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Die Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse unter Merowingern und Karolingern

[474] Die Markverfassung blieb bis ans Ende des Mittelalters die Grundlage fast des gesamten Lebens der deutschen Nation. Nach anderthalbtausendjährigem Bestehn ging sie endlich allmählich zugrund auf rein ökonomischem Wege. Sie erlag vor den wirtschaftlichen Fortschritten, denen sie nicht länger entsprach. Wir werden ihren Verfall und schließlichen Untergang später zu untersuchen haben; wir werden finden, daß Reste von ihr noch heute fortbestehn.

Wenn sie aber so lange sich erhielt, so geschah dies auf Kosten ihrer politischen Bedeutung. Sie war jahrhundertelang die Form gewesen, in der die Freiheit der germanischen Stämme sich verkörpert hatte. Sie wurde jetzt die Grundlage tausendjähriger Volksknechtschaft. Wie war dies möglich?

Die älteste Genossenschaft, sahen wir, umfaßte das ganze Volk. Ihm gehörte ursprünglich alles in Besitz genommene Land. Später wurde die, unter sich näher verwandte, Gesamtheit der Bewohner eines Gaus Besitzer des von ihnen besiedelten Gebiets, und dem Volk als solchem blieb nur das Verfügungsrecht über die noch übrigen herrenlosen Striche. Die Gaubewohnerschaft trat wieder an die einzelnen Dorfgenossen schaften – ebenfalls aus näheren Geschlechtsverwandten gebildet – ihre Feld- und Waldmarken ab, wobei dann wieder das überschüssige Land dem Gau verblieb. Ebenso die Stammdörfer bei der Aussendung neuer, aus der alten Mark des Urdorfs mit Land ausgestatteter Dorfkolonien.

Der Blutsverband, auf dem hier wie überall die ganze Volksverfassung beruhte, kam mit der Vermehrung der Volkszahl und der Weiterentwicklung des Volks mehr und mehr in Vergessenheit.

Dies war der Fall zuerst mit Bezug auf die Gesamtheit des Volks. Die gemeinsame Abstammung wurde immer weniger als wirkliche Blutsverwandtschaft empfunden; die Erinnerung daran wurde immer schwächer,[474] es blieb nur noch die gemeinsame Geschichte und Mundart. Dagegen erhielt sich das Bewußtsein des Blutsverbandes der Gaubewohner, wie natürlich, länger. Das Volk reduzierte sich damit auf eine mehr oder minder feste Konföderation von Gauen. In diesem Zustand scheinen die Deutschen zur Zeit der Völkerwanderung gewesen zu sein. Von den Alamannen erzählt dies Ammianus Marcellinus ausdrücklich; In den Volksrechten blickt es noch überall durch; bei den Sachsen bestand diese Entwicklungsstufe noch zur Zeit Karls des Großen, bei den Friesen bis zum Untergang der friesischen Freiheit.

Aber die Wanderung auf römischen Boden brach auch den Blutsverband des Gaues und mußte ihn brechen. Lag auch die Ansiedlung nach Stämmen und Geschlechtern in der Absicht, so war sie doch nicht durchzuführen. Die langen Züge hatten nicht nur Stämme und Geschlechter, sie hatten selbst ganze Völker durcheinandergeworfen. Nur mühsam ließ sich noch der Blutsverband der einzelnen Dorfgenossenschaften zusammenhalten; und diese waren damit die wirklichen politischen Einheiten geworden, aus denen das Volk sich zusammensetzte. Die neuen Gaue auf römischem Gebiet waren schon von vornherein mehr oder weniger willkürliche – oder durch vorgefundne Verhältnisse bedingte – Gerichtsbezirke oder wurden es doch sehr bald.

Damit war das Volk aufgelöst in einen Verband kleiner Dorfgenossenschaften, unter denen kein oder doch fast kein ökonomischer Zusammenhang bestand, da ja jede Mark sich selbst genügte. Ihre eignen Bedürfnisse selbst produzierte und außerdem die Produkte der einzelnen benachbarten Marken fast genau dieselben waren. Austausch zwischen ihnen war also ziemlich unmöglich. Und eine solche Zusammensetzung des Volks aus lauter kleinen Genossenschaften, die zwar gleiche, aber ebendeshalb keine gemeinsamen ökonomischen Interessen haben, macht eine nicht aus ihnen hervorgegangene, ihnen fremd gegenüberstehende, sie mehr und mehr ausbeutende Staatsgewalt zur Bedingung der Fortexistenz der Nation.

