Zweites Kapitel
Die Naturwissenschaften

[359] In dem dargelegten allgemeinen Zusammenhang entstand die moderne Naturwissenschaft. Der Geist der neueren Völker war in den wissenschaftlichen Korporationen des Mittelalters diszipliniert worden. Die Wissenschaft, als Beruf, der sich in großen Körperschaften vererbte, betrieben, steigerte ihre Anforderungen an technische Vollendung und schränkte sich auf dasjenige ein, was sie zu beherrschen vermochte. Und zwar sah sie sich hierbei durch kräftige Impulse gefördert, welche sie in der Gesellschaft vorfand. In demselben Maße, in welchem sie von der Untersuchung der letzten Gründe sich loslöste, empfing sie von den fortschreitenden praktischen Zwecken der Gesellschaft, dem Handel, der Medizin, der Industrie ihre Aufgaben. Der erfindende Geist in dem arbeitsamen, die Handgriffe mit sinnendem Nachdenken vereinigenden Bürgertum schuf der experimentellen und messenden Wissenschaft Hilfsmittel von unberechenbarer Bedeutung. Und von dem Christentum her lebte in diesen romanischen und germanischen Völkern ein mächtiges Gefühl, daß dem Geist die Herrschaft über die Natur gebühre, wie es Francis Bacon ausgedrückt hat. So löst sich eine ihrer eingeschränkten Ziele si chere positive Wissenschaft der Natur immer klarer von dem Ganzen der geistigen Bildung, welche als Metaphysik aus der Totalität der Gemütskräfte ihre Nahrung gezogen hatte. Das Naturerkennen scheidet sich von dem seelischen Gesamtleben ab. Immer mehrere von den Voraussetzungen,[359] welche in dieser Totalität gegeben sind, werden von dem Naturerkennen eliminiert. Seine Grundlagen werden vereinfacht und auf das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene immer genauer eingeschränkt. Die Naturwissenschaft des sechzehnten Jahrhunderts arbeitete noch mit Phantasien von psychischen Verhältnissen in den Naturvorgängen; Galilei und Descartes begannen den erfolgreichen Kampf gegen diese überlebenden Vorstellungen aus der metaphysischen Zeit. Und allmählich wurden selbst Substanz, Ursache, Kraft bloße Hilfsbegriffe für die Lösung der methodischen Aufgabe, zu den in der äußeren Erfahrung gegebenen Erscheinungen die Bedingungen zu suchen, unter welchen ihr Nebeneinander und ihre Abfolge erklärt und ihr Eintreffen vorausgesagt werden kann.

Diese moderne Naturwissenschaft hat allmählich die Metaphysik der substantialen Formen zersetzt.

Der denknotwendige Zusammenhang, den die moderne Naturwissenschaft als Erklärungsgrund der gegebenen Wirklichkeit sucht, gemäß dem in der Metaphysik entwickelten und von derselben ihr vorgezeichneten Ideal der Erkenntnis, hat zu seinem Material die ebenfalls in der Metaphysik aus dem Erlebnis der vollen Menschennatur abstrahierten und wissenschaftlich entwickelten Begriffe der Substanz und der Kausalität (wirkenden Ursache). Als die Begriffe von Erkenntnisgrund oder Denknotwendigkeit in der Entwicklung der Metaphysik auftraten, fanden sie diese beiden Grundvorstellungen vor, als welche das menschliche Denken vom Gegebenen rückwärts zu den Gründen leiten. Dementsprechend sehen wir die Naturforschung bemüht, das anschauliche Bild der Veränderungen und Bewegungen an den Objekten in die Verkettung von Ursachen und Wirkungen aufzulösen, die Regelmäßigkeiten in ihnen zu erfassen, durch welche sie für den Gedanken beherrschbar werden, und als Träger dieses Vorgangs Substanzen zu konstruieren, welche nicht wie sinnliche Objekte dem Entstehen und Vergehen unterworfen sind. Soweit unterscheidet sich die Gedankenarbeit der modernen Naturwissenschaft gar nicht von der Arbeit der Griechen, die ersten Gründe des gegebenen Weltalls aufzusuchen. Worin besteht nun das die Erforschung der Natur bei den neueren Völkern am meisten Unterscheidende, worin der Kunstgriff, vermittels dessen sie das alte Lehrgebäude vom Kosmos zerstört haben?

