Erstes Kapitel
Die Bedingungen des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins

[351] Die zweite Generation der europäischen Völker erfuhr nun eine Umwandlung, welche der ähnlich ist, die in Griechenland aus der Auflösung der alten Geschlechterverfassung hervorging. Indem die feudalen Ordnungen, die Gliederung der Christenheit unter Papst und Kaiser, sich lösten, entstand die neuere europäische Gesellschaft und inmitten ihrer der moderne Mensch. Dieser ist das Erzeugnis der allmählichen inneren Entwicklung, welche in der Jugendzeit dieser zweiten Generation der europäischen Völker oder dem Mittelalter stattfand. Was wir in ihm suchen, ist unser eigener Herzschlag, verglichen mit dem, was wir in den Seelen der Menschen älterer Zeiten zu lesen vermögen und das uns fremd ist. Nichts ist daher relativer, mag man auf die Allmählichkeit sehen, mit welcher es sich geltend macht, oder auf die Verschiedenheit des? persönlichen Gefühls im Geschichtschreiber, von welchem aus ein solcher historischer Typus bestimmt wird. Dennoch sieht der Geschichtschreiber Wirklichkeit, wenn er erste Beispiele des modernen Menschen an bestimmten Stellen auftreten sieht; mitten in einer kontinuierlichen Entwicklung faßt er das Ergebnis in anschaulich darstellbaren geschichtlichen Erscheinungen auf und hält es fest. Auch hindert ihn hieran nicht, daß der Punkt, an welchem in der Entwicklungsbahn des einen Volkes ein solcher Typus auftritt, der Zeit nach weit abliegt von dem Punkte, an welchem dies bei einem anderen stattfindet. Es beirrt ihn nicht, daß die besonderen Züge dieser Form bei dem einen Volke sehr abweichen von denen bei dem anderen. Ein solcher Typus ist augenscheinlich Petrarca, der mit Recht als der erste Repräsentant des modernen Menschen, wie er schon im vierzehnten Jahrhundert in klaren Zügen hervortritt, aufgefaßt wird. Es ist nicht leicht, denselben Typus in dem modernen Menschen des[351] Nordens wiederzufinden, in Luther und seiner Independenz des Gewissens, in Erasmus und jener persönlichen Freiheit des untersuchenden Geistes, welcher in einem grenzenlosen Meere von Tradition, nach Aufklärung verlangend, vorwärts dringt. Dennoch ist hier wie dort etwas die ganze Wesenheit dieser Menschen Bestimmendes, was wir mit ihnen teilen und was sie von allem absondert, das früher gewollt, gefühlt oder gedacht wurde.

Aus dem Zusammenhang dessen, was den modernen Menschen ausmacht, heben wir einen Zug heraus, welchen wir im Verlauf der intellektuellen Geschichte langsam und mühselig sich entfalten sahen, und der nun für die Entstehung wie das Recht des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins in seinem Gegensatz zu der metaphysischen Stellung des Menschen entscheidend ist. – Der Zweckzusammenhang der Erkenntnis in Europa hat sich in der Wissenschaft von seiner Grundlage in der Totalität der Menschennatur abgelöst, wie neben ihm die Kunst oder in anderer Art das Recht. Auf dieser Differenzierung beruht nicht nur die technische Vollendung der großen Zwecksysteme der menschlichen Gesellschaft, sondern, als innerster Kern des Vorgangs, das Freiwerden aller Kräfte in der Einzelseele aus ihrer anfänglichen Gebundenheit; die Seele wird Herrin ihrer Kräfte, einem Mann zu vergleichen, der gelernt hat, jede Bewegung der Glieder unabhängig von den Bewegungen der anderen auszuführen und in genauer und sicherer Abmessung auf die Wirkung zu benutzen. Die ursprüngliche Bindung der Seelenkräfte löst sich durch die Arbeit der Geschichte. Denn erst vermittels der Kunst besitzt das Gefühl sein mannigfaches, wechselndes und reiches Leben; die Werke der Künstler strahlen ihm wie in einem Wunderspiegel in Bildern, Wahrnehmungen, Vorstellungen seine innere Welt erhöht zurück. In der Arbeit der Wissenschaft erkennt erst der Intellekt seine Mittel und deren Tragweite, seine Methode und deren Macht und gebraucht nun mit der technischen Virtuosität gleichsam des logischen Athleten die in ihm liegenden Kräfte.