Die Form dieser Staatsgewalt ist wieder bedingt durch die Form, in der sich die Genossenschaften zur Zeit befinden. Da, wo – wie bei den arischen Völkern Asiens und bei den Russen – sie entsteht zu einer Zeit, wo die Gemeinde den Acker noch für Gesamtrechnung bestellt oder doch den einzelnen Familien nur auf Zeit zuweist, wo also noch kein Privateigentum am Boden sich gebildet hat, tritt die Staatsgewalt als Despotismus auf. In den von den Deutschen eroberten römischen Ländern finden wir dagegen, wie wir sahen, die einzelnen Anteile an Acker und Wiese bereits als Allod, als freies, nur den gemeinen Markverpflichtungen unterworfenes Eigentum[475] der Besitzer. Wir haben nun zu untersuchen, wie auf Grundlage dieses Allods eine Gesellschafts- und Staatsverfassung entstand, die – mit der gewöhnlichen Ironie der Geschichte – schließlich den Staat auflöste und in ihrer klassischen Form alles Allod vernichtete.

Mit dem Allod war nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit gegeben, daß die ursprüngliche Gleichheit des Grundbesitzes sich in ihr Gegenteil verkehrte. Von dem Augenblick seiner Herstellung auf ehemals römischem Boden wurde das deutsche Allod, was das römische Grundeigentum, das neben ihm lag, schon lange gewesen war – Ware. Und es ist ein unerbittliches Gesetz aller auf Warenproduktion und Warenaustausch beruhenden Gesellschaften, daß in ihnen die Verteilung des Besitzes immer ungleicher, der Gegensatz von Reichtum und Armut immer größer, der Besitz immer mehr in wenigen Händen konzentriert wird; ein Gesetz, das in der modernen kapitalistischen Produktion zwar seine volle Entwicklung erhält, aber keineswegs erst in ihr überhaupt zur Wirkung kommt. Von dem Augenblick also, wo Allod, frei veräußerliches Grundeigentum, Grundeigentum als Ware entstand, von dem Augenblick war also die Entstehung des großen Grundeigentums nur eine Frage der Zeit.

In der Epoche aber, mit der wir uns beschäftigen, waren Ackerbau und Viehzucht die entscheidenden Produktionszweige. Der Grundbesitz und seine Produkte machten bei weitem den größten Teil des damaligen Reichtums aus. Was sonst von beweglichen Reichtümern existierte, folgte der Natur der Sache nach dem Grundbesitz, fand sich mehr und mehr in denselben Händen zusammen wie dieser. Industrie und Handel waren schon unter dem römischen Verfall heruntergebracht, die deutsche Invasion vernichtete sie fast vollständig. Was davon noch blieb, wurde meist von Unfreien und Fremden betrieben und blieb verachtete Beschäftigung. Die herrschende Klasse, die hier, bei aufkommender Ungleichheit des Besitzes, sich allmählich bildete, konnte nur eine Klasse großer Grundbesitzer sein, ihre politische Herrschaftsform die einer Aristokratie. Wenn wir also sehn werden, wie bei der Entstehung und Ausbildung dieser Klasse vielfach, ja scheinbar vorwiegend, politische Hebel, Gewalt und Betrug wirksam sind, so dürfen wir darüber nicht vergessen, daß diese politischen Hebel nur dienen zur Beförderung und Beschleunigung eines notwendigen ökonomischen Vorgangs. Wir werden freilich ebenso häufig sehn, wie diese politischen Hebel die ökonomische Entwicklung hemmen; dies geschieht oft genug und jedesmal da, wo die verschiednen Beteiligten sie in entgegengesetzten oder einander durchkreuzenden Richtungen ansetzen.

Wie entstand nun diese Klasse großer Grundbesitzer?[476]

Fürs erste wissen wir, daß sich auch nach der fränkischen Eroberung in Gallien eine Menge römischer Großgrundbesitzer forterhielten, die ihre Güter meist durch freie oder hörige Hintersassen gegen Zins (Canon) bebauen ließen.

