XII. Dialektik. Quantität und Qualität

[111] »Der erste und wichtigste Satz über die logischen Grundeigenschaften des Seins bezieht sich auf den Ausschluß des Widerspruchs. Das Widersprechende ist eine Kategorie, die nur der Gedankenkombination, aber keiner Wirklichkeit angehören kann. In den Dingen sind keine Widersprüche, oder, mit andern Worten, der real gesetzte Widerspruch ist selbst der Gipfelpunkt des Widersinns... Der Antagonismus von Kräften, die sich in entgegengesetzter Richtung einander messen, ist sogar die Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen. Dieser Widerstreit der Kräfterichtungen der Elemente und der Individuen fällt aber nicht im entferntesten mit dem Gedanken von Widerspruchsabsurditäten zusammen... Hier können wir zufrieden sein, die Nebel, die aus vermeintlichen Mysterien der Logik aufzusteigen pflegen, durch ein klares Bild von der wirklichen Absurdität des realen Widerspruchs aufgelöst, und die Nutzlosigkeit des Weihrauchs dargetan zu haben, welchen man für die der antagonistischen Weltschematik untergeschobne und recht plump geschnitzte Holzpuppe von Widerspruchsdialektik hier und da verschwendet hat.«

Dies ist so ziemlich alles, was in dem »Kursus der Philosophie« über Dialektik gesagt wird. In der »Kritischen Geschichte« dagegen wird die Widerspruchsdialektik, und mit ihr namentlich Hegel, ganz anders mitgenommen.

»Das Widersprechende ist nämlich nach der Hegelschen Logik oder vielmehr Logoslehre nicht etwa in dem seiner Natur nach nicht anders als subjektiv und bewußt vorzustellenden Denken, sondern in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen, so daß der Widersinn nicht eine unmögliche Kombination des Gedankens bleibt, sondern eine tatsächliche Macht wird. Die Wirklichkeit des Absurden ist der erste Glaubensartikel der Hegelschen Einheit von Logik und Unlogik... Je widersprechender, desto wahrer, oder mit andern Worten: je absurder, desto glaublicher, diese nicht einmal neu erfundne, sondern der Offenbarungstheologie und der Mystik entlehnte Maxime ist der nackte Ausdruck des sogenannten dialektischen Prinzips.«

Der Gedankeninhalt der beiden angeführten Stellen faßt sich in dem Satz zusammen, daß Widerspruch = Widersinn ist, und daher in der wirklichen Welt nicht vorkommen kann. Dieser Satz mag für Leute von sonst ziemlich gesundem Menschenverstand dieselbe selbstverständliche Geltung haben wie der, daß gerade nicht krumm und krumm nicht gerade sein kann. Aber die Differentialrechnung setzt, ungeachtet aller Proteste des gesunden Menschenverstandes, Gerade und Krumm unter gewissen Umständen dennoch gleich und erreicht damit Erfolge, die der auf den Widersinn der Identität von Gerade und Krumm sich steifende gesunde Menschenverstand nie fertigbringt. Und nach der bedeutenden Rolle, die die sogenannte Widerspruchsdialektik in der Philosophie von den ältesten Griechen an bis jetzt gespielt hat, wäre selbst ein stärkerer Gegner als[111] Herr Dühring verpflichtet gewesen, ihr mit andern Argumenten entgegenzutreten, als mit Einer Behauptung und vielen Schimpfwörtern.

Solange wir die Dinge als ruhende und leblose, jedes für sich, neben- und nacheinander, betrachten, stoßen wir allerdings auf keine Widersprüche an ihnen. Wir finden da gewisse Eigenschaften, die teils gemeinsam, teils verschieden, ja einander widersprechend, aber in diesem Fall auf verschiedne Dinge verteilt sind und also keinen Widerspruch in sich enthalten. Soweit dies Gebiet der Betrachtung ausreicht, soweit kommen wir auch mit der gewöhnlichen, metaphysischen Denkweise aus. Aber ganz anders, sobald wir die Dinge in ihrer Bewegung, ihrer Veränderung, ihrem Leben, in ihrer wechselseitigen Einwirkung aufeinander betrachten. Da geraten wir sofort in Widersprüche. Die Bewegung selbst ist ein Widerspruch; sogar schon die einfache mechanische Ortsbewegung kann sich nur dadurch vollziehn, daß ein Körper in einem und demselben Zeitmoment an einem Ort und zugleich an einem andern Ort, an einem und demselben Ort und nicht an ihm ist. Und die fortwährende Setzung und gleichzeitige Lösung dieses Widerspruchs ist eben die Bewegung.

