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Ludwig Feuerbach

Über das »Wesen des Christentums« in Beziehung auf den »Einzigen und sein Eigentum«1

Feuerbach, sagt der Einzige, gibt uns nur eine theologische Befreiung von der Theologie und Religion; er hebt nur Gott, das Subjekt, auf, aber läßt das Göttliche, läßt die Prädikate Gottes unangefochten bestehen. Allerdings läßt er sie bestehen, aber er muß sie auch bestehen lassen, sonst könnte er ja nicht einmal die Natur und den Menschen bestehen lassen; denn Gott ist ein aus allen Realitäten, d.i. Prädikaten der Natur und Menschheit zusammengesetztes Wesen: Gott ist Licht, Leben, Kraft, Schönheit, Wesen, Verstand, Bewußtsein, Liebe, kurz alles. Was bleibt also übrig, wenn nicht einmal mehr die Prädikate Gottes bleiben sollen? Aber warum soll denn überhaupt etwas übrig bleiben? Das ist ja eben ein Zeichen von der Religiosität, von der »Gebundenheit« Feuerbachs, daß er noch in einen »Gegenstand« vernarrt ist, daß er noch etwas will, etwas liebt – ein Zeichen, daß er sich noch nicht zum absoluten Idealismus des »Egoismus« emporgeschwungen hat. »Ich hab' mein Sach auf nichts gestellt,« singt der Einzige. Aber ist denn nicht auch das Nichts ein Prädikat Gottes, nicht auch der Satz: Gott ist nichts, ein Ausspruch des religiösen Bewußtseins2? So hat also der »Egoist« doch auch noch seine Sache auf Gott gestellt! So gehört also auch er noch zu den »frommen Atheisten

Wie läßt Feuerbach die Prädikate bestehen? – Darauf allein kommt es an. So, wie sie Prädikate Gottes sind? Nein! So wie sie Prädikate der Natur und Menschheit – natürliche, menschliche Eigenschaften sind. Werden sie aus Gott in den Menschen versetzt, so verlieren sie eben den Charakter der Göttlichkeit,[179] d.h. der Überschwänglichkeit, der ihnen nur zukommt in der Entfernung vom Menschen – in der Abstraktion, in der Phantasie; sie werden durch diese Versetzung aus dem mystischen Dunkel des religiösen Gemütes an das helle Tageslicht des menschlichen Bewußtseins populär, »gemein«, »profan«. Worauf beruht die Macht der irdischen Majestät? Lediglich auf der Macht der Meinung, der Einbildung, daß die Person der Majestät ein ganz besonderes Wesen ist. Setze ich dagegen die Person oder das Subjekt der Majestät in Gedanken oder noch besser in der sinnlichen Anschauung auf gleichen Fuß mit mir, vergegenwärtige ich mir, daß dasselbe ebensogut Mensch ist als irgendein anderer gemeiner Mensch, so verschwindet mir auch die Majestät selbst in nichts. Mit der himmlischen Majestät ist es nun ebenso. Nur Gott als Subjekt ist der Status quo aller religiösen Prädikate; nur als Prädikate eines höchsten, d.i. übertriebenen, überspannten Wesens, folglich nur als selbst auf den höchsten Grad gesteigerte, überspannte, hyperlogi sche Prädikate sind sie andere Prädikate als die meinigen, Prädikate über mir, d.h. über dem Menschen. Wer daher das Subjekt aufhebt, hebt eo ipso auch die Prädikate auf (versteht sich: als theologische Prädikate), denn das Subjekt ist ja in der Tat nichts anderes als das als Subjekt gedachte, vorgestellte Prädikat.

»F. sagt aber selbst, es handle sich bei ihm nur um die Vernichtung einer Illusion,« ja; aber einer Illusion, mit der alle Illusionen, alle Vorurteile, alle – unnatürlichen – Schranken des Menschen wegfallen, wenn auch nicht auf den ersten Augenblick; denn die Grundillusion, das Grundvorurteil, die Grundschranke des Menschen ist Gott als Subjekt. Wer aber seine Zeit und Kraft auf die Auflösung der[180] Grundillusion und Grundschranke verwendet, dem kann man nicht zumuten, zugleich auch die abgeleiteten Illusionen und Schranken aufzulösen.