Der mittelalterliche Mensch hatte die in der alten Welt erreichte Differenzierung nur unvollkommen festgehalten. Wohl hatte er die christliche Erfahrung tiefsinnig entfaltet. In dem katholischen Kirchensystem hatte er die selbständige Macht des religiösen Lebens und des ihm verbundenen gesellschaftlichen Bewußtseins, das alle Völker verknüpft, befestigt und verteidigt, wenn auch mit furchtbaren Gewaltmitteln. Unter dem Schutze und leider auch der Gewalt dieses Kirchensystems erwuchs der Zweckzusammenhang der Wissenschaft in den Universitäten ebenfalls zu einer größeren Organisation, und inmitten des korporativen Lebens des Mittelalters rang auch er nach[352] einer rechtlichen Selbständigkeitssphäre. Aber die Herrschaft der Religion, welche allen höheren Gefühlen und Ideen eine seltene Sicherheit und Tiefe im Mittelalter gab, hat doch alle selbständigen Zweckzusammenhänge bis zu einem gewissen Grade gebunden. Die Legierung des Christentums mit der antiken Wissenschaft hat die Lauterkeit der religiösen Erfahrung beeinträchtigt. Die korporative und autoritative Bindung der Individuen hat die freie Beziehung der Tätigkeiten von Personen aufeinander in Gebieten, welche wie Wissenschaft und Religion in der Freiheit ihren Lebensatem haben, gehemmt. So haben die Lebensbedingungen des Mittelalters den Reichtum höheren Daseins zu einem von der Kirche geleiteten Zusammenhang verwebt, in dem das Christentum sich an eine metaphysische Wissenschaft verlor, Wissenschaft und Kunst innerlich und äußerlich gefesselt waren. Dieser Zusammenhang der Bildung hatte in der äußeren Organisation der Kirche seinen Körper. Ihm gegenüber war alles, was sonst im mittelalterlichen Menschen sich regte, Weltlichkeit, die vernichtet oder unterworfen werden mußte. So ging durch seine Seele derselbe Zwiespalt, welcher die Gesellschaft jener Tage in die kaiserliche und kirchliche Gewalt auseinanderriß. Naturwuchs des Staatslebens, Verharren der Individuen in den ursprünglichen Beziehungen zum Boden, Besonderheit, persönliches Verhältnis und persönlicher Verband, unter Zurücktreten allgemeiner Rechtsregeln, dazu ein jugendliches Ungestüm in der germanischen Rasse und den durch sie mit neuem Blute erfüllten älteren Völkern: dies alles hatte in dem Menschen jener Zeit ungebändigtes Leben der Sinne und des Willens zur Folge. Aber in seiner Seele kämpfte hiergegen der Glaube an ein transzendentes Reich, welches durch die Kirche, den Kleriker und das Sakrament in das Diesseits herüberwirkt und aus dem göttliche Kräfte beständig ausstrahlen. Die Macht dieses objektiven Systems wurde gesteigert durch die Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft. In dieser war das Individuum ganz in Verbände eingegliedert, von denen die Kirche und die feudale Ordnung nur die gewaltigsten waren. Die Zweckinhalte der Gesellschaft, welche am meisten der Freiheit zu bedürfen scheinen, waren von der Autorität und der Korporation getragen und gebunden. Diese Abhängigkeit des mittelalterlichen Menschen wurde vermehrt durch seine Stellung zu der gesamten historischen Überlieferung, welche sein Denken wie in einem dichten Walde von Traditionen festhielt. Und nicht der geringste unter den Gründen, welche Selbsttätigkeit der Individuen und unabhängige Entfaltung der einzelnen Lebenszwecke in der Gesellschaft hinderten, bestand in einer Metaphysik, welche nach der Lage der Wissenschaften in ihren Grundzügen siegreich sich behauptete und der von der Kirche verteidigten transzendenten[353] Ordnung einen festen Stützpunkt gewährte. So erscheinen auch die intellektuell gewaltigsten mittelalterlichen Denker nur als Repräsentanten dieser Weltansicht und Lebensordnung, vergleichbar den großen feudalen und hierarchischen Häuptern der Gesellschaft jener Tage. Was in ihnen individuell war, ordnete sich diesem System unter, und darin war gegründet, daß der Denker eine Weltmacht war. Wie einsam und verdüstert auch ein Dante seinen Weg ging, seine ganze große Seele war diesem objektiven Zusammenhang hingegeben, so gut als die eines Anselmus, Albertus oder Thomas. Hierdurch wurde er zu der »Stimme zehn schweigender Jahrhunderte«.