Hier haben wir also einen Widerspruch, der »in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen ist«. Und was sagt Herr Dühring dazu? Er behauptet,

es gebe überhaupt bis jetzt »in der rationellen Mechanik keine Brücke zwischen dem streng Statischen und dem Dynamischen«.

Der Leser merkt jetzt endlich, was hinter dieser Lieblingsphrase des Herrn Dühring steckt; weiter nichts als dies: der metaphysisch denkende Verstand kann absolut nicht vom Gedanken der Ruhe zu dem der Bewegung kommen, weil ihm hier obiger Widerspruch den Weg versperrt. Für ihn ist die Bewegung, weil ein Widerspruch, rein unbegreiflich. Und indem er die Unbegreiflichkeit der Bewegung behauptet, gibt er selbst die Existenz dieses Widerspruchs wider Willen zu, gibt also zu, daß es einen in den Dingen und Vorgängen selbst objektiv vorhandnen Widerspruch gibt, der zudem eine tatsächliche Macht ist.

Wenn schon die einfache mechanische Ortsbewegung einen Widerspruch in sich enthält, so noch mehr die höhern Bewegungsformen der Materie und ganz besonders das organische Leben und seine Entwicklung. Wir sahen oben, daß das Leben grade vor allem darin besteht, daß ein Wesen in jedem Augenblick dasselbe und doch ein andres ist. Das Leben ist also ebenfalls ein in den Dingen und Vorgängen selbst vorhandner, sich stets[112] setzender und lösender Widerspruch; und sobald der Widerspruch aufhört, hört auch das Leben auf, der Tod tritt ein. Ebenso sahen wir, wie auch auf dem Gebiete des Denkens wir den Widersprüchen nicht entgehn können und wie z.B. der Widerspruch zwischen dem innerlich unbegrenzten menschlichen Erkenntnisvermögen und seinem wirklichen Dasein in lauter äußerlich beschränkten und beschränkt erkennenden Menschen sich löst in der für uns wenigstens praktisch endlosen Aufeinanderfolge der Geschlechter, im unendlichen Progreß.

Wir erwähnten schon, daß die höhere Mathematik den Widerspruch, daß Gerade und Krumm unter Umständen dasselbe sein sollen, zu einer ihrer Hauptgrundlagen hat. Sie bringt den andern Widerspruch fertig, daß Linien, die sich vor unsern Augen schneiden, dennoch schon fünf bis sechs Zentimeter von ihrem Schneidepunkt als parallel, als solche gelten sollen, die sich selbst bei unendlicher Verlängerung nicht schneiden können. Und dennoch bringt sie mit diesen und mit noch weit stärkern Widersprüchen nicht nur richtige, sondern auch für die niedere Mathematik ganz unerreichbare Resultate zustande.

Aber auch schon in diesen letztern wimmelt es von Widersprüchen. Es ist z.B. ein Widerspruch, daß eine Wurzel von A eine Potenz von A sein soll, und doch ist A1/2 = √A. Es ist ein Widerspruch, daß eine negative Größe das Quadrat von etwas sein soll, denn jede negative Größe, mit sich selbst multipliziert, gibt ein positives Quadrat. Die Quadratwurzel aus Minus Eins ist daher nicht nur ein Widerspruch, sondern sogar ein absurder Widerspruch, ein wirklicher Widersinn. Und dennoch ist √-1 ein in vielen Fällen notwendiges Resultat richtiger mathematischer Operationen; ja, noch mehr, wo wäre die Mathematik, niedre wie höhere, wenn ihr verboten würde, mit √-1 zu operieren?