Dann aber haben wir gesehn, wie das Königtum durch die Eroberungskriege bei allen ausgezogenen Deutschen eine ständige Einrichtung und wirkliche Macht geworden, wie es das alte Volksland in königliche Domäne verwandelt und ebenso die römischen Staatsländereien seinem Besitz einverleibt hatte. Während der vielen Bürgerkriege, die aus den Teilungen des Reichs entsprangen, vermehrte sich dies Krongut noch fortwährend durch massenhafte Einziehungen der Güter sogenannter Rebellen. Aber so rasch es wuchs, so rasch wurde es verschleudert in Schenkungen an die Kirche wie an Privatleute, Franken und Romanen, Gefolgsleute (Antrustionen) oder sonstige Günstlinge des Königs. Als während und durch die Bürgerkriege sich bereits die Anfänge einer herrschenden Klasse von Großen und Mächtigen, Grundbesitzern, Beamten und Heerführern gebildet, wurde auch ihr Beistand von den Teilfürsten durch Landschenkungen erkauft. Daß dies alles in weitaus den meisten Fällen wirkliche Schenkungen, Übertragungen zu freiem, erblichem und veräußerlichem Eigentum waren, bis mit Karl Martell hierin eine Änderung eintrat, hat Roth unwiderleglich bewiesen1.

Als Karl das Staatsruder ergriff, war die Macht der Könige vollständig gebrochen, aber die der Hausmeier darum noch lange nicht an ihre Stelle gesetzt. Die unter den Merowingern auf Kosten der Krone geschaffene Klasse von Großen begünstigte auf jede Weise den Ruin der königlichen Gewalt, aber keineswegs, um sich den Hausmeiern, ihren Standesgenossen, zu unterwerfen. Im Gegenteil, ganz Gallien war in der Hand, wie Einhard sagt, dieser »Tyrannen, die überall die Herrschaft in Anspruch nahmen« (tyrannos per totam Galliam dominatum sibi vindicantes). Neben den weltlichen Großen geschah dies auch von den Bischöfen, die in vielen Gegenden sich die Herrschaft über umliegende Grafschaften und Herzogtümer angeeignet hatten und durch Immunität wie durch feste Organisation der Kirche geschützt wurden. Dem innern Zerfall des Reichs folgten Einfälle des äußern Feindes; die Sachsen drangen in das rheinische Franken, die Avaren nach Bayern, die Araber über die Pyrenäen nach Aquitanien. In solcher Lage konnte einfache Niederwerfung der inneren, Vertreibung der[477] äußern Feinde nicht auf die Dauer helfen; es mußte ein Weg gefunden werden, die gedemütigten Großen oder die von Karl an ihre Stelle gesetzten Nachfolger fester an die Krone zu binden. Und da ihre bisherige Macht auf dem Großgrundbesitz beruht hatte, war erste Bedingung hierzu eine totale Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse. Diese Umwälzung ist das Hauptwerk der karolingischen Dynastie. Sie zeichnet sich wieder dadurch aus, daß das Mittel, gewählt, das Reich zu einigen, die Großen auf immer an die Krone zu binden und diese dadurch zu stärken, schließlich bewirkt die vollständigste Machtlosigkeit der Krone, die Unabhängigkeit der Großen und den Zerfall des Reichs.

Um zu verstehn, wie Karl dazu kam, dies Mittel zu wählen, müssen wir vorher die Besitzverhältnisse der Kirche zu jener Zeit untersuchen, die ohnehin als wesentliches Element der damaligen Agrarverhältnisse hier nicht zu übergehn sind.

Schon zur Römerzeit hatte die Kirche in Gallien nicht unbedeutenden Grundbesitz, dessen Erträge durch große Privilegien in Beziehung auf Steuern und andre Leistungen noch gesteigert wurden. Nach der Bekehrung der Franken zum Christentum jedoch brach erst die goldene Zeit für die gallische Kirche an. Die Könige wetteiferten unter sich, wer der Kirche die meisten Schenkungen an Land, Geld, Kleinodien, Kirchengerät etc. machen würde. Schon Chilperich pflegte (Gregor von Tours) zu sagen:

»Seht, wie arm unser Fiskus geworden, seht, wie alle unsere Reichtümer der Kirche überwiesen sind.«

Unter Guntram, dem Liebling und Knecht der Pfaffen, hatten die Schenkungen keine Grenzen mehr. So floß dann der eingezogne Grundbesitz freier Franken, die der Rebellion bezichtigt, großenteils in den Besitz der Kirche.