Schon in der Alchimie macht sich die Richtung auf die wahren Faktoren der Natur geltend. Die Aristotelische Elementenlehre hatte Eigenschaften, welche sich der einfachen Wahrnehmung darbieten, Wärme, Kälte, Feuchtigkeit, Trockenheit, zugrunde gelegt. Das Stadium der Chemie, wie es Paracelsus repräsentiert, bedient sich der[360] chemischen Analyse, um hinter diese deskriptive Betrachtungsweise zu den wirklichen Faktoren, aus denen die Materie sich zusammensetzt, zu dringen. Es unterscheidet daher drei Grundkörper (tres primas substantias), das was brennt: Sulphur, das was raucht und sich sublimiert: Mercurius, das was als unverbrennliche Asche zurückbleibt: Sal. Aus diesen Grundkörpern, welche zwar nicht isoliert dargestellt, aber von der chemischen Kunst am Verbrennungsvorgang unterschieden werden können, leitet Paracelsus erst die Aristotelischen Elemente ab. So war der Weg beschritten, durch die tatsächliche Zerlegung der Materie im Experiment sich den chemischen Elementen zu nähern; eben der Verbrennungsprozeß, von welchem Paracelsus ausging, sollte Lavoisier den Eintritt in die quantitative Untersuchungsweise vermitteln. Jedoch lange Zeit bevor die Chemie zu einer sicheren Grundlegung gelangte, wurde die Mechanik durch Galilei exakte Wissenschaft. Lagrange hat in bezug auf diese Leistung Galileis hervorgehoben, es habe, um die Jupitertrabanten, Venusphasen und Sonnenflecken zu finden, nur des Teleskops und des Fleißes bedurft, wogegen nur ein außerordentlicher Geist die Gesetze der Natur in Erscheinungen, welche man stets vor Augen gehabt, aber bis dahin nicht hatte erklären können, zu entwirren vermocht habe. Die einfachen, begrifflich wie quantitativ bestimmten Vorstellungen, welche er zugrunde legte, setzten eine Zerlegung des Bewegungsvorgangs in abstrakte Komponenten voraus, und sie ermöglichten gerade durch die Einfachheit der fundamentalen Beziehungen die Unterordnung der Bewegungen unter die Mathematik. Das scheinbar so selbstverständliche Prinzip der Trägheit durchschnitt die ganze von uns dargelegte metaphysische Theorie, nach welcher eine Bewegung nur durch das Fortwirken der sie hervorbringenden Ursache sich forterhält, sonach den gleichförmig fortdauernden Bewegungen eine gleichförmig wirkende Ursache zugrunde gelegt werden mußte. Auf diese Theorie, welche der Sinnenschein von gestoßenen und in Ruhezustand zurückkehrenden Körpern empfahl, war die Annahme von psychischen Wesenheiten als Ursachen eines weiten Kreises von Veränderungen in der Natur einerseits begründet worden, wie sie andererseits aus der Gedankenmäßigkeit der Bewegungen ihre mehr andauernde Kraft empfing. Nunmehr zeigte das Prinzip Galileis den Grund der Fortdauer einer Bewegung in der Notwendigkeit des Beharrens des Objektes selber in seinem Bewegungszustande; dieser Notwendigkeit gemäß durchläuft das Objekt jedes folgende Differential seiner Bahn, weil es das vorangehende durchlaufen hat. Die Grundlage der metaphysischen Naturbetrachtung war vernichtet.

Die erste Anwendung der Mechanik auf ein verwickeltes System[361] von Tatsachen, zugleich die glänzendste und erhabenste, deren sie fähig ist, war die auf die großen Bewegungen der Massen im Weltraum. So entstand die Mechanik des Himmels. Sie wurde ermöglicht durch die Fortschritte der Mathematik in analytischer Geometrie und Differentialrechnung. Nun wurde das verwickelte Getriebe der im Weltraum kreisenden Gestirne durch die Theorie von der Gravitation, als dem unsichtbaren Bande der Sternenwelt, der mechanischen Betrachtungsweise untergeordnet. Damit sanken die Gestirngeister der metaphysischen Naturauffassung dahin und wurden zu Märchen einer verklungenen Zeit.

Die unermeßliche Veränderung der menschlichen Weltansicht, welche sich so vollzog, begann, indem Kopernikus, anknüpfend an die Forschungen der Griechen, welche dasselbe versucht, die Sonne in die Mitte der Welt stellte. »Denn wer könnte wohl«, so sagt er, »in dem herrlichen Naturtempel dieser Fackel einen anderen Ort anweisen wollen.« Die drei Keplerschen Gesetze entwarfen deskriptiv die Figuren und Zahlenverhältnisse der heliozentrischen Planetenbe wegungen, in welchen Kopier, den Spuren der pythagoreischen Schule nachgehend, die Harmonie des Himmels anschaute. Newton suchte die Erklärung für die so ihrer Form nach bestimmten Bewegungen. Und zwar erklärte er sie durch eine Zerlegung in zwei Faktoren. Der eine Faktor liegt in einem Anstoß, welchen die Planeten in der Richtung einer Tangente an ihre gegenwärtige Bahn erhalten haben, der andere in der Gravitation; so kann die Krümmung ihrer Bahnen abgeleitet werden. Auf solche Weise tritt an die Stelle der geistigen Wesen, deren vorstellende Kraft und innere geistige Beziehung zueinander der Erklärungsgrund der verwickelten Formen der scheinbaren Bahnen und ihrer mechanisch zusammenhangslosen Räderwerke gewesen waren, nachdem einmal durch den heliozentrischen Standpunkt des Kopernikus das Problem eine einfachere, durch Kopier eine genau präzisierte Fassung erhalten hatte, der Mechanismus, dem Triebwerk einer ungeheuren Uhr vergleichbar. Und das Mittel war die Zerlegung, die auf das Zusammenwirken von Faktoren, welche der Erklärung dienen, die Form zurückführte, während diese bis dahin Gegenstand einer ästhetischen und teleologisch deskriptiven Betrachtung gewesen war.