Die Mathematik selbst betritt mit der Behandlung der veränderlichen Größen das dialektische Gebiet, und bezeichnenderweise ist es ein dialektischer Philosoph, Descartes, der diesen Fortschritt in sie eingeführt hat. Wie die Mathematik der veränderlichen sich zu der der unveränderlichen Größen verhält, so verhält sich überhaupt dialektisches Denken zu metaphysischem. Was durchaus nicht verhindert, daß die große Menge der Mathematiker die Dialektik nur auf mathematischem Gebiet anerkennt, und daß es genug unter ihnen gibt, die mit den auf dialektischem Weg gewonnenen Methoden ganz in der alten, beschränkten, metaphysischen Weise weiteroperieren.[113]

Auf Herrn Dührings Antagonismus von Kräften und seine antagonistische Weltschematik näher einzugehn, wäre nur dann möglich, wenn er uns etwas mehr über dies Thema gegeben hätte, als – die bloße Phrase. Nachdem er dies fertiggebracht, wird uns dieser Antagonismus weder in der Weltschematik noch in der Naturphilosophie ein einziges Mal wirkend vorgeführt, das beste Eingeständnis, daß Herr Dühring mit dieser »Grundform aller Aktionen im Dasein der Welt und ihrer Wesen« absolut nichts Positives anzufangen weiß. Wenn man in der Tat Hegels »Lehre vom Wesen« bis auf die Plattheit von in entgegengesetzter Richtung, aber nicht in Widersprüchen, sich bewegenden Kräften heruntergebracht hat, so tut man allerdings am besten, jeder Anwendung dieses Gemeinplatzes aus dem Wege zu gehn.

Den weitern Anhaltspunkt für Herrn Dühring, um seinem antidialektischen Zorn Luft zu machen, bietet ihm Marx' »Kapital«.

»Mangel an natürlicher und verständlicher Logik, durch welchen sich die dialektisch-krausen Verschlingungen und Vorstellungsarabesken auszeichnen... schon auf den bereits vorhandnen Teil muß man das Prinzip anwenden, daß in einer gewissen Hinsicht und auch überhaupt (!) nach einem bekannten philosophischen Vorurteil alles in jedem und jedes in allem zu suchen, und daß dieser Misch- und Mißvorstellung zufolge schließlich alles Eins sei.«

Diese seine Einsicht in das bekannte philosophische Vorurteil befähigt denn auch Herrn Dühring, mit Sicherheit vorauszusagen, was das »Ende« des Marxschen ökonomischen Philosophierens, also was der Inhalt der folgenden Bände des »Kapitals« sein wird, genau sieben Zellen nachdem er erklärt hat, es sei

»jedoch wirklich nicht abzusehn, was, menschlich und deutsch geredet, eigentlich in den zwei «(letzten) »Bänden noch folgen soll«.

Es ist indes nicht das erstemal, daß die Schriften des Herrn Dühring sich uns erweisen als gehörig zu den »Dingen«, in denen »das Widersprechende objektiv vorhanden und sozusagen leibhaft anzutreffen« ist. Was ihn durchaus nicht hindert, siegreich fortzufahren:

»Doch die gesunde Logik wird über ihre Karikatur voraussichtlich triumphieren... Das Vornehmtun und der dialektische Geheimniskram werden niemanden, der noch ein wenig gesundes Urteil übrig hat, anreizen, sich mit den Unförmlichkeiten der Gedanken und des Stils... einzulassen. Mit dem Absterben der letzten Reste der dialektischen Torheiten wird dieses Mittel der Düpierung... seinen trügerischen Einfluß verlieren, und niemand wird mehr glauben, sich abquälen zu müssen, um dort hinter eine tiefe Weisheit zu kommen, wo der gesäuberte Kern der krausen Dinge im besten Fall die Züge gewöhnlicher Theorien, wo nicht gar von Gemeinplätzen zeigt... Es ist[114] ganz unmöglich, die« (Marxschen) »Verschlingungen nach Maßgabe der Logoslehre wiederzugeben, ohne die gesunde Logik zu prostituieren.« Marx' Methode bestehe darin, »dialektische Wunder für seine Gläubigen herzurichten«, und so weiter.