Was heißt: »Der Mensch ist der Gott des Menschen?« Heißt das soviel als: er ist Gott im Sinne eines vom Menschen unterschiedenen, über dem Menschen stehenden Wesens, kurz indem Sinne, in welchem es für die Religion, Theologie und spekulative Philosophie einen Gott gibt? F. zeigt ja eben, daß die Religion sich nicht selbst versteht, die spekulative Philosophie und Theologie aber sie falsch verstehen; er zeigt, daß der Glaube an Gott – in Wahrheit natürlich, nicht in der Einbildung und Reflexion des Gottesgläubigen – nur der Glaube des Menschen an sich ist, er zeigt also, daß das Göttliche nicht Göttliches, Gott nicht Gott, sondern nur das, und zwar im höchsten Grade, sich selbst liebende, sich selbst bejahende und anerkennende menschliche Wesen ist; denn der Mensch anerkennt nur einen Gott, welcher den Menschen anerkennt, und zwar so, als er, der Mensch, sich selbst anerkennt. Anerkenne ich z.B. nicht den Leib, trenne ich ihn ab von mir, fühle ich die leiblichen Bedürfnisse und Verrichtungen als Schranken, als Widerspruch mit mir, verwerfe ich mit einem Worte den Leib, so sehne ich mich nach der Entleibung und preise das leiblose Wesen als das wahre, selige, herrliche, höchste, d.i. göttliche Wesen. Was ich nicht bin, aber zu sein wünsche und zu werden mich bestrebe, das ist mein Gott. Gott, sagt daher F., ist nichts anderes, als das die Wünsche des Menschen erfüllende, das seine Bedürfnisse – sie seien nun welcher Art sie wollen – befriedigende Wesen. Wenn Du also einen Kranken oder auch nur einen von »fixen Ideen Besessenen« heilst, wenn Du einen Hungrigen mit Speise erquickst, so bist Du ihm,[181] prosaisch ausgedrückt, ein Wohltäter oder wohltätiger Mensch, poetisch ausgedrückt: – ein Gott, denn was dem Menschen wohlgefällt (Wesen des Christentums S. 93) und wohltut (S. 520), das nennt er panegyrisch Gott. Religion ist Affekt, ist Poesie; voilà tout. Der Satz: der Mensch ist der Gott, das höchste Wesen des Menschen, ist daher identisch mit dem Satz: es ist kein Gott, kein höchstes Wesen im Sinne der Theologie. Aber dieser letzte Satz ist nur der atheistische, d.i. negative, jener der praktische und religiöse, d.i. positive Ausdruck.

F.s »theologische Ansicht« besteht darin, daß er »Uns in ein wesentliches und unwesentliches Ich spaltet« und »die Gattung, den Menschen, ein Abstraktum, eine Idee als unser wahres Wesen im Unterschiede von dem wirklichen individuellen Ich als dem unwesentlichen hinstellt.« »Einziger!« hast Du das Wesen des Christentums ganz gelesen? Unmöglich; denn was ist gerade das Thema, der Kern dieser Schrift? Einzig und allein die Aufhebung der Spaltung in ein wesentliches und unwesentliches Ich – die Vergötterung, d.h. die Position, die Anerkennung des ganzen Menschen vom Kopfe bis zur Ferse. Wird denn nicht ausdrücklich am Schlüsse die Gottheit des Individuums als das aufgelöste Geheimnis der Religion ausgesprochen? Heißt es nicht sogar: »Essen und Trinken ist ein göttlicher Akt?« Ist aber Essen und Trinken ein Akt einer Idee, eines Abstraktum? Die einzige Schrift, in welcher das Schlagwort der neueren Zeit, die Persönlichkeit, die Individualität aufgehört hat, eine sinnlose Floskel zu sein, ist gerade das Wesen des Christentums, denn nur die Negation Gottes (des abstrakten, unendlichen Wesens als des wahren Wesens) ist die Position des Individuums[182] , und nur die Sinnlichkeit der wohlgetroffne Sinn der Individualität. Dadurch eben unterscheidet sich auch diese Schrift F.s wesentlich von allen seinen früheren Schriften, daß er erst in ihr zur Wahrheit der Sinnlichkeit vorgedrungen ist, erst in ihr das absolute Wesen als sinnliches Wesen, das sinnliche Wesen als absolutes Wesen erfaßt hat. Um sich hiervon zu überzeugen, vergleiche man nur z.B. die Bedeutung des Wunders im Bayle mit der im Wesen des Christentums. Allerdings wird auch hier wie dort, was sich von selbst versteht, die Ungereimtheit des Wunders im Sinne der Theologie nachgewiesen, aber während es im Bayle als widersprechend mit dem göttlichen Wesen, wird es hier als übereinstimmend mit demselben dargestellt, weil dort Gott noch als abstraktes, vom Menschen unterschiedenes Vernunftwesen, hier aber als das in seiner Totalität sich selbst befriedigende menschliche Wesen gefaßt und die wahre Bedeutung des Wunders eben darin gesetzt wird, nichts weiter als die – freilich nur supranaturalistische und sofern unvernünftige – Befriedigung eines menschlichen, sinnlichen Wunsches oder Bedürfnisses zu sein.

