsprechenden Ausdruck in den politischen Verfassungen, sondern die Bedingungen der Gesellschaft ermöglichen, gleichsam als die Materie der Staatenbildung, hier eine geringere, dort eine höhere Ausgestaltung der einen Idealform. Dem Christentum wird Gott geschichtlich. Die vom Christentum getragene mittelalterliche Gesellschaftslehre benutzt zuerst die Idee eines göttlichen Willens, welcher eine aufsteigende Reihe von Veränderungen als Zweck enthält und in der Zeitreihe einzelner Willensakte, in der Wechselwirkung mit anderen Willen, diesen Zweck verwirklicht. Die Gottheit tritt in die Zeit ein. So oft nun die mittelalterliche Metaphysik das griechische System ewiger Wahrheiten mit dem Plane Gottes vereinigen will, zeigt sich die Unauflösbarkeit des Widerspruchs. Denn die lebendige persönliche Erfahrung des Willens, welcher Bedürfnis und Veränderung einschließt, kann nicht in Einklang gebracht werden mit der unveränderlichen Welt ewiger Gedanken, in denen der Intellekt die notwendige und allgemeingültige Wahrheit besitzt.409 – Erkenntnistheoretisch widerspricht die spekulative[349] Konstruktion aus Begriffen der willkürlichen Tatsächlichkeit, die den Entscheidungen eines freien göttlichen Willens eigen ist. Daher löste die Willenslehre Occams die objektive Metaphysik des Mittelalters auf, und War der Nominalismus in seinem ersten Stadium an seiner unfruchtbaren Negativität gegenüber den Aufgaben des mittelalterlichen Denkens zugrunde gegangen: in der mächtigen Realität des Willens fand er nun auch hier innerhalb der Gesellschaftslehre seine höhere Berechtigung. Die geistesgewaltigen kirchenpolitischen Schriften Occams zerstörten in weitläufiger Darlegung von Gründen und Gegengründen jeden Teil des rationalen Zusammenhangs einer Philosophie der Geschichte und der Gesellschaft.410 Und mit Recht; denn wirklich ist die Demonstration unfähig gewesen, die mittelalterliche Gesellschaftslehre einigermaßen zu begründen. Die Folgerichtigkeit des Schlusses versagt, wo aus dem theokratischen Prinzip der Dualismus von Staat und Kirche abgeleitet oder über Streitfragen, wie das Verhältnis von Staat und Kirche, von Weltmonarchie und Einzelstaat durch Syllogismen entschieden werden soll.[350]

373

Thomas contra gentil. II, c. 46 p. 192 a; c. 49 ff. p. 197. 198.

374

In demselben Zusammenhang der Argumentation ebda. von p. 199 b ab entwickelt.

375

S. 318 ff.

376

Thomas contra gentil. III, c. 66-73, besonders p. 364 a, 367 a, 371 a, 375 a.

377

Vgl. S. 234.

378

Vgl. S. 232 ff.

379

Am klarsten entwickelt in Thomas von Aquino summa theol. II, 1 quaest. 90 ff. (wo seine Rechtsphilosophie beginnt): 1. lex = quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2. lex aeterna = (da Gott als Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1); diese lex aeterna ist bindende Norm oberster Art und Ursprung jeder anderen bindenden Norm; 3. lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali creatura; durch eine Partizipation des Menschen an dem ewigen Gesetz entsteht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall gleiche Norm der menschlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).

380

Augustinus de civ. Dei V, c. 11 vgl. Origenes c. Cels. II, c. 30. In Augustinus de civ. Dei kehrt dieser leitende Gedanke immer wieder, z.B. IV, c. 33; V, c. 21.

381

Anfrage des Marcellinus an Augustinus, in dessen Briefwechsel, epist. 136.

382

So vielfach z.B. Celsus bei Origenes contra Cels. V, c. 35 ff.

383

Celsus bei Origenes contra Cels. IV, c. 8, Porphyrius bei Augustinus epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de tempore christianae religionis).