Wir haben es hier noch durchaus nicht mit der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der ökonomischen Resultate der Marxschen Untersuchung zu tun, sondern nur mit der von Marx angewandten dialektischen Methode. Soviel aber ist sicher: die meisten Leser des »Kapital« werden erst jetzt durch Herrn Dühring erfahren haben, was sie eigentlich gelesen. Und unter ihnen auch Herr Dühring selbst, der im Jahre 1867 (»Ergänzungsblätter« III, Heft 3) noch imstande war, eine für einen Denker seines Kalibers verhältnismäßig rationelle Inhaltsangabe des Buches zu machen, ohne genötigt zu sein, die Marxschen Entwicklungen erst, wie es jetzt für unumgänglich erklärt wird, ins Dühringsche zu übersetzen. Wenn er schon damals den Schnitzer beging, die Marxsche Dialektik mit der Hegelschen zu identifizieren, so hatte er doch nicht ganz die Fähigkeit verloren, zwischen der Methode und den durch sie erlangten Resultaten zu unterscheiden, und zu begreifen, daß man die letztern nicht im besondern widerlegt, wenn man die erstere im allgemeinen herunterreißt.

Die überraschendste Mitteilung des Herrn Dühring ist jedenfalls die, daß für den Marxschen Standpunkt »schließlich alles Eins ist«, daß für Marx also auch z.B. Kapitalisten und Lohnarbeiter, feudale, kapitalistische und sozialistische Produktionsweise, »alles Eins ist«, ja am Ende wohl gar auch Marx und Herr Dühring »alles Eins«. Um die Möglichkeit solcher simplen Narrheit zu erklären, bleibt nur die Annahme, daß das bloße Wort Dialektik Herrn Dühring in einen Zustand von Unzurechnungsfähigkeit versetzt, in dem ihm, einer gewissen Miß- und Mischvorstellung zufolge, schließlich »alles Eins« ist, was er sagt und tut.

Wir haben hier eine Probe von dem, was Herr Dühring

»meine Geschichtszeichnung großen Stils« nennt, oder auch »das summarische Verfahren, welches mit der Gattung und dem Typus abrechnet, und sich gar nicht dazu herbeiläßt, das, was ein Hume den Gelehrtenpöbel nannte, in mikrologischen Einzelnheiten mit einer Bloßstellung zu beehren, dieses Verfahren im höhern und edlem Stile ist allein mit den Interessen der vollen Wahrheit und mit den Pflichten gegen das zunftfreie Publikum verträglich«.

Die Geschichtszeichnung großen Stils und das summarische Abrechnen mit der Gattung und dem Typus ist in der Tat sehr bequem für Herrn Dühring, indem er dabei alle bestimmten Tatsachen als mikrologisch vernachlässigen, gleich Null setzen kann, und statt zu beweisen, nur allgemeine Redensarten machen, zu behaupten und einfach zu verdonnern hat. Dabei[115] hat sie noch den Vorteil, daß sie dem Gegner keine tatsächlichen Anhaltspunkte darbietet, daß ihm also fast keine andre Möglichkeit der Antwort bleibt, als ebenfalls im großen Stil und summarisch darauflos zu behaupten, sich in allgemeinen Redensarten zu ergehn, und den Herrn Dühring schließlich wieder zu verdonnern, kurz, wie man sagt, Retourkutsche zu spielen, was nicht nach jedermanns Geschmack ist. Wir müssen es daher Herrn Dühring Dank wissen, daß er den höhern und edlem Stil ausnahmsweise verläßt, um uns wenigstens zwei Beispiele von der verwerflichen Marxschen Logoslehre zu geben.