F. hat sich in seiner Schrift keine andere Aufgabe gestellt, als Gott oder die Religion auf ihren menschlichen Ursprung zurückzuführen und durch diese Reduktion im Menschen theoretisch und praktisch aufzulösen. Die Religion stellt aber des Menschen eigenes Wesen oder das vom Menschen abstrahierte Wesen als ein außer- und übermenschliches Wesen vor. F. mußte also diese Zerspaltung in Gott und Mensch auf innerhalb des Menschen selbst stattfindende Unterschiede zurückführen; – wie wäre auch die Religion erklärbar, wenn gar kein Unterschied zwischen Ich oder Selbstbewußtsein und Wesen oder Natur im Menschen[183] stattfände? – er mußte daher die psychologischen Zustände, welche eben den Menschen bestimmten, sein Wesen, seine Eigenschaften als göttliche Mächte von sich zu unterscheiden und über sich zu setzen, die Zustände der Begeisterung, der Leidenschaft, der Versenkung, des Außersichseins zum Ausgangspunkt seines Themas nehmen. Der wohlweise Kritiker beachte also, daß die Einleitung zum Wesen des Christentums, wo insbesondere die Mächte »im Menschen über dem Menschen« hervorgehoben werden, nicht eine Einleitung ist zu einer philosophischen Abhandlung über das Verhältnis der menschlichen Prädikate zum menschlichen Subjekt oder des menschlichen Wesens zum menschlichen Ich, sondern eben eine Einleitung zum Wesen des Christentums, d.h. zum Wesen der Religion. Kann man aber der Ouvertüre zur Zauberflöte deswegen einen Vorwurf machen, daß sie nur die Ouvertüre zur Zauberflöte, nicht auch zum Don Juan ist?

Das Individuum ist dem F. das absolute, d.i. wahre, wirkliche Wesen. Warum sagt er aber nicht: dieses ausschließliche Individuum? Darum, weil er dann nicht wüßte, was er will – auf den Standpunkt, welchen er negiert, den Standpunkt der Religion zurücksinken würde. Darin besteht eben gerade, wenigstens in dieser Beziehung, das Wesen der Religion, daß sie aus einer Klasse oder Gattung ein einziges Individuum auswählt und als heilig, unverletzlich den übrigen Individuen gegenüberstellt. Dieser Mensch, dieser »Einzige«, »Unvergleichliche«, dieser Jesus Christus ausschließlich und allein ist Gott, diese Eiche, dieser Ort, dieser Hain, dieser Stier, dieser Tag ist heilig, nicht die übrigen. Eine Religion aufheben heißt darum nichts anderes, als die Identität ihres geheiligten Gegenstandes oder Individuums mit den anderen profanen Individuen[184] derselben Gattung nachweisen. Diesen Beweis lieferte schon der h. Bonifacius unseren Vorfahren, als er die göttliche Eiche zu Geißmar fällte. Und so kannst Du denn auch den Standpunkt des Christentums, dessen. Wesen sich in dem Satze erschöpft: Ich, dieses ausschließliche, unvergleichliche Individuum bin, wenn auch nicht jetzt, doch meiner himmlischen Bestimmung nach, Gott – gleichgültig, wie Gott bestimmt wird: ob abstrakt als vollkommenes moralisches oder mystisch als phantastisch sinnliches Wesen – nur dadurch aufheben, daß Du dieses unvergleichliche Individuum aus dem blauen Dunst seines supranaturalistischen Egoismus in die profane sinnliche Anschauung versetzest, welche Dir zwar seinen individuellen Unterschied, aber auch zugleich unverkennbar, unverleugbar seine Identität mit den anderen Individuen, seine Gemeinheit vergegenwärtigt. Gib dem einzelnen Individuum nicht weniger, als ihm gebührt, aber auch nicht mehr. So nur befreist Du Dich von den Ketten des Christentums. Individuum sein, heißt zwar allerdings »Egoist« sein, es heißt aber auch zugleich, und zwar nolens volens, Kommunist sein. Nimm die Dinge, wie sie sind, d.h. nimm Dich selbst, wie Du bist, denn wie Du die Dinge nimmst, so nimmst Du Dich und umgekehrt. Schlage Dir den »Einzigen« im Himmel, aber schlage Dir auch den »Einzigen« auf Erden aus dem Kopfe!