Wir verfolgen nicht die Bedeutung der fortschreitenden Chemie und Physik für die gänzliche Veränderung der bisherigen Metaphysik; insbesondere in der Chemie schien nun das analytische Verfahren experimentell die Auffindung der Substanzen bewirken zu wollen, die im Kosmos vereinigt sind; aber die Formen des organischen Lebens waren der zweite Hauptstützpunkt für die Metaphysik der substantialen Formen, und auch diesen sollte sie nun verlieren. Die Metaphysik[362] der substantialen Formen widerstand vermittels des Begriffs einer Lebensseele, der anima vegetativa, noch eine Zeitlang der Anforderung, die organischen Formen und Leistungen als das am meisten komplexe aller Phänomene der Natur ebenfalls auf den physikalischen und chemischen Mechanismus zurückzuführen. Dann wies die Biologie dieser Lebensseele wenigstens die Benutzung der chemischen und physikalischen Kräfte zu: bis schließlich die Mehrzahl der Biologen, insbesondere in Deutschland, den Begriff von Lebensseele, Lebenskraft als für den Fortschritt der Forschung unfruchtbar zurückstellte und ganz zu eliminieren bemüht war. Auch hier war es wiederum die Zerlegung der vordem als ein lebendiges, von einem Psychischen aus entwickeltes Ganzes betrachteten forma naturae, was die alte Metaphysik stürzte. – So drang das analytische Verfahren, nicht die bloße Zerlegung in Gedanken, sondern die tatsächlich eingreifende, den ersten Naturursachen entgegen und löste psychische Wesenheiten sowie substantiale Formen auf.

Hatte die monotheistische Lehre den Mittelpunkt der bisherigen Metaphysik gebildet und besaß sie innerhalb der strengen Wissenschaft ihren Hauptstützpunkt an dem Schluß aus den Tatsachen der Astronomie, so wurde nun auch die Stringenz dieses Schlusses zersetzt.

Noch Kepler war durch seine Entdeckungen nur dahin geführt worden, die göttliche Kraft, welche die Bewegungen der Planeten hervorbringt, in die Sonne als den Mittelpunkt aller ihrer Bahnen zu verlegen und so bereits eine Zentralkraft in der Sonne anzunehmen. »Wir müssen eins von beiden voraussetzen: entweder, daß die bewegenden Geister, je weiter sie von der Sonne entfernt sind, um so schwächer werden, oder daß es einen bewegenden Geist in dem Mittelpunkte aller dieser Bahnen, nämlich in der Sonne, gebe, der jeden Himmelskörper in eine um so schnellere Bewegung versetzt, je näher ihm dieser ist, bei den entfernteren aber wegen der Erstreckung und Herabminderung der Kraft gleichsam ermattet.«412

Alsdann fiel auch noch für Newton nur ein Erklärungsgrund der Form der Planetenbewegungen in den Bereich der Materie; er bedurfte neben ihm der Annahme, daß der Planet durch einen Stoß in eine gewisse Richtung mit einer gewissen Geschwindigkeit geworfen sei. So war der erste Beweger, wenn auch zu einem untergeordneten Geschäft, immer noch erforderlich. Ja mehr, Newton erklärt, daß Planeten und Kometen zwar nach den Gesetzen der Schwere in ihren Bahnen verharren, aber die ursprüngliche und regelmäßige Lage derselben[363] nicht durch diese Gesetze erlangen konnten. »Dies vollkommene Gefüge der Sonne, der Planeten und Kometen hat nur aus dem Ratschluß und der Herrschaft eines einsichtigen und mächtigen Wesens hervorgehen können.«413 Seine geistige Substanz ist Trägerin der Wechselwirkung der Teile im Weltall. So dauerte eine Zeit hindurch, wenn auch abgeschwächt, die Macht des astronomischen Teils des kosmologischen Beweises für das Dasein Gottes fort. Eine Anzahl von bedeutenden Köpfen, welche sonst einen leidenschaftlichen Kampf gegen den Kirchenglauben führten, fand sich auch von diesem so abgeschwächten Argument überzeugt. Indem aber die mechanische Theorie von Kant und Laplace dazu angewendet wurde, die Entstehung des Planetensystems zu erklären, trat in der neuen Hypothese der Mechanismus an die Stelle der Gottheit.

Die metaphysische Beweisführung, welche uns durch die ganze Geschichte der Metaphysik begleitet hat, ist als solche von jetzt an zerstört. Zudem ist die Unterscheidung einer höheren unveränderlichen Welt von der des Wechsels unter dem Monde nunmehr durch die Entdeckungen über die Veränderungen auf den Gestirnen sowie durch die Mechanik und Physik des Himmels aufgehoben. Was zurückbleibt ist die metaphysische Stimmung, ist jenes metaphysische Grundgefühl des Menschen, welches diesen durch die lange Zeit seiner Geschichte begleitet hat, von der Zeit ab, da die Hirtenvölker des Ostens zu den Sternen aufblickten, da die Priester auf den Sternwarten der Tempel des Orients den Dienst der Gestirne und ihre Betrachtung verbanden. Dieses metaphysische Grundgefühl ist in dem menschlichen Bewußtsein mit dem psychologischen Ursprunge des Gottesglaubens überall verwoben; es beruht auf der Unermeßlichkeit des Raumes, welcher ein Symbol der Unendlichkeit ist, auf dem reinen Lichte der Gestirne, das auf eine höhere Welt zu deuten scheint, vor allem aber auf der gedankenmäßigen Ordnung, welche auch die einfache Bahn, die ein Gestirn am Himmel beschreibt, zu unserer geometrischen Raumanschauung in eine geheimnisvolle aber lebendig empfundene Beziehung setzt. Dies alles ist in einer Stimmung verbunden, die Seele findet sich erweitert, ein gedankenmäßiger göttlicher Zusammenhang breitet sich rings um sie in das Unermeßliche aus. Dies Gefühl ist nicht fähig, in irgendeine Demonstration aufgelöst zu werden. Die Metaphysik verstummt. Aber von den Sternen her klingt, wenn die Stille der Nacht kommt, auch zu uns noch jene Harmonie der Sphären, von welcher die Pythagoreer sagten, daß nur das Geräusch der Welt sie übertäube; eine unauflösliche metaphysische[364] Stimmung, welche jeder Beweisführung zugrunde lag und sie alle überleben wird.