»Wie komisch nimmt sich nicht z.B. die Berufung auf die Hegelache konfuse Nebelvorstellung aus, daß die Quantität in die Qualität umschlage, und daß daher ein Vorschuß, wenn er eine gewisse Grenze erreiche, bloß durch diese quantitative Steigerung zu Kapital werde.«

Das nimmt sich allerdings in dieser von Herrn Dühring »gesäuberten« Darstellung kurios genug aus. Sehn wir also zu, wie es sich im Original, bei Marx, ausnimmt. Auf Seite 313 (2. Auflage des »Kapital«) zieht Marx aus der vorhergegangnen Untersuchung über konstantes und variables Kapital und Mehrwert den Schluß, daß »nicht jede beliebige Geld- oder Wertsumme in Kapital verwandelbar, zu dieser Verwandlung vielmehr ein bestimmtes Minimum von Geld oder Tauschwert in der Hand des einzelnen Geld- oder Warenbesitzers vorausgesetzt ist«. Er nimmt nun als Beispiel an, daß in irgendeinem Arbeitszweige der Arbeiter täglich acht Stunden für sich selbst, d.h. zur Erzeugung des Werts seines Arbeitslohns, und die folgenden vier Stunden für den Kapitalisten, zur Erzeugung von, zunächst in dessen Tasche fließendem, Mehrwert arbeite. Dann muß jemand schon über eine Wertsumme verfügen, die ihm erlaubt, zwei Arbeiter mit Rohstoff, Arbeitsmitteln und Arbeitslohn auszustatten, um an Mehrwert täglich soviel einzustecken, daß er davon so gut leben kann, wie einer seiner Arbeiter. Und da die kapitalistische Produktion nicht den bloßen Lebensunterhalt, sondern die Vermehrung des Reichtums zum Zweck hat, so wäre unser Mann mit seinen beiden Arbeitern immer noch kein Kapitalist. Damit er nun doppelt so gut lebe wie ein gewöhnlicher Arbeiter und die Hälfte des produzierten Mehrwerts in Kapital zurückverwandle, müßte er acht Arbeiter beschäftigen können, also schon das Vierfache der oben angenommnen Wertsumme besitzen. Und erst nach diesem, und inmitten noch weiterer Ausführungen zur Beleuchtung und Begründung der Tatsache, daß nicht jede beliebige kleine Wertsumme hinreicht, um sich in Kapital zu verwandeln,[116] sondern daß dafür jede Entwicklungsperiode und jeder Industriezweig ihre bestimmten Minimalgrenzen haben, bemerkt Marx: »Hier, wie in der Naturwissenschaft, bewährt sich die Richtigkeit des von Hegel in seiner ›Logik‹ entdeckten Gesetzes, daß bloß quantitative Veränderungen auf einem gewissen Punkt in qualitative Unterschiede umschlagen.«

Und nun bewundre man den höhern und edlem Stil, kraft dessen Herr Dühring Marx das Gegenteil von dem unterschiebt, was er in Wirklichkeit gesagt hat. Marx sagt: Die Tatsache, daß eine Wertsumme erst dann in Kapital sich verwandeln kann, sobald sie eine je nach Umständen verschiedne, in jedem einzelnen Fall aber bestimmte Minimalgröße erreicht hat – diese Tatsache ist ein Beweis für die Richtigkeit des Hegelschen Gesetzes. Herr Dühring läßt ihn sagen: Weil nach dem Hegelschen Gesetz Quantität in Qualität umschlägt, »daher« wird »ein Vorschuß, wenn er eine bestimmte Grenze erreicht... zu Kapital«. Also das grade Gegenteil.

Die Sitte, in den »Interessen der vollen Wahrheit« und den »Pflichten gegen das zunftfreie Publikum« falsch zu zitieren, haben wir schon in Herrn Dührings Verhandlung in Sachen Darwins kennengelernt. Sie erweist sich mehr und mehr als innere Notwendigkeit der Wirklichkeitsphilosophie, und ist allerdings ein sehr »summarisches Verfahren«. Davon gar nicht zu sprechen, daß Herr Dühring Marx des fernem unterschiebt, er spreche von jedem beliebigen »Vorschuß«, während es sich hier nur um den einen Vorschuß handelt, der in Rohstoffen, Arbeitsmitteln und Arbeitslohn gemacht wird; und daß Herr Dühring es damit fertigbringt, Marx reinen Unsinn sagen zu lassen. Und dann hat er die Stirn, den von ihm selbst verfertigten Unsinn komisch zu finden. Wie er sich einen Phantasie-Darwin zurechtmachte, um an ihm seine Kraft zu erproben, so hier einen Phantasie-Marx. »Geschichtszeichnung großen Stils« in der Tat!