Folge den Sinnen! Wo der Sinn anfängt, hört die Religion und hört die Philosophie auf, aber Du hast dafür die schlichte, blanke Wahrheit. Hier steht vor Deinen Augen eine weibliche Schönheit; Du rufst entzückt aus: sie ist unvergleichlich schön. Aber siehe! dort steht zugleich vor denselben Augen eine männliche Schönheit. Wirst Du nun nicht notwendig beide miteinander vergleichen? Und wenn Du es nicht[185] tust, um auf Deiner Unvergleichlichkeit hartnäckig zu bestehen, werden sich die beiden Schönheiten nicht selbst miteinander vergleichen, werden sie sich nicht wundern über ihre Gleichheit trotz des Unterschiedes, über ihren Unterschied trotz der Gleichheit? Werden sie nicht unwillkürlich einander zurufen: Du bist, »was« ich bin, und endlich im Namen des Menschen ihre Ausschließlichkeit durch gegenseitige Umschließungen widerlegen? »Ich liebe nur diese Einzige,« sagt der Einzige. Ich auch, ob ich gleich ein ganz kommuner Mensch bin. Aber ist dieses einzige Weib, das Du liebst, eine Äffin, eine Eselin, eine Hündin, ist es nicht ein menschliches Weib? »Ich bin mehr als Mensch«, sagt der Einzige. Bist Du aber auch mehr als Mann? Ist Dein Wesen oder vielmehr – denn das Wort: Wesen verschmäht der »Egoist«, ob es gleich dasselbe sagt – Dein Ich nicht ein männliches? Kannst Du die Männlichkeit absondern selbst von dem, was man Geist nennt? Ist nicht Dein Hirn, das heiligste, höchstgestellte Eingeweide des Leibes ein männlich bestimmtes? sind Deine Gefühle. Deine Gedanken unmännliche? Bist Du aber ein tierisches Männchen, ein Hund, ein Affe, ein Hengst? Was anderes ist also Dein »einziges, unvergleichliches«, Dein folglich geschlechtsloses Ich, als ein unverdauter Rest des alten christlichen Supranaturalismus?

Folge den Sinnen! Du bist durch und durch Mann – das Ich, das Du in Gedanken von Deinem sinnlichen, männlichen Wesen absonderst, ist ein Produkt der Abstraktion, das eben so viel oder so wenig Realität hat als die platonische Tischheit im Unterschiede von den wirklichen Tischen. Aber als Mann beziehst Du Dich wesentlich, notwendig auf ein anderes Ich oder Wesen – auf das Weib. Wenn[186] ich also Dich als Individuum anerkennen will, so muß ich meine Anerkennung nicht nur auf Dich allein beschränken, sondern zugleich über Dich hinaus auf Dein Weib ausdehnen. Die Anerkennung des Individuums ist notwendig die Anerkennung von wenigstens zwei Individuen. Zwei hat aber keinen Schluß und Sinn; auf zwei folgt drei, auf das Weib das Kind Aber nur ein einziges, unvergleichliches Kind? Nein! Die Liebe treibt Dich unaufhaltsam über dieses eine hinaus. Selbst schon der Anblick des Kindes ist so lieblich, so mächtig, daß er das Verlangen nach mehreren seinesgleichen unwiderstehlich in Dir erzeugt. Eines will überhaupt nur der Egoismus, aber vieles die Liebe. Allerdings entzieht nun die Liebe durch die Vielheit der Kinder dem Erstgeborenen den göttlichen, monotheistischen Rang und Titel der Einzigkeit und Unvergleichlichkeit, aber wäre die Liebe, die sich nur auf dieses Einzige beschränken wollte, nicht Filzigkeit und Lieblosigkeit gegen andere mögliche Kinder, nicht sogar Lieblosigkeit gegen dieses einzige Kind, welches doch selbst bald seine Einzigkeit satt bekommen und sich nach einem Schwesterchen oder Brüderchen sehnen würde? Wie kannst Du also einem Schriftsteller den Vorwurf machen, daß er das Individuum nicht anerkennt, wenn er es so anerkennt, wie die Liebe es anerkennt? wie ihn der Abstraktion beschuldigen, wenn er nach dem Vorbild der Liebe, welche, ob sie gleich die höchste und tiefste Anerkennung des Individuums ausdrückt, doch nicht bei diesem einzigen Individuum mit Ausschluß aller anderen stehen bleibt, auch nicht auf dieses einzige und unvergleichliche Individuum sich beschränkt, sondern seine Gedanken und Gesinnungen auf die Gattung, d.h. die anderen Individuen ausdehnt? Die Gattung bedeutet nämlich bei F. nicht ein Abstraktum, sondern nur dem einzelnen für sich selbst[187] fixierten Ich gegenüber das Du, den anderen, überhaupt die außer mir existierenden menschlichen Individuen. Wenn es daher bei F. z.B. heißt: Das Individuum ist beschränkt, die Gattung unbeschränkt, so heißt das nichts anderes als: die Schranken dieses Individuums sind nicht auch die Schranken der anderen, die Schranken der gegenwärtigen Menschen deswegen noch nicht die Schranken der zukünftigen Menschen.3