384

Gegen diesen Vorwurf ist Augustins Hauptwerk de civitate Dei gerichtet, vgl. lib. I und lib. II, c. 2. Ebenso beziehen sich auf ihn die sieben Bücher historiarum adversum paganos von Orosius. Vgl. I, prol.: er entspreche der Vorschrift des Augustin, die Vorstellung einer Zerrüttung der Welt und der menschlichen Gesellschaft infolge des Christentums zu bekämpfen; daherschleppt er alle Unglücksfälle zusammen. praeceperas ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus fulminum plagisque grandinum saeva vel etiam parricidiis flagitiisque misera, per transacta retro saecula repperissem, ordinato breviter voluminis textu explicarem. Das war ein unheilvolles Vorbild für die Geschichtschreibung des Mittelalters.

385

S. 253 ff.

386

Tertullian de virginibus velandis c. 1.

387

Clemens stromat. I, c. 5 p. 122 (Sylb.) von der Philosophie: epaidagôgei gar kai autê to Hellênikon, hôs ho nomos tous Hebraious eis Christon.

388

Augustinus ep. 138, c. 1, zur Auflösung des von Marcellinus (S. 333 Anm. 1) gestellten Problems: quoties nostrae variantur aetates! adolescentiae pueritia non reditura cedit; juventus adolescentiae non mansura succedit; finiens juventutem senectus morte finitur. haec omnia mutantur, nec mutatur divinae providentiae ratio, qua fit ut ista mutentur.. aliud magister adolescenti, quam puero solebat, imposuit.

389

Nach Älteren Augustinus serm. 57, c. 7; serm. 227 und 272; de civ. Dei XXI, c. 19 ff.

390

Vgl. S. 244 f.

391

Augustinus tract. VI, 25 ad c. 1 Joann. v. 32; divinum jus in scripturis divinis habemus, humanum jus in legibus regum; ep. 93, c. 12. Vgl. Isidor Etymol. V, c. 2: omnes autem leges aut divinae sunt aut humanae. divinae natura, humanae moribus constant; ideoque hae discrepant, quoniam aliae aliis gentibus placent. – Für den Begriff der lex naturalis, welche als Gesetzgebung Gottes das sittliche wie das rechtliche Gebiet umfaßt, ist zwischen Augustinus und Thomas von Aquino besonders wichtig Abälard in seinem dialogus inter philosophum, Judaeum et Christianum.

392

Augustinus ep. 105, c. 2; sermo 62, c. 5. – Über den Begriff des Naturrechts bei Thomas von Aquino und seine Unterscheidung von lex aeterna und lex naturalis vgl. S. 333.

393

Innerhalb der Darlegung des Augustinus in Buch XIX de civ. Dei besonders c. 14: das Ziel der terrena civitas ist die pax terrena, das der coelestis civitas dagegen ist die pax aeterna, und der Zweck des Menschen liegt in der letzteren.

394

Augustinus de civ. Dei V, c. 12 ff.

395

Concil. Parisiense 829 (Mansi t. XIV, p. 537 f.). Const. Worm. (Monum. Germ. Legum I, p. 333 rescr. c. 2. 3): 2. Quod universalis sancta Dei ecclesia unum corpus ejusque caput Christus sit. Dies wird durch die S. 338 berührten Stellen des Paulus erwiesen. 3. Quod ejusdem ecclesiae corpus in duabus principaliter dividatur eximiis personis. principaliter itaque totius sanctae Dei ecclesiae corpus in duas eximias personas, in sacerdotalem videlicet et regalem, sicut a sanctis patribus traditum accepimus, divisum esse novimus.

396

Dante widmet das ganze erste Buch seiner Schrift de monarchia der Entwicklung dieser Sätze. – Auch hier findet man bei Occam eine scharfsinnige Abwägung von Gründen und Gegengründen, welche die logische Folgerichtigkeit der metaphysischen Konstruktion nicht mehr anerkennt: Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1-9.