Wenn nun solchergestalt die moderne Naturwissenschaft die ganze bisher dargestellte Metaphysik der substantialen Formen und der psychischen Wesenheiten aufgelöst hat bis in den Innersten Kern, den die einheitliche geistige Weltursache ausmacht, so entsteht die Frage: in was hat sie dieselbe aufgelöst?

Was setzte nun die Zerlegung der zusammengesetzten Formen der Natur an die Stelle dieser formae substantiales, welche einst der Gegenstand einer deskriptiven Auffassung und Zurückführung auf geistähnliche Wesenheiten gewesen waren? Man hat wohl gesagt: eine neue Metaphysik. Und in der Tat: soweit ein Standpunkt reicht, wie ihn neuerdings Fechner als die Nachtansicht geschildert hat, ein Standpunkt, für welchen Atome und Gravitation metaphysische Entitäten sind, wie sie vorher die substantialen Formen waren, ist natürlich nur eine alte mit einer neuen Metaphysik vertauscht worden, und man kann nicht einmal sagen: eine schlechtere mit einer besseren. Der Materialismus war eine solche neue Metaphysik, und eben darum ist der gegenwärtige naturwissenschaftliche Monismus sein Sohn und Erbe, weil auch ihm Atome, Moleküle, Gravitation Entitäten sind, Wirklichkeiten, so gut als irgendein Objekt, das gesehen und betastet werden kann. Aber das Verhältnis der wahrhaft positiven Forscher zu den Begriffen, durch welche sie die Natur erkennen, ist ein anderes, als das der metaphysischen Monisten. Newton selber sah in der anziehenden Kraft nur einen Hilfsbegriff für die Formel des Gesetzes, nicht die Erkenntnis einer physischen Ursache.414 Solche Begriffe, wie Kraft, Atom, Molekül sind für die meisten hervorragenden Naturforscher ein System von Hilfskonstruktionen, vermittels deren wir die Bedingungen für das Gegebene zu einem für die Vorstellung klaren und für das Leben benutzbaren Zusammenhang entwickeln. Und dies entspricht dem Sachverhalt.

Ding und Ursache können nicht als Bestandteile der Wahrnehmungen in den Sinnen aufgezeigt werden. Sie ergeben sich auch nicht aus der formalen Anforderung eines denknotwendigen Zusammenhangs zwischen den Wahrnehmungselementen, noch weniger aus den bloßen Beziehungen derselben in Koexistenz und Sukzession. Für den Naturforscher mangelt ihnen daher die Legitimität des Ursprungs.[365] Sie bilden die inhaltlichen im Erlebnis gegründeten Vorstellungen, durch welche Zusammenhang unter unseren Empfindungen besteht, und zwar treten sie in einer vor der bewußten Erinnerung liegenden Entwicklung auf.

Aus ihnen sahen wir im Verlauf dieses geschichtlichen Überblicks die abstrakten Begriffe von Substanz und Kausalität hervorgehen. Nun bestimmt die Unterscheidung des Dings von Wirken, Leiden und Zustand nebst den aus ihr rechtmäßig vom Erkennen abgeleiteten Unterscheidungen, welche mit den Begriffen der Substanz und der Kausalität gegeben sind, die Form des Urteils. Also können wir diese Begriffe wohl im Wort, nicht im wirklichen Vorstellen eliminieren, und die Naturforschung kann nur darauf gerichtet sein, vermittels dieser Vorstellungen und Begriffe, welche den einzigen uns möglichen, unserem Bewußtsein eigenen Zusammenhang in sich schließen, ein zureichendes und in sich geschlossenes System der Bedingungen für die Erklärung der Natur zu konstruieren.

Wir ziehen wieder nur einen Schluß aus der historischen Übersicht, wenn wir zunächst weiter behaupten: der Begriff der Substanz und der von ihm ausgehende konstruktive Begriff des Atoms sind aus den Anforderungen des Erkennens an das, was in der Veränderlichkeit des Dinges als ein zugrunde liegendes Festes zu setzen sei, entstanden; sie sind geschichtliche Erzeugnisse des mit den Gegenständen ringenden logischen Geistes; sie sind also nicht Wesenheiten von einer höheren Dignität als das einzelne Ding, sondern Geschöpfe der Logik, welche das Ding denkbar machen sollen und deren Erkenntniswert unter der Bedingung des Erlebens und Anschauens steht, in denen das Ding gegeben ist. Dem Schema dieser Begriffe haben sich die großen Entdeckungen eingeordnet, welche in den Grenzen unserer chemischen Erfahrungen die Unveränderlichkeit der Stoffe nach Masse und Eigenschaften mitten in dem Wechsel der chemischen Verbindungen und Trennungen erweisen. So entsteht die Möglichkeit, an welche alle fruchtbare Naturforschung gebunden ist, die in der Anschauung gegebenen Tatbestände und Beziehungen rückwärts dem zugrunde zu legen, was der Anschauung entzogen ist, und solchergestalt eine einheitliche Naturansicht durchzuführen. Die klaren Vorstellungen von Masse, Gewicht, Bewegung, Geschwindigkeit, Abstand, welche an den größeren sichtbaren Körpern gebildet sind und an dem Studium der Massen im Weltraum sich bewährt haben, werden auch da benutzt, wo die Sinne durch die Vorstellungskraft ersetzt werden müssen. Daher ist auch der Versuch des deutschen Idealismus, diese Grundvorstellung von der Konstitution der Materie zu verdrängen, eine unfruchtbare Episode geblieben, während die Atomistik in ihrer Entwicklung stetig,[366] wenn auch zuweilen durch sehr barocke Vorstellungen von den Massenteilchen, voranschreitet. Diese barocken Vorstellungen wollen zwar unseren idealen Anforderungen an die ersten Gründe des Kosmos nicht entsprechen, sind aber den sichtbaren Erscheinungen gleichartig, und ermöglichen den nach der Lage der Wissenschaft zur Zeit für die Erklärung dieser Erscheinungen am meisten geeigneten Begriffszusammenhang. Wogegen die Vorstellungen der idealistischen Naturphilosophie zwar durch ihre Verwandtschaft mit dem geistigen Leben höchst würdig erschienen, den Ausgangspunkt der Erklärung der Natur zu bilden, aber indem sie eine den sichtbaren Objekten heterogene Innerlichkeit hinter diesen dichteten, waren sie andererseits unfähig, diese sichtbaren Objekte wirklich zu erklären, und darum gänzlich unfruchtbar.415