Die wesenhafte Veränderung, die wir als Auftreten des modernen Menschen bezeichnen, ist das Ergebnis eines zusammengesetzten Bildungsprozesses, und ihre Erklärung würde eine umfassende Untersuchung erfordern. – Hier, wo es sich um Entstehung und Recht des modernen wissenschaftlichen Bewußtseins handelt, ist zunächst das Wichtigste, daß die vorher von den Völkern der alten Welt vereinzelt erreichte Differenzierung und Verselbständigung der Zweckzusammenhänge der Gesellschaft innerhalb der neuen Generation der europäischen Völker verwirklicht wird. Die geistige Bildung dieser Völker ruht auf der Selbstgewißheit der religiösen Erfahrung, der Selbständigkeit der Wissenschaft, der Befreiung der Phantasie in der Kunst, im Gegensatz zu der früheren religiösen Gebundenheit. Eine solche neue Verfassung des inneren Zusammenhangs der Kultur ist eine höhere Stufe in der Entwicklung der neuen Generation europäischer Völker, da diese Nationen in der Gebundenheit der Seelenkräfte naturgemäß begonnen hatten. Sie ist aber zugleich eine Wiederherstellung des von den Griechen Erarbeiteten und im Christentum Gewonnenen, und daher sind Humanismus und Reformation hervorragende Bestandteile des Vorganges, in welchem unser modernes Bewußtsein entstand. – Zu dieser Differenzierung trat als eine andere Seite der geschichtlichen Bewegung, welche dem modernen wissenschaftlichen Bewußtsein das Leben gab, die Veränderung in der äußeren Organisation der Gesellschaft, welche alle individuellen Kräfte löste und das Individuum verselbständigte. Innerhalb der Städte vollzog sich zuerst diese soziale und politische Umgestaltung. In den Zusammenhang unserer Darlegung fügt sich harmonisch das klassische Gemälde ein, welches Jakob Burckhardt von dem ersten Auftreten des modernen Menschen in dem Italien der Renaissance entworfen hat. »Im Mittelalter, sagt er, lagen die beiden Seiten des Bewußtseins – nach der Welt hin und nach dem Inneren des Menschen selbst – wie unter einem gemeinsamen Schleier, träumend oder halbwach. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung[354] und Behandlung des Staats und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches.« Was hier als objektive Behandlung bezeichnet wird, ist zunächst durch die relative Verselbständigung der einzelnen Kreise der Existenz bedingt; indem die Wissenschaft die Unterordnung unter das mittelalterliche Schema des religiösen Vorstellens aufgibt, zerreißt das Band zwischen den religiösen Ideen als Mitteln der Konstruktion und der Wirklichkeit; man wird in unbefangener Auffassung dieser gewahr, und so entsteht objektive Betrachtung und positive Wissenschaft, wo ehedem metaphysische Ableitung das Phänomen mit dem Tiefsten des geistigen Gesamtlebens verbunden gehalten hatte. Andererseits bewirkte die veränderte Lage des Individuums in der äußeren Organisation der Gesellschaft eine Befreiung der individuellen Kräfte und des individuellen Selbstgefühls. So entstand eine neue Stellung des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit. Endlich nahm mit dem Wachstum des individuellen Selbstgefühls und der Ausbildung der objektiven Betrachtung eine freie Mannigfaltigkeit der Weltansicht zu. In metaphysischem Denken wie in poetischem Sinnen wurden alle Möglichkeiten der Weltbetrachtung durchgebildet. – Traf das volle Licht dieser neuen Zeit zuerst Italien, so war doch schon das erste Aufdämmern derselben im Norden ein mächtigeres Phänomen. In Occam finden wir eine tiefere Grundlage des modernen Bewußtseins, als in seinem jüngeren Zeitgenossen Petrarca: die Selbstgewißheit der inneren Erfahrung. Gegenüber der Autorität, der Wortbeweisführung, dem die Erfahrung überschreitenden Syllogismus wird hier im Willen eine mächtige Realität, aufrichtige und wahrhaftige Wesenheit wahrgenommen.