Wie die Könige, so das Volk. Kleine wie Große konnten der Kirche nicht genug schenken.

»Eine wunderbare Heilung von einem wirklichen oder vermeinten Übel, die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches, z.B. die Geburt eines Sohnes, die Rettung aus einer Gefahr, trug der Kirche, deren Heiliger sich hülfreich gezeigt hatte, eine Schenkung ein. Es wurde für um so notwendiger erachtet, die Hand immer offenzuhalten, als bei Hohen und Niederen die Meinung verbreitet war, daß Schenkungen an die Kirche Vergebung der Sünden bewirkten.« (Roth, S. 250.)

Dazu kam die Immunität, die das Eigentum der Kirche vor Vergewaltigung schützte zu einer Zeit unaufhörlicher Bürgerkriege, Plünderungen, Konfiskationen. Mancher kleine Mann fand es angebracht, sein Eigentum der Kirche abzutreten, wenn ihm dessen Nießbrauch gegen mäßigen Zins verblieb.[478]

Alles das indes genügte den frommen Pfaffen noch nicht. Durch Drohungen mit ewiger Höllenstrafe erpreßten sie förmlich immer ausgedehntere Schenkungen, so daß Karl der Große noch 811 im Aachener Kapitular ihnen dies vorwirft und außerdem, daß sie die Leute

»zu Meineid und falschem Zeugnis verführen, um euren Reichtum (der Bischöfe und Äbte) zu mehren«.

Ungesetzliche Schenkungen wurden erschlichen im Vertrauen darauf, – daß die Kirche, außer ihrem privilegierten Gerichtsstand, noch Mittel genug besitze, der Justiz eine Nase zu drehn. Es verging im 6. und 7. Jahrhundert kaum ein gallisches Konzil, das nicht alle und jede Anfechtung von Schenkungen an die Kirche mit Kirchenbann bedrohte. Selbst formell ungültige Schenkungen sollten auf diesem Wege in gültige verwandelt, die Privatschulden einzelner Geistlichen vor Eintreibung geschützt werden.

»Wirklich verächtlich sind die Mittel, die wir anwenden sehn, um die Lust zu Schenkungen immer von neuem zu erwecken. Zogen die Schilderungen der himmlischen Seligkeiten und höllischen Qualen nicht mehr, so ließ man aus entfernten Gegenden Reliquien kommen, hielt Translationes und baute neue Kirchen; es war dies im 9. Jahrhundert ein förmlicher Geschäftszweig.« (Roth, S. 254.) »Als die Abgesandten des Klosters St. Medard von Soissons in Rom mit großer Mühe den Körper des Heiligen Sebastian erbettelt und den des Gregorius dazu gestohlen hatten und beide nun in dem Kloster niedergelegt waren, liefen so viele Leute zu den neuen Heiligen, daß die Gegend wie mit Heuschrecken besät war und die Hülfesuchenden nicht einzeln, sondern in ganzen Herden geheilt wurden. Die Folge war, daß die Mönche das Geld in Scheffeln maßen, deren sie 85 zahlten, und daß sich ihr Vorrat an Gold auf 900 Pfund belief.« (S. 255.)

Betrug, Taschenspielerstücke, Erscheinungen Verstorbener, besonders Heiliger, dienten zur Erschwindelung von Reichtümern für die Kirche, endlich aber auch und hauptsächlich – Urkundenfälschung. Diese wurde – wir lassen wieder Roth sprechen –