Dieselbe Folgerung ergibt sich alsdann in bezug auf den Erkenntniswert des Begriffes der Kraft und der ihm benachbarten von Kausalität und Gesetz. Während der Begriff der Substanz im Altertum ausgebildet wurde, hat der Begriff der Kraft seine gegenwärtige Gestaltung erst im Zusammenhang mit der neueren Wissenschaft empfangen. Wiederum blicken wir rückwärts; den Ursprung dieses Begriffs erfaßten wir noch im mythischen Vorstellen als Erlebnis. Die Natur dieses Erlebnisses wird später Gegenstand der erkenntnistheoretischen Untersuchung sein. Hier sei nur herausgehoben: wie wir in unserem Erlebnis finden, kann der Wille die Vorstellungen lenken, die Glieder in Bewegung setzen, und diese Fähigkeit wohnt ihm bei, wenn er auch nicht immer von ihr Gebrauch macht; ja im Falle äußerer Hemmung kann sie zwar durch eine gleiche oder größere Kraft in Ruhestand gehalten werden, wird jedoch als vorhanden gefühlt. So fassen wir die Vorstellung einer Wirkensfähigkeit (oder eines Vermögens), welche dem einzelnen Akt von Wirken voraufgeht; aus einer Art von Reservoir wirkender Kraft entfließen die einzelnen Willensakte und Handlungen. Die erste wissenschaftliche Entwicklung dieser Vorstellung haben wir in der Aristotelischen Begriffsreihe von Dynamis, Energie und Entelechie vorgefunden. Jedoch war die hervorbringende Kraft in dem System des Aristoteles noch nicht von dem Grunde der zweckmäßigen Form ihrer Leistung gesondert, und wir erkannten gerade hierin ein charakteristisches Merkmal und eine Grenze der Aristotelischen Wissenschaft. Erst diese Sonderung ermöglichte die mechanische Weltansicht. Dieselbe trennte den abstrakten Begriff von Quantität der Kraft (Energie, Arbeit) von den konkreten Naturphänomenen ab. Jede Maschine zeigt eine meßbare Triebkraft, deren Quantum von der Form verschieden[367] ist, in welcher die Kraft auftritt, und sie zeigt zugleich, wie durch die Leistung Triebkraft verbraucht wird; vis agendo consumitur. Das Ideal eines objektiven dem Gedanken faßbaren Zusammenhangs der Bedingungen für das Gegebene ist in dieser Richtung durch die Entdeckung des mechanischen Äquivalents der Wärme und die Aufstellung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft verwirklicht. Auch hier haben wir kein apriorisches Gesetz vor uns, vielmehr haben positive Entdeckungen die Naturwissenschaft dem angegebenen Ideal angenähert. Indem eine Naturkraft nach der anderen in Bewegung aufgelöst, diese aber dem umfassenden Gesetz untergeordnet wird, daß jedes Wirken Effekt eines früheren gleich großen, jeder Effekt Ursache eines weiteren gleich großen Effektes sei: schließt sich der Zusammenhang ab. So hat das Gesetz von der Erhaltung der Kraft in bezug auf die Benutzung der Vorstellung von Kraft dieselbe Funktion als der Satz von der Unveränderlichkeit der Masse im Weltall in bezug auf den Stoff. Zusammen sondern sie, auf dem Wege der Erfahrung, das Konstante in den Veränderungen des Weltalls aus, welches aufzufassen die metaphysische Epoche vergebens bemüht war.

So viel ist klar: man kann die mechanische Naturerklärung, wie sie nun das Ergebnis der bewundernswerten Arbeit des naturforschenden Geistes in Europa seit dem Ausgang des Mittelalters ist, nicht gröber mißverstehen, als indem man sie als eine neue Art von Metaphysik, etwa eine solche auf induktiver Grundlage, auffaßt. Freilich sonderte sich nur allmählig und langsam von der Metaphysik das Ideal von erklärender Erkenntnis des Naturzusammenhangs ab, und erst die erkenntnistheoretische Forschung klärt den ganzen Gegensatz auf, der zwischen dem metaphysischen Geist und der Arbeit der modernen Naturwissenschaft besteht. Sie mag ihn vorläufig, vor der Darlegung unserer Erkenntnistheorie, folgendermaßen bestimmen.