So erweisen sich Veränderungen in dem ganzen status hominis auch innerhalb der relativ selbständigen intellektuellen Entwicklung als einwirkend, ja bestimmend. Es ist eine äußerliche Betrachtung, wenn man die Umänderung des wissenschaftlichen Geistes seit dem vierzehnten Jahrhundert auf den Humanismus zurückführt. Durch das ganze Mittelalter geht das Anwachsen der Kenntnis von Büchern und Hilfsmitteln des Altertums.411 Trat nun inneres Wiederverständnis des Geistes der alten Schriftsteller zuerst im vierzehnten Jahrhundert in Italien, später bei den anderen Völkern hervor, so war dies die Folge tieferliegender Ursachen. Es bildeten sich bei den neueren Völkern, insbesondere in den Städten, soziale und politische Zustände, welche denen in den alten Stadtstaaten analog waren; dies hatte ein persönliches[355] Lebensgefühl, Stimmungen, Interessen, Vorstellungen zur Folge, welche durch ihre Verwandtschaft mit denen der antiken Völker ein Wiederverständnis der alten Welt möglich gemacht haben. Denn der Mensch, welcher in sich das Vergangene erneuern soll, muß durch eine innere Wahlverwandtschaft hierzu vorbereitet sein.

Diese veränderte Verfassung der geistigen Bildung, wie sie in der zunehmenden Selbständigkeit der Religion, Wissenschaft und Kunst und der wachsenden Freiheit des Individuums gegenüber dem Verbandsieben der Menschheit erscheint, ist der tiefste, in der psychischen Verfassung des modernen Menschen selber liegende Grund dafür, daß jetzt die Metaphysik ihre bisherige geschichtliche Rolle ausgespielt hat. Die christliche Religion, wie Luther und Zwingli sie auf die innere Erfahrung stellten, die Kunst, wie nun Lionardo sie den geheimnisvollen Tiefsinn der Wirklichkeit erfassen lehrte, die Wissenschaft, wie sie Galilei auf die Analysis der Erfahrung verwies, konstituierten das moderne Bewußtsein in der Freiheit seiner Lebensäußerungen.

Metaphysik, als Theologie, war das reale Band gewesen, welches im Mittelalter Religion, Wissenschaft und Kunst, die verschiedenen Seiten des geistigen Lebens, zusammengehalten hatte: nun wurde dies Band gesprengt. Das intellektuelle Leben der neuen Völker war so weit herangewachsen und ihr Verstand durch die Scholastik so diszipliniert für die Forschung um der Forschung willen, daß eingeschränktere Aufgaben vermittels strengerer Methoden gestellt und auch gelöst zu werden begannen. Die Zeit selbständiger Entwicklung der Einzelwissenschaften war gekommen. Die Ergebnisse der positiven Epoche der alten Welt konnten aufgenommen werden. Wo ein Archimedes, Hipparch und Galen den Faden positiven Forschens fallen gelassen, konnte er wieder angeknüpft werden. Altertum und Mittelalter haben in der Wissenschaft die Antwort auf das Rätsel der Welt, in der Wirklichkeit die Verkörperung der höchsten Ideen gesucht; so war die Betrachtung der idealen Bedeutung der Erscheinungen mit der Zergliederung ihres ursächlichen Zusammenhangs vermischt worden. Indem jetzt die Wissenschaft sich von der Religion loslöste, ohne sie ersetzen zu wollen, trat die kausale Forschung aus dieser falschen Verknüpfung und näherte sich den Bedürfnissen des Lebens. Man war des abstrakten Schließens auf transzendente Objekte, der metaphysischen Spinngewebe, welche vom Diesseits zum Jenseits gezogen worden waren, satt, und doch dauerte das aufrichtige Ringen nach der Wahrheit hinter den Erscheinungen fort. So wandte sich nun der Romane den Erfahrungen der äußeren Natur und des Weltlebens, der nordische Mensch zunächst der lebendigen religiösen Erfahrung zu.[356]