»von vielen Geistlichen in großartigem Maßstab betrieben... es begann dies Geschäft schon sehr früh... in welcher Ausdehnung dies Gewerbe betrieben wurde, ergibt sich aus der großen Zahl gefälschter Dokumente, welche unsre Sammlungen enthalten. Unter den 360 merowingischen Diplomen bei Bréquigny sind ungefähr 130 entschieden falsch... Das falsche Testament des Remigius wurde schon von Hinkmar von Reims dazu angewandt, seiner Kirche eine Reihe von Besitzungen zu verschaffen, von denen das echte nichts sagt, obwohl das letztere nie verloren war und Hinkmar die Unechtheit des ersteren recht gut kannte.« Selbst Papst Johann VIII. suchte »den Besitz des Klosters St. Denis bei Paris durch eine ihm als falsch bekannte Urkunde zu erwerben«. (Roth, S. 256 ff.)[479]

So kann es uns nicht wundern, wenn der durch Schenkung, Erpressung, Erschleichung, Prellerei, Fälschung und andre Zuchthausindustrien zusammengeraffte Grundbesitz der Kirche in wenigen Jahrhunderten ganz kolossale Verhältnisse annahm. Das Kloster Saint-Germain-des-Prés, jetzt im Umfang von Paris, hatte zu Anfang des 9. Jahrhunderts einen Grundbesitz von 8000 Mansi oder Hufen, deren Flächeninhalt Guérard auf 429987 Hektar mit einem Jahresertrag von 1 Mill. frs. = 800000 Mark berechnet. Legen wir denselben Durchschnitt von 54 Hektar Fläche und 125 frs. = 100 Mark Einkommen für die Hufe zugrunde, so hatten um dieselbe Zeit die Klöster St. Denis, Luxeuil, St. Martin von Tours jedes bei 15000 Mansi einen Grundbesitz von 810000 Hektar und ein Einkommen von 11/2 Mill. Mark. Und dies war nach der Konfiskation des Kirchenguts durch Pippin den Kleinen! Das gesamte Kirchengut in Gallien zu Ende des 7. Jahrhunderts schätzt Roth (S. 249) eher über, als unter ein Drittel der Gesamtfläche.

Diese ungeheuren Gütermassen wurden bebaut teils von unfreien, teils aber auch von freien Hintersassen der Kirche. Von den Unfreien waren die Sklaven (servi) ursprünglich ungemessenen Leistungen an ihre Herrn unterworfen, da sie keine Rechtspersonen waren; es scheint aber auch hier für ansässige Sklaven bald ein gewohnheitsmäßiges Maß von Abgaben und Diensten hergestellt. Die Leistungen der übrigen beiden unfreien Klassen, der Kolonen und Liten (über deren rechtlichen Unterschied zu jener Zeit keine Nachricht vorliegt), waren dagegen festgesetzt und bestanden in gewissen Hand- und Spanndiensten sowie in einem bestimmten Teil des Gutsertrags. Es waren dies Abhängigkeitsverhältnisse längst hergebrachter Art. Dagegen war es für Deutsche etwas Neues, daß freie Männer auf anderm als gemeinem oder ihrem eignen Boden saßen. Freilich fanden die Deutschen in Gallien und überhaupt im Gebiet des römischen Rechts oft genug freie Römer als Pächter; daß sie aber selbst nicht Pächter zu werden brauchten, sondern auf eignem Landsitzen konnten, dafür war bei der Landnahme gesorgt. Ehe also freie Franken Hintersassen irgend jemandes werden konnten, mußten sie ihr bei der Landnahme erhaltenes Allod auf irgendeine Weise verloren, mußte sich eine eigne Klasse landloser freier Franken gebildet haben.