Der Gedanke der Gattung in diesem Sinne ist für das einzelne Individuum, – und jeder ist ein Einzelner –, ein notwendiger, unentbehrlicher. »Wir sind allzumal vollkommen«, sagt der Einzige wahr und schön; aber gleichwohl fühlen wir uns beschränkt und unvollkommen, weil wir uns notwendig – notwendig, denn wir sind nun einmal reflektierende Wesen – nicht nur mit anderen vergleichen, sondern auch mit uns selbst, indem wir das, was wir geworden sind, mit dem, was wir werden konnten, unter anderen Verhältnissen vielleicht wirklich geworden wären, zusammenhalten. Wir fühlen uns aber nicht nur moralisch, wir fühlen uns selbst auch sinnlich, räumlich und zeitlich beschränkt; wir, diese Individuen, sind ja nur an diesem bestimmten Orte, in dieser beschränkten Zeit. Wo sollen wir uns nun von diesem Beschränktheitsgefühl erlösen, wenn nicht in dem Gedanken der unbeschränkten Gattung, d.h. in dem Gedanken anderer Menschen,[188] anderer Orte, anderer glücklicherer Zeiten? Wer die Gattung daher nicht an die Stelle der Gottheit setzt, der läßt in dem Individuum eine Lücke, die sich notwendig wieder durch die Vorstellung eines Gottes, d.h. des personifizierten Wesens der Gattung ausfüllt. Nur die Gattung ist imstande, die Gottheit, die Religion aufzuheben zugleich und zu ersetzen. Keine Religion haben, heißt: nur an sich selbst denken; Religion haben: an andere denken. Und diese Religion ist die allein bleibende, wenigstens so lange, als nicht ein »einziger« Mensch nur auf Erden ist; denn so, wie wir nur zwei Menschen, wie Mann und Weib, haben, so haben wir auch schon Religion. Zwei, Unterschied ist der Ursprung der Religion – das Du der Gott des Ich, denn Ich bin nicht ohne Dich; ich hänge vom Du ab; kein Du – kein Ich.

Der Mann ist die Vorsehung des Weibes, das Weib die Vorsehung des Mannes, der Wohltäter die Vorsehung des Notleidenden, der Arzt die Vorsehung des Kranken, der Vater die Vorsehung des Kindes. Der Helfer muß mehr sein und mehr haben – wenigstens in der Beziehung, worin er Hilfe leistet – als der Hilfsbedürftige. Wer selbst Not leidet, wie kann er anderen Notleidenden helfen? Nein! Wer mich aus dem Morast herausziehen will oder soll, der muß über dem Morast, muß »über mir« stehen. Was ist denn nun aber dieses über mir stehende Wesen? Ist es ein anderes, fremdes Wesen? Ist es mir im Gegenteil nicht so nahe, als mein eigenes Herz, mein eigenes Auge, mein eigener Arm? Ist es nicht im strengsten Sinne mein »anderes Ich?« Es tut ja nur, was ich selbst tun will, im Zustand der Freiheit, Gesundheit, Selbständigkeit auch wirklich selbst tue, aber jetzt nur nicht tun kann. Bin ich lahm, so sind des andern Arme und Beine meine Bewegungsorgane;[189] bin ich blind, so sind seine Augen meine Führer; bin ich Kind, so ist des Vaters Wille und Verstand mein Wille und Verstand, mein Fürmichsein, denn als Kind bin ich in vielen Fällen wider und ohne Wissen und Willen wider mich selbst. So ist der Mensch der Gott des Menschen! Und nur durch diesen menschlichen Gott kannst du den un- und außermenschlichen überflüssig machen.