Und jetzt erschien auch an dieser Wende der intellektuellen Entwicklung als Träger der neuen Richtung eine neue Klasse von Personen: der Kleriker machte dem Literaten, dem Schriftsteller oder auch dem Professor an einer der von Städten oder aufgeklärten Fürsten gegründeten oder neugestalteten Universitäten Platz. In den Städten, in welchen diese Männer auftraten, bestand nicht der Unterschied zwischen einer großen tätigen aber ununterrichteten Sklavenmasse und einer kleinen Zahl freier Bürger, welche jede Art von körperlicher Arbeit als ihrer unwürdig ansahen. Während dies Verhältnis in den griechischen Städten den Fortschritt der Erfindungen in hohem Grade gehindert hatte, entstanden im Zusammenhang mit der Industrie in den modernen Städten Erfindungen von großer Tragweite. Der weite Schauplatz unseres Erdteils und die ungeheuren Mittel dieser modernen Welt brachten einen ununterbrochenen Zusammenhang vieler Arbeiter hervor. Diesen aber stand die Natur nicht als ein in sich göttliches Gewächs gegenüber: die Hand des Menschen griff durch sie hindurch, hinter ihren Formen die Kräfte zu erfassen. In dieser Bewegung entstand der Charakter der modernen Wissenschaft: Studium der Wirklichkeit, wie sie in der Erfahrung gegeben ist, vermittels der Aufsuchung des kausalen Zusammenhangs, sonach durch Zerlegung der zusammengesetzten Wirklichkeit in ihre Faktoren, besonders durch das Experiment. Die Aufgabe, das Konstante in den Veränderungen der Natur festzustellen, wurde durch die Aufsuchung von Naturgesetzen gelöst. Das Naturgesetz verzichtet darauf, das Wesen der Dinge auszudrücken, und indem so Grenzen der positiven Wissenschaft hervortraten, wurde das Studium der Wirklichkeit ergänzt durch eine Erkenntnistheorie, welche das Feld der Wissenschaften abmaß.

So entstanden, als die eigentümlichen Erzeugnisse der modernen Wissenschaft, Erforschung der Kausalgesetze der Wirklichkeit auf dem Gebiete der Natur wie der gesellschaftlich geschichtlichen Welt und Theorie der Erkenntnis. Diese beiden führen seitdem den Vernichtungskrieg gegen die Metaphysik, und jetzt ist ihre Tendenz, auf der Grundlage der Erkenntnistheorie einen Zusammenhang der Einzelwissenschaften der Wirklichkeit herzustellen.