397

Auch Thomas von Aquino hebt in seinem Kommentar zur Aristotelischen Politik lib. VII, lect. 3 hervor, daß ein mäßiger Umfang des Staates für die Ordnung in ihm erforderlich sei; vgl. Johann Parisiensis de potestate regia et papali c. 3 (in Goldast monarchia II, p. 111) und die am meisten allseitige Behandlung des Problems durch Occam dialogus p. III tract. 2 1. 1 c. 1 ff.; Occam verwirft jede metaphysische Auflösung des Problems und gestattet nur eine nach der historischen Lage c. 5.

398

Augustinus de civ. Dei XIV, c. 28, XV, c. 1-5, XVI, c. 3. 4, XIX, c. 15-23. – Die Vergleichung des Staates mit einem wilden Tiere, wie sie Plato und Hobbes gebrauchen, wird auch von Augustinus, anknüpfend an die Apokalypse, angewandt, de civ. Dei 20 c. 9.

399

Gregor VII. in Jaffés bibliotheca II (1865) lib. VIII, ep. 21 a. 1081 p. 457: quis nesciat, reges et duces ab iis habuisse principium, qui, deum ignorantes, superbia rapinis perfidia homicidiis, postremo universis paene sceleribus, mundi principe diabolo videlicet agitante, super pares, scilicet homines, dominari caeca cupidine et intolerabili praesumptione affectaverunt?

400

Thomas de regimine principum I, c. 15. Hiermit übereinstimmend summa theol. II, 1 qu. 93 bes. art. 3 und 6.

401

So schon in den apostolischen Konstitutionen II, c. 34 P. 681 C (Migne) und in der orat. 17 des Gregor von Nazianz c. 8 p. 976 B (Migne), alsdann bei vielen mittelalterlichen Schriftstellern, und auch bei Thomas, summa theol. II, 2 qu. 60 art. 6: potestas saecularis subditur spirituali, sicut corpus animae.

402

Stellen bei Gierke, Deutsches Genossenschaftsrecht III, 534.

403

Dante de monarchia I, c. 1 ff.

404

Ebda. im dritten Buche.

405

Marsilius von Padua defensor pacis I, c. 4: die Bestimmung der Aufgabe des Staates nach Aristoteles' Politik; dann c. 5. 6: Einfügung des sacerdotium nach christlicher Bestimmung in den Staat; dasselbe wird als eine pars civitatis bezeichnet.

406

Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches.

407

Vgl. besonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio animatur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine rationis. ea vero qua cultum religionis in nobis instituunt et informant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tradunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man direkt die Übertragung von dem Begriff der Kirche her.

408

Von dieser zweiten geschichtlichen Formation des Naturrechts, der mittelalterlichen, haben wir eine erste gründliche Darstellung und Belegstellen in Gierkes Genossenschaftsrecht erhalten, III, 627 ff., und in dessen Althusius S. 77 ff. 92 ff. 123 ff.

409

Augustinus de civ. Dei XI, c. 10: neque enim multae sed una sapientia est, in qua sunt immensi quidam atque infiniti thesauri rerum intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles rationes rerum etiam visibilium et mutabilium; de trinitate IV, c. 1; quia igitur unum verbum Dei est, per quod facta sunt omnia, quod est incommutabilis veritas, ibi principaliter et incommutabiliter sunt omnia simul. Auflösung sucht Augustinus vergebens in dem Satz trinitate II, c. 5: ordo temporum in aeterna Dei sapientia sine tempore est.

410

Das Prinzip Occams, welches die sittliche Ordnung mit dem Willen in ein psychologisches Verhältnis setzte, das was dem Willen wertvoll ist von dem klar sonderte, was dem Verstande wahr ist, und so jede Metaphysik der sittlichen Welt aufhob, trat freilich zunächst in überspannter Fassung auf z.B. in sent. II, quaest. 19: ea est boni et mali moralis natura ut, cum a liberrima Dei voluntate sancita sit et definita, ab eadem facile possit emoveri et refigi: adeo ut mutata ea voluntate, quod sanctum et justum est possit evadere injustum. Hierdurch war dann der extreme Supranaturalismus Occams bedingt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 328-351.
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