1. Die äußere Wirklichkeit ist in der Totalität unseres Selbstbewußtseins nicht als bloßes Phänomen gegeben, sondern als Wirklichkeit, indem sie wirkt, dem Willen widersteht und dem Gefühl in Lust und Wehe da ist. In dem Willensanstoß und Willenswiderstand werden wir innerhalb unseres Vorstellungszusammenhangs eines Selbst inne, und gesondert von ihm eines Anderen. Aber dies Andere ist nur mit seinen prädikativen Bestimmungen für unser Bewußtsein da, und die prädikativen Bestimmungen erhellen nur Relationen zu unseren Sinnen und unserem Bewußtsein: das Subjekt oder die Subjekte selber sind nicht in unseren Sinneseindrücken. So wissen wir vielleicht, daß dies Subjekt da sei, doch sicher nicht, was es sei.

2. Für dieses Phänomen der äußeren Wirklichkeit sucht nun die mechanische Naturerklärung denknotwendige Bedingungen.[368] Und zwar ist die äußere Wirklichkeit jederzeit, weil sie uns als ein Wirkendes gegeben war, Gegenstand der Untersuchung in bezug auf ihre Substanz und die ihr unterliegende Ursächlichkeit für den Menschen gewesen. Auch verbleibt das Denken durch das Urteil als seine Funktion an die Unterscheidung von Substanz einerseits und Tun, Leiden, Eigenschaft, Kausalität, schließlich Gesetz andererseits gebunden. Die Unterscheidung der zwei Klassen von Begriffen, welche das Urteil trennt und verknüpft, kann nur mit dem Urteilen, sonach dem Denken selber aufgehoben werden. Aber eben darum können für das Studium der Außenwelt die unter diesen Bedingungen entwickelten Begriffe nur Zeichen sein, welche, als Hilfsmittel des Zusammenhangs im Bewußtsein, zur Lösung der Aufgabe der Erkenntnis in das System der Wahrnehmungen eingesetzt werden. Denn das Erkennen vermag nicht an die Stelle von Erlebnis eine von ihm unabhängige Realität zu setzen. Es vermag nur, das in Erleben und Erfahren Gegebene auf einen Zusammenhang von Bedingungen zurückzuführen, in welchem es begreiflich wird. Es kann die konstanten Beziehungen von Teilinhalten feststellen, welche in den mannigfachen Gestalten des Naturlebens wiederkehren. Verläßt man daher den Erfahrungsbezirk selber, so hat man es nur mit erdachten Begriffen zu tun, aber nicht mit Realität, und die Atome sind unter diesem Gesichtspunkte, wenn sie Entitäten zu sein beanspruchen, nicht besser als die substantialen Formen: sie sind Geschöpfe des wissenschaftlichen Verstandes.

3. Die Bedingungen, welche die mechanische Naturerklärung sucht, erklären nur einen Teilinhalt der äußeren Wirklichkeit. Diese intelligible Welt der Atome, des Äthers, der Vibrationen ist nur eine absichtliche und höchst kunstvolle Abstraktion aus dem in Erlebnis und Erfahrung Gegebenen. Die Aufgabe war, Bedingungen zu konstruieren, welche die Sinneseindrücke in der exakten Genauigkeit quantitativer Bestimmungen abzuleiten und sonach künftige Eindrücke vorauszusagen gestatten. Das System der Bewegungen von Elementen, in welchem diese Aufgabe gelöst wird, ist nur ein Ausschnitt der Realität. Denn schon der Ansatz unveränderlicher qualitätsloser Substanzen ist eine bloße Abstraktion, ein Kunstgriff der Wissenschaft. Er ist dadurch bedingt, daß alle wirkliche Veränderung aus der Außenwelt in das Bewußtsein hinübergeschoben wird, wodurch denn die Außenwelt von den lästigen Veränderungen der sinnlichen Eigenschaften befreit wird. Das Medium von Klarheit, in welchem hier die leitenden Begriffe von Kraft, Bewegung, Gesetz, Element schweben, ist nur die Folge davon, daß die Tatbestände durch Abstraktion von allem befreit sind, was der Maßbestimmung unzugänglich ist. Und daher ist dieser mechanische Naturzusammenhang zunächst[369] sicher ein notwendiges und fruchtbares Symbol, das in Quantitäts und Bewegungsverhältnissen den Zusammenhang des gesamten Geschehens in der Natur ausdrückte aber was er mehr sei als dies, darüber kann kein Naturforscher etwas aussagen, will er nicht den Boden der strengen Wissenschaft verlassen.

4. Der Zusammenhang der Bedingungen, welchen die mechanische Naturerklärung aufstellt, kann vorläufig noch nicht an allen Punkten der äußeren Wirklichkeit aufgezeigt werden. Der organische Körper bildet eine solche Grenze der mechanischen Naturerklärung. Der Vitalismus mußte anerkennen, daß die physikalischen und chemischen Gesetze nicht an der Grenze des organischen Körpers wirksam zu sein aufhören. Hat sich aber die Naturforschung das umfassende Problem gestellt, unter Eliminierung der Lebenskraft aus dem mechanischen Naturzusammenhang die Prozesse des Lebens, seine organische Form, seine Bildungsgesetze und seine Entwicklung, endlich die Art der Spezialisierung des Organischen in Typen abzuleiten, so ist dies Problem heute noch ungelöst.