Was heißt die »Gattung realisieren?« Eine Anlage, eine Fähigkeit, eine Bestimmung überhaupt der menschlichen Natur verwirklichen. Die Raupe ist ein Insekt, aber noch nicht das ganze Insekt; in Beziehung auf sich ist sie wohl vollkommen, ist sie, was sie sein soll und sein kann; aber gleichwohl steckt trotz ihres selbstgenügsamen Egoismus noch etwas »in ihr über ihr«, was erst werden soll und kann – der Schmetterling. Erst der Schmetterling ist das erschöpfte, vollständig verwirklichte Insekt. Ähnliche Metamorphosen finden wie im Leben der Menschheit, so im Leben des einzelnen Menschen statt. Wenn daher der Mensch aus dem Knabenalter ins Jünglingsalter, aus der Schule zum Leben, aus dem Sklavenzustand zur Freiheit, aus der Indifferenz gegen das Geschlecht zur Liebe übergeht, so ruft er unwillkürlich bei allen diesen und ähnlichen Übergängen aus: Jetzt erst bin ich Mensch geworden, weil er jetzt erst vollständiger Mensch geworden ist, jetzt erst einen wesentlichen, bisher unbekannten oder gewaltsam unterdrückten Trieb seiner Natur befriedigt hat.

So notwendig die Unterscheidung zwischen Ich und Du, zwischen Individuum und Gattung ist, so notwendig ist selbst innerhalb eines und desselben Individuums die Unterscheidung zwischen dem Notwendigen und Veräußerlichen, Individuellen im Sinne[190] des Zufälligen, dem Wesentlichen und Unwesentlichen, dem Näheren und Entfernteren, dem Höheren und Niederen. Folge den Sinnen! Das räumlich Höchstgestellte ist auch das qualitativ Höchste am Menschen, das ihm Nächste, das nicht mehr von ihm Unterscheidbare – dieses ist der Kopf. Wenn ich den Kopf eines Menschen sehe, so sehe ich ihn selbst; wenn ich aber nur seinen Rumpf sehe, so sehe ich eben nichts weiter als seinen Rumpf. Wenn ich meine Hände und Füße verliere, so bin ich allerdings ein unvollständiger, mangelhafter, unglücklicher Mensch, allein ich kann doch noch ohne sie als Mensch existieren; wenn ich aber meinen Kopf verliere, so bin Ich selbst weg. Es gibt also einen wesentlichen Unterschied zwischen Mein und Mein: – anders ist das Meinige, welches weg sein kann, ohne daß Ich weg bin, anders das Meinige, welches nicht weg sein kann, ohne daß ich zugleich weg bin – einen Unterschied, den man nicht aufheben kann, ohne seinen Kopf zu verlieren. Wenn daher der »Einzige« deswegen den F. tadelt, daß er mit dem theologischen supranaturalistischen »Über« nicht auch zugleich das selbst organisch begründete Über und Unter im Menschen aufgehoben habe, so tadelt er ihn nur deswegen, daß er nicht, wie der »Einzige« und Andere aus Desparation über den unersetzlichen Verlust der Theologie seinen Kopf verloren hat.

Wenn ich heute in meinen Ausgaben und Genüssen mich beschränke, um morgen auch noch etwas zu leben zu haben, bin Ich nicht selbst die Vorsehung, die »über mir«, diesem heutigen Egoisten, welcher dem anderen, dem morgigen Menschen aus Genußsucht so gerne nichts übrig lassen möchte, maßgebend wacht und waltet? Und wenn ich auf das Krankenlager tatlos dahingestreckt bin, setze ich nicht,[191] sei's nun in der Erinnerung an die verlorene Gesundheit oder in der Hoffnung der Wiedergenesung mich, den Gesunden, so hoch über mich, den Kranken, als nur immer die unsterblichen Götter über den sterblichen Menschen stehen? Und wenn ich vergehe vor Gram und Ärger über einer leidenschaftlichen, unheilvollen Handlung, stehe ich als Kritiker, als Richter nicht über mir, dem Täter, dem »armen Sünder«? Und wenn ich in der Schöpfung eines Werkes begriffen bin, verwende ich nicht alle mir zu Gebote stehenden Kräfte auf dasselbe, glaube ich nicht daher, daß dieses Werk mein Testament ist, daß ich in ihm mein ganzes Vermögen der Welt vermache, daß ich hier an der Grenze meiner Entwicklung, meiner Zeugungskraft stehe? Wenn ich nun aber fertig bin mit dem Werke, habe ich nicht jetzt mich, den Schöpfer dieses Werkes, welcher vor kurzem noch mein Höchstes, mein non plus ultra war, bereits hinter und unter mir? Blicke ich jetzt nicht vielleicht sogar mit Geringschätzung auf das Werk und dessen Verfasser herab? So besteht das menschliche Leben selbst innerhalb eines und desselben Individuums in einem beständigen Wechsel, der bald das Unterste zu oberst, bald das Oberste zu unterst kehrt! Bin ich hungrig und durstig, so geht mir nichts über den Genuß von Speise und Trank, nach der Mahlzeit nichts über die Ruhe, nach der Ruhe nichts über die Bewegung oder Tätigkeit, nach dieser nichts über die Unterhaltung mit Freunden, nach vollbrachtem Tagewerk endlich feiere ich den Bruder des Todes, den Schlaf als das höchste, wohltätigste Wesen. So hat also jeden Augenblick des Lebens der Mensch etwas, aber nota bene! Menschliches über sich. Nur, wo er aufhört zu sein oder, was eins ist, sein Bewußtsein verliert, hört er auch auf, etwas über sich zu setzen. Was vor mir ist, setze ich über mich, was hinter mir, unter mich;[192] vor mir aber ist, und zwar jeden Augenblick, die noch unerschöpfte, unverbrauchte, hinter mir die bereits verbrauchte, entäußerte Denk- und Lebenskraft. Was ich aber sein und tun kann, steht mir als ein noch Unerreichtes notwendig über dem, was ich bereits bin und tue – daher die Menschen immer mehr sein und haben wollen, als sie sind und haben. Selbst die kommenden, während einer Arbeit notwendig hervorzubringenden Gedanken schweben so lange über mir, wie die Wolken am Himmel, bis sie sich unter meinen Augen als tropfbare Flüssigkeit niedergeschlagen haben.