Diese Klasse bildete sich durch die beginnende Konzentration des Grundbesitzes, durch dieselben Ursachen, aus denen diese hervorging: einerseits durch die Bürgerkriege und Konfiskationen, andrerseits durch die großenteils dem Drang der Zeitumstände, dem Verlangen nach Sicherheit geschuldeten Übertragungen von Land an die Kirche. Und die Kirche fand[480] bald noch ein besonderes Mittel, solche Übertragungen zu befördern, indem sie dem Schenker nicht nur sein Gut zu Nießbrauch gegen Zins ließ, sondern ihm auch noch ein Stück Kirchengut dazu in Zins gab. Diese Schenkungen geschahen nämlich in doppelter Form. Entweder behielt der Schenker sich den Nießbrauch des Guts auf Lebenszeit vor, so daß es erst nach seinem Tode ins Eigentum der Kirche überging (donatio post obitum); in diesem Fall war es üblich und wurde später in den Kapitularien der Könige ausdrücklich festgesetzt, daß der Schenker von der Kirche das Doppelte des geschenkten Guts zu Zins verliehen erhalte. Oder die Schenkung wurde gleich wirksam (cessio a die praesente), und dann erhielt der Schenker das Dreifache an Kirchengut nebst seinem eignen Gut zu Zins vermittelst einer sog. Prekaria, eines von der Kirche ausgestellten Dokuments, das ihm diese Grundstücke, meist auf Lebenszeit, manchmal aber auch auf längere oder kürzere Zeit, übertrug. Die Klasse landloser Freien einmal geschaffen, traten auch manche von diesen in ein solches Verhältnis; die ihnen bewilligten Prekarien scheinen anfangs meist auf 5 Jahre ausgestellt gewesen zu sein, wurden aber auch hier bald lebenslänglich.

Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß schon zur Merowingerzeit sich auf den Gütern der weltlichen Großen ganz ähnliche Verhältnisse herausbildeten wie auf dem Kirchengut, daß also auch dort neben unfreien freie Hintersassen zu Zins angesiedelt waren. Sie müssen sogar unter Karl Martell schon sehr zahlreich gewesen sein, weil sonst die durch ihn begonnene, von seinem Sohn und Enkel vollendete Umwälzung der Grundbesitzverhältnisse wenigstens nach einer Seite hin unerklärlich blieb.

Diese Umwälzung beruht in ihrer Grundlage auf zwei neuen Einrichtungen. Erstens wurde, um die Großen des Reichs an die Krone zu fesseln, von nun an das Krongut ihnen in der Regel nicht mehr geschenkt, sondern nur noch lebenslänglich, als »beneficium«, verliehen, und dies unter bestimmten, bei Strafe der Einziehung einzuhaltenden Bedingungen. Sie wurden auf diese Weise selbst Hintersassen der Krone. Und zweitens, um die Gestellung der freien Hintersassen der Großen zum Kriegsdienst zu sichern, wurde diesen ein Teil der Amtsbefugnisse des Gaugrafen über die auf ihren Gütern angesiedelten Freien übertragen, sie zu »Senioren« über diese ernannt. Von diesen beiden Änderungen haben wir hier vorläufig nur die erste zu betrachten.

Bei der Unterwerfung der rebellischen kleinen »Tyrannen« wird Karl – die Nachrichten fehlen – nach alter Sitte ihren Grundbesitz eingezogen, ihnen aber, soweit er sie nachher in Amt und Würden wieder einsetzte, denselben ganz oder teilweise als Benefizium neu verliehen haben. Mit dem[481] Kirchengut der widerspenstigen Bischöfe wagte er noch nicht so zu verfahren; er entsetzte sie und gab ihre Stellen an ihm ergebne Leute, von denen freilich mancher vom Geistlichen nichts als die Tonsur hatte (sola tonsura clericus). Diese neuen Bischöfe und Äbte fingen jetzt an, auf sein Geheiß große Striche des Kirchenguts an Laien zu Prekarien zu übertragen; das war schon früher nicht ohne Beispiel, geschah aber jetzt massenhaft. Sein Sohn Pippin ging bedeutend weiter. Die Kirche war verfallen, die Geistlichkeit verachtet, der Papst von den Langobarden bedrängt, allein auf die Hülfe Pippins angewiesen. Dieser half dem Papst, begünstigte die Ausdehnung seiner kirchlichen Herrschaft, hielt ihm den Steigbügel. Aber er machte sich bezahlt. Indem er den weitaus größten Teil des Kirchenguts dem Krongut einverleibte und den Bischöfen und Klöstern nur das zu ihrem Unterhalt Nötige ließ. Diese erste Säkularisation auf großem Maßstab ließ sich die Kirche widerstandslos gefallen, die Synode von Lestines bestätigte sie, zwar mit beschränkender Klausel, die indes nie eingehalten wurde. Diese gewaltige Gütermasse stellte das erschöpfte Krongut wieder auf einen respektablen Fuß und diente großenteils zu weiteren Verleihungen, die tatsächlich bald die Form gewöhnlicher Benefizien annahmen.