Wir haben schon oben gesehn, bei der Weltschematik, daß mit dieser Hegelschen Knotenlinie von Maßverhältnissen, wo an gewissen Punkten quantitativer Veränderung plötzlich ein qualitativer Umschwung eintritt, Herrn Dühring das kleine Malheur passiert war, sie in einer schwachen Stunde selbst anerkannt und angewandt zu haben. Wir gaben dort eins der bekanntesten Beispiele – das der Veränderung der Aggregatzustände des Wassers, das unter Normalluftdruck bei 0°C aus dem flüssigen in den festen, und bei 100°C aus dem flüssigen in den luftförmigen Zustand übergeht, wo also an diesen beiden Wendepunkten die bloße quantitative Veränderung[117] der Temperatur einen qualitativ veränderten Zustand des Wassers herbeiführt.

Wir hätten aus der Natur wie aus der Menschengesellschaft noch Hunderte solcher Tatsachen zum Beweis dieses Gesetzes anführen können. So z.B. handelt in Marx' »Kapital« der ganze vierte Abschnitt: Produktion des relativen Mehrwerts, auf dem Gebiet der Kooperation, Teilung der Arbeit und Manufaktur, Maschinerie und großen Industrie, von zahllosen Fällen, wo quantitative Veränderung die Qualität und ebenso qualitative Veränderung die Quantität der Dinge ändert, um die es sich handelt, wo also, um den Herrn Dühring so verhaßten Ausdruck zu gebrauchen, Quantität in Qualität umschlägt und umgekehrt. So z.B. die Tatsache, daß die Kooperation Vieler, die Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft, um mit Marx zu reden, eine »neue Kraftpotenz« erzeugt, die wesentlich verschieden ist von der Summe ihrer Einzelkräfte.

Zum Überfluß hatte Marx noch an der von Herrn Dühring, im Interesse der vollen Wahrheit, in ihr Gegenteil verkehrten Stelle die Anmerkung gemacht: »Die in der modernen Chemie angewandte, von Laurent und Gerhardt zuerst wissenschaftlich entwickelte Molekulartheorie beruht auf keinem andern Gesetz.« Aber was ging das Herrn Dühring an? Wußte er doch:

»Die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise fehlen grade da, wo, wie bei Herrn Marx und seinem Rivalen Lassalle, die Halbwissenschaften und ein wenig Philosophasterei das dürftige Rüstzeug zur gelehrten Aufstutzung ausmachten« –

während bei Herrn Dühring »die Hauptfeststellungen des exakten Wissens in Mechanik, Physik und Chemie« usw. zugrunde liegen – wie, das haben wir gesehn. Damit aber auch dritte Leute in den Stand gesetzt werden, zu entscheiden, wollen wir das in der Marxschen Note angeführte Exempel etwas näher betrachten.

Es handelt sich hier nämlich um die homologen Reihen von Kohlenstoffverbindungen, deren man schon sehr viele kennt und deren jede ihre eigne algebraische Zusammensetzungsformel hat. Wenn wir z.B., wie in der Chemie geschieht, ein Atom Kohlenstoff durch C, ein Atom Wasserstoff durch H, ein Atom Sauerstoff durch O, die Zahl der in jeder Verbindung enthaltnen Kohlenstoffatome durch n ausdrücken, so können wir die Molekularformeln für einige dieser Reihen also darstellen:[118]


CnH2n+2 – Reihe der normalen Paraffine

CnH2n+2O – Reihe der primären Alkohole

CnH2nO2 – Reihe der einbasischen fetten Säuren.


Nehmen wir als Beispiel die letzte dieser Reihen, und setzen wir nacheinander n = 1, n = 2, n = 3 usw., so erhalten wir folgende Resultate (mit Auslassung der Isomeren):


C H2O2 – Ameisensäure –

Siedepunkt 100° Schmelzpunkt 1°

C2H4O2 – Essigsäure –

Siedepunkt 118° Schmelzpunkt 17°

C3H6O2 – Propionsäure –

Siedepunkt 140° Schmelzpunkt –

C4H8O2 – Buttersäure –

Siedepunkt 162° Schmelzpunkt –

C5H10O2 – Valeriansäure –

Siedepunkt 175° Schmelzpunkt –


und so weiter bis C30H60O2, Melissinsäure, die erst bei 80° schmilzt, und die gar keinen Siedepunkt hat, weil sie sich überhaupt nicht ohne Zersetzung verflüchtigt.