Und hat sich nun in dieser modernen Welt, an deren Eingang wir stehen, Metaphysik zu verteidigen versucht, so ändert sich doch allmählig ihr Charakter und ihre Lage. – Die Stelle, die sie im Zusammenhang der Wissenschaften zu behaupten versucht, ist eine andere. Denn indem die positiven Wissenschaften die Wirklichkeit analysieren und die allgemeinsten Bedingungen derselben in einem System von Elementen und Gesetzen festzustellen streben, indem[357] sie sich der Stellung dieser Sätze zur Wirklichkeit wie zum Bewußtsein kritisch bewußt werden: verliert die Metaphysik ihren Platz als Grundlage der Erklärung der Wirklichkeit in den Einzelwissenschaften, und ihr bleibt nur als mögliche Aufgabe, die Ergebnisse der positiven Wissenschaften in einer allgemeinen Weltansicht abzuschließen. Der Grad von Wahrscheinlichkeit, der einem solchen Versuche erreichbar ist, kann nur ein bescheidener sein. – Ebenso ändert sich die Funktion solcher metaphysischen Systeme in der Gesellschaft. Überall wo Metaphysik fortbestand, wandelte sie sich in ein bloßes Privatsystem ihres Urhebers und derjenigen Personen, welche sich vermöge einer gleichen Verfassung der Seele von diesem Privatsystem angezogen fanden. Dies war durch die veränderte Lage bedingt. Dieselbe hat die Macht einer einheitlichen monotheistischen Metaphysik gebrochen. Die veränderten physikalischen und astronomischen Grundbegriffe haben die Schlüsse der monotheistischen Metaphysik zerstört. Eine freie Mannigfaltigkeit von metaphysischen Systemen, deren keines erweisbar ist, hat sich nun gebildet. So blieb der Metaphysik nur die Aufgabe, Zentren zu schaffen, in welchen die Ergebnisse der positiven Wissenschaften sich zu einem befriedigenden allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen in einer Fassung von relativem Werte sammeln konnten. Die positive Wissenschaft bringt nach der Ansicht der Metaphysiker nur die einzelnen Worte und die Regeln der Verknüpfung derselben hervor, welche dann erst unter ihren Händen zum Gedicht werden. Aber ein Gedicht hat keine allgemeingültige Wahrheit. Man hat ungefähr in derselben Zeit nebeneinander Schelling seine Offenbarungsphilosophie, Hegel seine Weltvernunft, Schopenhauer seinen Weltwillen, die Materialisten ihre Anarchie der Atome beweisen hören; alle mit gleich guten oder schlechten Gründen. Handelt es sich etwa darum, unter diesen Systemen das wahre auszusuchen? Das wäre ein sonderbarer Aberglaube; so vernehmlich als möglich lehrt diese metaphysische Anarchie die Relativität aller metaphysischen Systeme. Ein jedes von ihnen repräsentiert so viel, als es in sich faßt. Es hat so viel Wahrheit als eingegrenzte Tatsachen und Wahrheiten seinen grenzenlosen Verallgemeinerungen zugrunde liegen. Es ist ein Organ, sehen zu machen, die Individuen durch den Gedanken zu vertiefen und zu dem unsichtbaren Zusammenhang in Beziehung zu erhalten. Dieses und vieles Verwandte bildet die neue Funktion der Metaphysik in der modernen Gesellschaft. Daher sind diese Systeme der Ausdruck bedeutender und in ihren Gedanken weit um sich greifender Personen. Die wahren Metaphysiker haben gelebt, was sie schrieben. Descartes, Spinoza, Hobbes, Leibniz sind von neueren Geschichtschreibern der Philosophie immer[358] mehr als zentrale Individualitäten aufgefaßt worden, in deren weiter Seele eine Lage der wissenschaftlichen Gedanken sich auf relative Weise abspiegelt. Ebendieser ihr repräsentativer Charakter beweist die Relativität des Wahrheitsgehaltes in ihren Systemen. Die Wahrheit ist nicht etwas Repräsentatives.

Aber selbst diese Funktion der metaphysischen Systeme in der modernen Gesellschaft kann nur vorübergehend sein. Denn diese schimmernden Zauberschlösser der wissenschaftlichen Einbildungskraft können, nachdem die Relativität ihres Wahrheitsgehaltes erkannt ist, das ernüchterte Auge nicht mehr täuschen. Und gleichviel wie lange noch ein Einfluß auf die Kreise der Gebildeten von metaphysischen Systemen geübt werden mag, die Möglichkeit, daß ein solches System von relativer Wahrheit, das neben vielen anderen von demselben Wahrheitsgehalt steht, als Grundlage für die Wissenschaften benutzt werde, ist unwiederbringlich dahin.

411

Prantl hat in seiner Geschichte der Logik im Abendlande 1855 ff. für einen einzelnen Zweig der wissenschaftlichen Literatur den Beweis dieses wichtigen Satzes erschöpfend geführt.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 351-359.
Lizenz:
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Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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