»F. flüchtet aus dem Glauben in die Liebe.« O wie falsch! F. begibt sich mit festen, sicheren Schritten aus dem Reich der spekulativen und religiösen Träume in das Land der Wirklichkeit, aus dem abstrakten Wesen des Menschen in das wirkliche ganze Wesen desselben, aber die Liebe allein für sich erschöpft nicht das ganze Wesen des Menschen. Zum Lieben gehört auch Verstand, das »Gesetz der Intelligenz«; eine verstandlose Liebe unterscheidet sich in ihren Wirkungen und Handlungen nicht vom Haß, denn sie weiß nicht, was nützlich oder schädlich, zweckmäßig oder zweckwidrig ist. Warum hebt aber F. so die Liebe hervor? Weil es keinen anderen praktischen und organischen, durch den Gegenstand selbst dargebotenen Übergang vom Gottesreich zum Menschenreich gibt als die Liebe, denn die Liebe ist der praktische Atheismus, die Negation Gottes im Herzen, in der Gesinnung, in der Tat. Das Christentum nennt sich die Religion der Liebe, ist aber nicht die Religion der Liebe, sondern die Religion des supranaturalistischen, geistlichen Egoismus, gleichwie das Judentum die Religion des weltlichen, irdischen Egoismus ist. F. mußte daher das Christentum beim Wort nehmen, d.h. das Wort zur Sache, den Schein zum Wesen machen.[193]

Nimmt F. die Liebe in einem der wirklichen Liebe widersprechenden, phantastischen, supranaturalistischen Sinne – in dem Sinne, in welchem sie von aller Selbstliebe frei sein soll? Nein! »Kein Wesen, sagt er z.B., kann sich selbst negieren.« »Sein heißt, sich selbst lieben.« »Indem ich das Elend des anderen erleichtere, erleichtere ich zugleich mein eigenes, Elend des anderen fühlen, ist selbst ein Elend« usw. Jede Liebe ist insofern egoistisch, denn ich kann nicht lieben, was mir widerspricht; ich kann nur lieben, was mich befriedigt, was mich glücklich macht; d.h. ich kann nichts anderes lieben, ohne eben damit zugleich mich selbst zu lieben. Aber gleichwohl ist ein begründeter Unterschied zwischen dem, was man selbstsüchtige, eigennützige und dem, was man uneigennützige Liebe nennt. Welcher? In Kürze dieser: In der eigennützigen Liebe ist der Gegenstand deine Hetäre, in der uneigennützigen deine Geliebte. Dort befriedige ich mich wie hier, aber dort unterordne ich das Wesen einem Teil, hier aber den Teil, das Mittel, das Organ dem Ganzen, dem Wesen, dort befriedige ich eben deswegen auch nur einen Teil von mir, hier aber mich selbst, mein volles, ganzes Wesen. Kurz: In der eigennützigen Liebe opfere ich das Höhere dem Niederen, einen höheren Genuß folglich einem niedrigeren, in der uneigennützigen aber das Niedere dem Höheren auf.