Fügen wir hier ein, daß die Kirche sich recht bald von diesem Schlag zu erholen wußte. Kaum war die Auseinandersetzung mit Pippin erfolgt, so begannen die braven Männer Gottes die alten Praktiken wieder. Die Schenkungen regneten wieder von allen Seiten, die kleinen freien Bauern waren fortwährend in derselben schlimmen Lage zwischen Hammer und Amboß wie seit 200 Jahren; unter Karl dem Großen und seinen Nachfolgern ging es ihnen noch weit schlechter, und viele begaben sich mit Haus und Hof unter den Schutz des Krummstabs. Die Könige gaben bevorzugten Klöstern einen Teil des Raubs zurück, andern, besonders in Deutschland, schenkten sie enorme Striche Kronland; unter Ludwig dem Frommen schienen die gesegneten Zeiten Guntrams für die Kirche wiedergekehrt. Die Archive der Klöster sind besonders reich an Schenkungen aus dem neunten Jahrhundert.

Das Benefizium, diese neue Institution, die wir jetzt näher zu untersuchen haben, war noch nicht das spätere Lehen, wohl aber sein Keim. Es war von vornherein übertragen für die gemeinsame Lebenszeit sowohl des Verleihers wie des Empfängers. Starb der eine oder der andre, so fiel es dem Eigentümer oder dessen Erben wieder zu. Zur Erneuerung des bisherigen Verhältnisses mußte eine neue Übertragung an den Empfänger oder dessen Erben stattfinden. Das Benefizium war also. In der späteren Ausdrucksweise, dem Thronfall wie dem Heimfall unterworfen. Der Thronfall kam bald[482] außer Anwendung; die großen Benefiziare wurden eben mächtiger als der König. Der Heimfall führte schon früh nicht selten die Weiterverleihung des Guts an den Erben des vorigen Benefiziars mit sich. Ein Gut Patriciacum (Percy) bei Autun, von Karl Martell dem Hildebrannus als Benefiz verliehen, blieb in der Familie von Vater auf Sohn durch vier Generationen, bis der König es 839 dem Bruder des vierten Benefiziars als volles Eigentum schenkt. Andre Beispiele sind seit Mitte des 8. Jahrhunderts nicht selten.

Das Benefizium konnte vom Verleiher eingezogen werden in allen Fällen, wo überhaupt Vermögenskonfiskation verwirkt war. Und diese Fälle gab es auch unter den Karolingern genug und übergenug. Die Aufstände in Alamannien unter Pippin dem Kleinen, die Verschwörung der Thüringer, die wiederholten Aufstände der Sachsen führten zu immer neuen Einziehungen, sei es von freiem Bauernland, sei es von Gütern und Benefizien der Großen. Dasselbe war der Fall, allen entgegenstehenden Vertragsbestimmungen zum Trotz, während der innern Kriege unter Ludwig dem Frommen und seinen Söhnen. Auch gewisse nichtpolitische Verbrechen zogen Konfiskationen nach sich.

Ferner konnten die Benefizien von der Krone eingezogen werden, wenn der Benefiziar seine allgemeinen Untertanenpflichten vernachlässigte, z.B. den Räuber aus der Immunität nicht ausliefert, seinen Harnisch nicht zum Feldzug bringt, königliche Briefe nicht respektiert etc.

Dann aber waren die Benefizien übertragen unter besonderen Bedingungen, deren Bruch die Einziehung nach sich zog, von der dann selbstredend das übrige Vermögen des Benefiziars nicht betroffen wurde. So z.B., wenn ehemalige Kirchengüter verliehen waren und der Benefiziar vernachlässigte, die darauf haftenden Abgaben an die Kirche (nonae et decimae) zu entrichten. So, wenn er das Gut verkommen ließ, in welchem Fall gewöhnlich erst ein einjähriger Warnungstermin gesetzt wurde, damit der Benefiziar sich durch Aufbesserung vor der sonst eintretenden Konfiskation schützen könne etc. Ferner konnte auch die Übertragung des Guts an bestimmte Dienstverrichtungen geknüpft sein und wurde es in der Tat mehr und mehr in dem Maß, als sich das Benefizium zum eigentlichen Lehen fortentwickelte. Aber ursprünglich war dies durchaus nicht nötig; am wenigsten, was Kriegsdienst betrifft; eine Menge Benefizien wurde an niedre Geistliche, an Mönche, an geistliche und weltliche Frauen verliehn.