Hier sehn wir also eine ganze Reihe von qualitativ verschiednen Körpern, gebildet durch einfachen quantitativen Zusatz der Elemente, und zwar immer in demselben Verhältnis. Am reinsten tritt dies da hervor, wo alle Elemente der Verbindung in gleichem Verhältnis ihre Quantität andern, so bei den normalen Paraffinen CnH2n+2: das unterste ist das Methan, CH4, ein Gas; das höchste bekannte, das Hekdekan, C16H34, ein fester, farblose Kristalle bildender Körper, der bei 21° schmilzt und erst bei 278° siedet. In beiden Reihen kommt jedes neue Glied durch den Hinzutritt von CH2, von einem Atom Kohlenstoff und zwei Atomen Wasserstoff zur Molekularformel des vorigen Gliedes zustande, und diese quantitative Veränderung der Molekularformel bringt jedesmal einen qualitativ verschiednen Körper hervor.

Jene Reihen sind aber nur ein besonders handgreifliches Beispiel; fast überall in der Chemie, schon bei den verschiednen Oxyden des Stickstoffs, in den verschiednen Sauerstoffsäuren des Phosphors oder Schwefels kann man sehn, wie »Quantität in Qualität umschlägt« und diese angebliche Hegelsche konfuse Nebelvorstellung in den Dingen und Vorgängen sozusagen leibhaft anzutreffen ist, wobei indes niemand konfus und benebelt bleibt außer Herrn Dühring. Und wenn Marx der erste ist, der hierauf aufmerksam machte, und wenn Herr Dühring diesen Hinweis liest, ohne ihn auch nur zu verstehn (denn sonst hätte er diesen unerhörten Frevel gewiß nicht so hingehn lassen), so reicht dies hin, um auch ohne Rückblick auf die ruhmvolle Dühringsche Naturphilosophie klarzustellen, wem »die eminent modernen Bildungselemente der naturwissenschaftlichen Denkweise«[119] fehlen, Marx oder Herrn Dühring, und wem die Bekanntschaft mit den »Hauptfeststellungen... der Chemie«.

Zum Schluß wollen wir noch einen Zeugen für das Umschlagen von Quantität in Qualität anrufen, nämlich Napoleon. Dieser beschreibt das Gefecht der schlechtreitenden, aber disziplinierten französischen Kavallerie mit den Mameluken, der für das Einzelgefecht unbedingt besten, aber undisziplinierten Reiterei ihrer Zeit, wie folgt:

»Zwei Mameluken waren drei Franzosen unbedingt überlegen; 100 Mameluken standen 100 Franzosen gleich; 300 Franzosen waren 300 Mameluken gewöhnlich überlegen, 1000 Franzosen warfen jedesmal 1500 Mameluken.«

Grade wie bei Marx eine bestimmte, wenn auch veränderliche, Minimalgröße der Tauschwertsumme nötig war, um ihren Übergang in Kapital zu ermöglichen, gradeso ist bei Napoleon eine bestimmte Minimalgröße der Reiterabteilung nötig, um der in der geschlossenen Ordnung und planmäßigen Verwendbarkeit liegenden Kraft der Disziplin zu erlauben, sichtbar zu werden und sich zu steigern bis zur Überlegenheit selbst über größere Massen besser berittner, gewandter reitender und fechtender, und mindestens ebenso tapfrer irregulärer Kavallerie. Aber was beweist das gegen Herrn Dühring? Ist Napoleon nicht elendiglich im Kampf mit Europa erlegen? Hat er nicht Niederlage auf Niederlage erlitten? Und weshalb? Einzig infolge seiner Einführung der konfusen Hegelschen Nebelvorstellung in die Taktik der Kavallerie!

Quelle:
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Berlin 1962, Band 20, S. 111-120.
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