5. Aus der Natur dieses Verfahrens der Aufsuchung von Bedingungen für die äußere Wirklichkeit ergibt sich eine weitere Folge. Man kann sich nicht versichern, ob nicht noch weitere Bedingungen in den Tatsachen versteckt sind, deren Kenntnis eine ganz andere Konstruktion erforderlich machen würde. Ja wenn wir einen weiteren Kreis von Erfahrungen besäßen, so würden vielleicht diese von uns konstruierten Gedankendinge durch solche von einer weiter zurückliegenden, gleichsam mehr primären Beschaffenheit ersetzt werden. Hierauf leitet sogar positiv der noch unerklärte Rest, welcher die Metaphysiker bestimmt hat, von dem Ganzen, von der Idee auszugehen. Denn betrachtet man die Elemente als Urdata, so muß die Betrachtung in einen Abgrund von Bedenken stürzen, daß diese Elemente aufeinander wirken, gemeinsames Verhalten zeigen und vermittels desselben zum Aufbau zweckmäßig sich bewegender Organismen zusammenwirken. Die mechanische Naturerklärung kann die ursprüngliche Anordnung, aus welcher dieser gedankenmäßige Zusammenhang hervorgeht, vorläufig nur als zufällig ansehen. Der Zufall ist aber die Aufhebung der Denknotwendigkeit, welche zu finden der Wille der Erkenntnis sich in der Naturwissenschaft in Bewegung setzt.

6. Die Naturwissenschaft gelangt so nicht zu einem einheitlichen Zusammenhang der Bedingungen des Gegebenen, welchen aufzusuchen sie doch ausgegangen war. Denn die Gesetze der Natur, unter denen alle Stoffelemente gemeinsam stehen, können nicht dadurch erklärt werden, daß sie dem einzelnen Stoffelement als sein[370] Verhalten zugeschrieben werden. Die Analysis ist zu den beiden Endpunkten, dem Atom und dem Gesetz, gelangt, und wie das Atom im naturwissenschaftlichen Denken als Einzelgröße benutzt wird, liegt in ihm nichts, was mit dem System von Gleichförmigkeiten in der Natur in einen Erkenntniszusammenhang gebracht werden könnte. Daß ein Massenteilchen im System der Relationen dasselbe Verhalten als ein anderes zeigt, ist aus seinem Charakter als Einzelgröße nicht erklärlich, ja erscheint von ihm aus als schwer faßbar. Und wie zwischen unveränderlichen Einzelgrößen ein Kausalzusammenhang stattfinden soll, ist nun gar vollständig unvorstellbar. Unser Verstand muß die Welt wie eine Maschine auseinandernehmen, um zu erkennen; er zerlegt sie in Atome; daß aber die Welt ein Ganzes ist, kann er aus diesen Atomen nicht ableiten. Wir ziehen wiederum eine Folgerung aus der geschichtlichen Darlegung. Dieser letzte Befund der Analysis der Natur in der modernen Naturwissenschaft ist demjenigen analog, zu welchem wir die Metaphysik der Natur bei den Griechen gelangen sahen: den substantialen Formen und der Materie. Das Naturgesetz korrespondiert der substantialen Form, das Massenteilchen der Materie. Und zwar stellt sich in diesen isolierten Befunden schließlich nur der Unterschied von Eigenschaften dar, welche für die Einheit des Bewußtseins in Gleichförmigkeiten sich aufschließen, und dem, was ihnen als einzelne Positivität zugrunde liegt, kurz die Natur des Urteils, sonach des Denkens.

So ist selbst für die isolierte Naturbetrachtung der Monismus nur ein Arrangement, in welchem die Beziehung von Eigenschaften und Verhalten auf das, was sich verhält, notwendig ist, da sie aus der Natur des Bewußtseinsphänomens Wirklichkeit richtig geschöpft wird, aber die Herstellung dieser Beziehung bindet nur aneinander, was innerlich nicht zusammengehört: die einzelne Atomgröße und den gedankenmäßigen, gleichförmigen Zusammenhang, der für unser Bewußtsein stets auf eine Einheit zurückweist. Überschreitet jedoch der naturwissenschaftlicher Monismus die Grenzen der Außenwelt und zieht auch das Geistige in den Bereich seiner Erklärung, alsdann hebt die Naturforschung ihre eigene Bedingung und Voraussetzung auf; aus dem Willen der Erkenntnis schöpft sie ihre Kraft, ihre Erklärungen aber können diesen in seiner vollen Realität nur verneinen.

Der Rückstand, der so der wissenschaftlichen Erklärung zurückbleibt, ist tatsächlich in dem Bewußtsein verbunden mit dem ganzen Verhältnis zur Natur, welches in der Totalität unseres geistigen Lebens gegründet ist und aus welchem sich die moderne wissenschaftliche Naturbetrachtung differenziert und verselbständigt hat. Wir haben nachgewiesen, daß in dem Geist von Plato oder Aristoteles, von Augustinus[371] oder Thomas von Aquino diese Differenzierung noch nicht bestand; in ihre Betrachtung der Naturformen war noch das Bewußtsein von Vollkommenheit, von gedankenmäßiger Schönheit des Weltalls untrennbar verwebt. Die Sonderung der mechanischen Naturerklärung aus diesem Zusammenhang des Lebens, in welchem uns die Natur gegeben ist, hat erst den Zweckgedanken aus der Naturwissenschaft ausgestoßen. Er bleibt jedoch in dem Zusammenhang des Lebens, welchem die Natur gegeben ist, enthalten, und wenn man die Teleologie im Sinne der Griechen als dies Bewußtsein von dem gedankenmäßigen, unserem inneren Leben entsprechenden schönen Zusammenhang erkennt, ist diese Idee von Zweckmäßigkeit im Menschengeschlechte unzerstörbar. In den Formen, Gattungen und Arten der Natur bleibt ein Ausdruck dieser immanenten Zweckmäßigkeit enthalten und wird selbst von den Darwinisten nur weiter zurückgeschoben. Auch steht dieses Bewußtsein der Zweckmäßigkeit in einem inneren Verhältnis zu der Erkenntnis der Gedankenmäßigkeit der Natur, kraft welcher in ihr nach Gesetzen Typen hervorgebracht werden. Diese Gedankenmäßigkeit ist aber streng beweisbar. Denn gleichviel wovon unsere Eindrücke Zeichen sind, der Verlauf unseres Naturwissens vermag, die Koexistenz und Sukzession dieser Zeichen, welche in einem festen Verhältnis zu dem im Willen gegebenen anderen stehen, in ein System aufzulösen, welches den Eigenschaften unseres Erkennens entspricht.