Endlich ist keineswegs ausgeschlossen, daß die Krone anfangs auch Ländereien auf Widerruf oder auf bestimmte Zeit, also als Prekarien, verliehen habe. Einzelne Nachrichten und der Vorgang der Kirche machen es[483] wahrscheinlich. Doch hörte dies jedenfalls bald auf, da die Verleihung auf Benefiziarbedingungen im 9. Jahrhundert die allgemeine wurde.

Die Kirche nämlich – und von den großen Grundbesitzern und Benefiziaren müssen wir dasselbe annehmen – die Kirche, die früher ihren freien Hintersassen Güter meist nur als Prekarien auf Zeit übertragen hatte, mußte dem von der Krone gegebnen Impuls folgen. Nicht nur fing sie an, auch Benefizien zu verleihen, diese Verleihungsweise wurde sogar so vorherrschend, daß die schon bestehenden Prekarien lebenslänglich werden, unmerklich die Natur des Benefiziums annehmen, bis im 9. Jahrhundert die erstere fast ganz in das letztere aufgeht. In der letzten Hälfte des 9. Jahrhunderts müssen die Benefiziare der Kirche und ebenso die der weltlichen Großen schon eine wichtige Stellung im Staat angenommen haben; manche davon müssen Leute von bedeutendem Besitz, Gründer des späteren niederen Adels gewesen sein. Sonst hätte sich Karl der Kahle wohl nicht so lebhaft derer angenommen, denen Hinkmar von Laon ihre Benefizien ohne Grund genommen hatte.

Wir sehn, das Benefizium hat schon manche Seiten, die sich im entwickelten Lehen wiederfinden. Beiden ist gemeinsam Thronfall wie Heimfall. Wie das Lehen ist das Benefizium nur unter bestimmten Bedingungen der Einziehung unterworfen. In der durch die Benefizien geschaffenen gesellschaftlichen Hierarchie, die von der Krone durch die großen Benefiziare – Vorgänger der Reichsfürsten – zu den mittleren Benefiziaren – dem späteren Adel – und von diesen zu freien und unfreien, weitaus größten Teils im Markverband lebenden Bauern hinabsteigt, sehn wir die Grundlage der späteren geschlossenen Feudalhierarchie. Wenn das spätere Lehnsgut unter allen Umständen ein Dienstgut ist und zum Kriegsdienst für den Lehnsherrn verpflichtet, so ist letzteres zwar beim Benefizium noch nicht der Fall und ersteres durchaus nicht notwendig. Aber die Tendenz des Benefiziums, Dienstgut zu werden, ist bereits unverkennbar vorhanden und erhält im 9. Jahrhundert mehr und mehr Spielraum; und in demselben Maß, wie sie sich frei entfaltet, entwickelt sich auch das Benefizium zum Lehen.

Bei dieser Entwicklung wirkt aber noch ein zweiter Hebel mit: die Veränderung, die Gau- und Heeresverfassung erst unter dem Einfluß des großen Grundeigentums erfuhr und später unter dem der großen Benefizien, in die das frühere große Grundeigentum sich mehr und mehr verwandelt hatte infolge der unaufhörlichen inneren Kriege und der damit verknüpften Konfiskationen und Wiederverleihungen.

Es ist begreiflich, daß in diesem Kapitel die Rede ist nur von dem Benefizium in seiner reinen, klassischen Gestalt, in der es allerdings nur[484] eine verschwindende, nicht einmal überall gleichzeitig auftretende Form war. Aber solche historische Erscheinungsformen ökonomischer Verhältnisse versteht man nur, wenn man sie in dieser ihrer Reinheit erfaßt, und diese klassische Gestalt des Benefiziums aus all den wirren Anhängseln herausgeschält zu haben, ist eins der Hauptverdienste von Roth.

1

P. Roth, »Geschichte des Beneficialwesens«, Erlangen 1850. Eins der besten Bücher der vormaurerschen Zeit, dem ich in diesem Kapitel manches entlehne.

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 19, S. 474-485.
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