»F. macht eben die Religion zur Ethik, die Ethik zur Religion.« Allerdings im Gegensatz zum Christentum4, worin die Ethik, als die Beziehung des Menschen auf den Menschen gegenüber der Beziehung des Menschen auf Gott nur eine untergeordnete Stellung hat. Aber F. setzt den Menschen über die Moral: »Indem Gott als ein sündenvergebendes Wesen gesetzt wird, so wird er zwar nicht als ein unmoralisches,[194] aber doch als ein mehr als moralisches, d.h. menschliches Wesen gesetzt.« Diese Worte bilden den Übergang vom Wesen des Moralgesetzes zum eigentlichen Wesen des Christentums, d.h. zum Wesen des Menschen, welches an und für sich ebensowenig ein unmoralisches, als moralisches ist. F. macht also nicht die Moral zum Maßstab des Menschen, sondern umgekehrt den Menschen zum Maßstab der Moral: Gut ist, was dem Menschen gemäß ist, entspricht; schlecht, verwerflich, was ihm widerspricht. Heilig sind ihm also die ethischen Verhältnisse, keineswegs »um ihrer selbst willen« – außer nur im Gegensatz zum Christentum, zu dem: um Gottes willen – heilig nur um des Menschen willen, heilig nur, weil und wiefern sie Verhältnisse des Menschen zum Menschen – also Selbstbejahungen, Selbstbefriedigungen des menschlichen Wesens sind. Allerdings macht also F. die Ethik zur Religion, aber nicht für sich selbst in abstracto, nicht als Zweck, sondern nur als Folge, nicht, weil ihm wie dem »aufgeklärten Protestantismus«, dem Rationalismus, Kantianismus, das moralische Wesen, d.h. das Wesen der Moral, sondern weil ihm das wirkliche, sinnliche, individuelle menschliche Wesen das religiöse, d.i. höchste Wesen ist.

»F. bekleidet seinen Materialismus mit dem Eigentum des Idealismus.« O wie aus der Luft gegriffen ist diese Behauptung! F. »Einziger« – ist weder Idealist, noch Materialist. Dem F. sind Gott, Geist, Seele, Ich bloße Abstraktionen, aber ebenso gut sind ihm der Leib, die Materie, der Körper bloße Abstraktionen. Wahrheit, Wesen, Wirklichkeit ist ihm nur die Sinnlichkeit. Hast Du aber je einen Leib, eine Materie gefühlt, gesehen? Du hast ja nur gesehen und gefühlt dieses Wasser, dieses Feuer, diese Sterne, diese Steine,[195] diese Bäume, diese Tiere, diese Menschen: immer und immer nur ganz bestimmte, sinnliche, individuelle Dinge und Wesen, aber nimmer weder Leiber noch Seelen, weder Geister noch Körper. Aber noch weniger ist F. Identist im Sinne der absoluten Identität, welche die beiden Abstraktionen in einer dritten Abstraktion vereinigt. Also weder Materialist, noch Idealist, noch Identitätsphilosoph ist F. Nun, was denn? Er ist mit Gedanken, was er der Tat nach, im Geiste, was er im Fleische, im Wesen, was er in den Sinnen ist – Mensch; oder vielmehr, da F. nur in die Gemeinschaft das Wesen des Menschen versetzt: Gemeinmensch, Kommunist.[196]

1

Ich bemerke bei dieser Überschrift, daß ich hier, wie anderwärts, nicht meine Schrift als Schrift im Auge habe und in Schutz nehme. Ich stehe in einem höchst kritischen Verhältnis zu meiner Schrift; ich habe es immer nur mit ihrem Gegenstand, ihrem Wesen, ihrem Geist zu tun. Die Beschäftigung mit ihrem Buchstaben überlasse ich den Kindern Gottes oder des Teufels.

2

Der Satz: Gott ist nichts oder das Nichts findet sich bekanntlich nicht nur in orientalischen Religionen, sondern auch bei christlichen Mystikern und Schwärmern.

3

Relativ, für mich als diesen Menschen ist allerdings, und zwar notwendig, die Gattung nur ein Abstraktum, nur ein Gedanke, obwohl sie an sich selbst sinnliche Existenz hat. So sind z.B. die vergangenen Menschen, obwohl an sich einst wirkliche, sinnliche Wesen, für mich nur Gedankenwesen oder Wesen der Vorstellung. Doch über diesen Gegenstand bei einer anderen Gelegenheit. Übrigens verstehe ich unter Gattung auch die Natur des Menschen; eine Bedeutung, die mit der anderen aber aufs innigste zusammen hängt, denn die Natur des Menschen existiert ja nur in dem Gegensatz von Ich und Du, Mann und Weib.

4

Aber zugleich auch auf Grund des Christentums, was deutlich genug entwickelt wird.

Quelle:
FLudwig Feuerbach: Kleine philosophische Schriften (1842-1845). Leipzig 1950, S. 171,197.
Erstdruck in: Wigands Vierteljahresschrift (Leipzig), 1845.
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