Mit der Macht einer unwiderstehlichen Naturerscheinung hat sich zugleich mit der Durchführung der mechanischen Naturerklärung das tiefe Bewußtsein des Lebens in der Natur, wie es in der Totalität unseres eigenen Lebens gegeben ist, in der Poesie ausgesprochen; nicht als eine Art von schönem Schein oder von Form (wie Vertreter der formalen Ästhetik annehmen würden), sondern als gewaltiges Lebensgefühl; zunächst in der Naturempfindung von Rousseau, dessen Lieblingsneigungen naturwissenschaftliche waren, alsdann aber in Goethes Poesie und Naturphilosophie. Dieser bekämpfte mit leidenschaftlichem Schmerz, vergebens, ohne die Hilfsmittel klarer Auseinandersetzung, die sicheren Resultate der Newtonschen mechanischen Naturerklärung, indem er diese als Naturphilosophie betrachtete, nicht als das, was sie war: Entwicklung eines in der Natur gegebenen Teilzusammenhangs als abstraktes Hilfsmittel der Erkenntnis und Benutzung der Natur. Ja selbst Schiller hat der wissenschaftlichen Analysis, welche zerlegt und tötet, die Synthesis künstlerischer Betrachtung gegenübergestellt, als ein Verfahren von einem höheren Grad gleichsam metaphysischer Wahrheit, und hat dementsprechend in seiner Ästhetik die Erfassung des selbständigen Lebens in der Natur dem Künstler zugeschrieben. So ist in dem Differenzierungsprozeß des Seelenlebens und[372] der Gesellschaft das Heilige, Unverletzliche, Allgewaltige, was als Natur unserem Leben tatsächlich gegeben ist, von Dichtern und Künstlern geliebt und dargestellt worden, während es einer wissenschaftlichen Behandlung nicht zugänglich ist. Und hier ist weder der Dichter zu schmähen, der von dem erfüllt ist, was für die Wissenschaft gar nicht da sein kann, noch der Forscher, der von dem nichts weiß, was dem Dichter die glücklichste Wahrheit ist. In der Differenzierung des Lebens der Gesellschaft hat ein System wie die Poesie seine Funktion stets modifiziert. Die Dichtung hat seit der Herstellung der mechanischen Naturauffassung das in sich verschlossene, keiner Erklärung zugängliche große Gefühl des Lebens in der Natur aufrechterhalten, wie sie überall schützt, was erlebt wird, aber nicht begriffen werden kann, daß es nicht in den zerlegenden Operationen der abstrakten Wissenschaft sich verflüchtige. In diesem Sinne ist was Carlyle und Emerson geschrieben haben eine gestaltlose Poesie. Während daher jene populären Darstellungen der Natur, welche in die harten klaren Vorstellungen des das Sinnliche zerlegenden Verstandes ein täuschendes Spiel von innerer Lebendigkeit sentimental hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung sind; während die deutsche Naturphilosophie eine Verwirrung der Naturerkenntnis durch Hineintragung des Geistes und eine Herabminderung des Geistigen durch Versenkung in die Natur war, behält die Dichtung ihre unsterbliche Aufgabe.


Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir alles,

Worum ich bat. Du hast mir nicht umsonst

Dein Angesicht im Feuer zugewendet.

Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,

Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht

Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,

Vergönnest mir in ihre tiefe Brust,

Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.

Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

412

Kepler, Mysterium cosmographicum c. 20.

413

Aus der berühmten allgemeinen Anmerkung zu dem dritten Buche von Newtons mathematischen Prinzipien.

414

Newton, Principia def, VIII: Voces autem attractionis, impulsus vel propensionis cujuscunque in centrum, indifferenter et pro se mutuo promiscue usurpo; has vires non physice, sed mathematice tantum considerando. Unde caveat lector, ne per hujusmodi voces cogitet me speciem vel modum actionis causamve aut rationem physicam alicubi definire vel centris (quae sunt puncta mathematica) vires vere et physice tribuere, si forte aut centra trahere, aut vires centrorum esse dixero.

415

Vgl. Fechner, Über die physikalische und philosophische Atomenlehre. Leipzig 1864.

Quelle:
Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften. Band 1, Leipzig u.a. 1914 ff, S. 359-373.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Einleitung in die Geisteswissenschaften
Gesammelte Schriften, Bd.1, Einleitung in die Geisteswissenschaften (Wilhelm Dilthey. Gesammelte Schriften)
Wilhelm Dilthey Gesammelte Schriften, Bd.18: Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte: Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften
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Müllner, Adolph

Die Schuld. Trauerspiel in vier Akten

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Ein lange zurückliegender Jagdunfall, zwei Brüder und eine verheiratete Frau irgendwo an der skandinavischen Nordseeküste. Aus diesen Zutaten entwirft Adolf Müllner einen Enthüllungsprozess, der ein Verbrechen aufklärt und am selben Tag sühnt. "Die Schuld", 1813 am Wiener Burgtheater uraufgeführt, war der große Durchbruch des Autors und verhalf schließlich dem ganzen Genre der Schicksalstragödie zu ungeheurer Popularität.

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

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