§ 55. Der Zweifel als Anfang der Cartesischen Philosophie

[180] Cartesius beginnt die Philosophie mit dem Zweifel, aber nicht etwa mit dem Zweifel an der Wahrheit dieses oder jenes Gegenstandes, mit dem Zweifel, der gewisse Gegenstände angreift, die allgemeine Sphäre aber des Bezweifelten unerschüttert läßt, sondern mit einem totalen, allgemeinen, die Sphäre des Bezweifelten ganz umfassenden Zweifel, mit dem Zweifel an allem, was nur immer nicht durch sich selbst gewiß ist und daher bezweifelt werden kann. Er beginnt aber nicht mit dem Zweifel, um zu zweifeln, wie es die Weise der Skeptiker ist, sondern um zur Gewißheit zu kommen, mit dem Zweifel als der notwendigen Bedingung und Weise, die Erkenntnis fester und gewisser Prinzipien zu erlangen. »Bereits vor einigen Jahren«, so beginnt C. die erste seiner »Meditationen über die erste Philosophie«, »habe ich die Bemerkung gemacht, wie viele Täuschungen und Irrtümer ich schon von Jugend auf als Wahrheiten annahm und wie ungewiß alles sei, was ich später darauf baute, und daher die Notwendigkeit erkannt, daß ich wenigstens einmal im Leben alles von Grund aus verwerfen und von den ersten Grundlagen an von neuem anfangen müsse, wenn ich je etwas Festes und Bleibendes in den Wissenschaften begründen wollte. Um mich daher von den vielen Vorurteilen, die ich schon von Kindheit an, wo ich noch nicht den gehörigen Gebrauch von der Vernunft machen konnte, eingesogen habe, zu befreien, muß ich alles in Zweifel ziehen, was nicht vollkommen gewiß ist. Das hauptsächlichste Vorurteil ist aber das von der Existenz sinnlicher Dinge. Allein die Sinne täuschen bisweilen, und die Klugheit erfordert es, denen nicht viel Zutrauen zu schenken, die uns auch nur einmal getäuscht haben. Ferner fühle und nehme ich täglich aufs lebhafteste Unzähliges im Traume wahr, was doch nicht existiert, so daß ich daher keine zuverlässigen Kriterien habe, um das Träumen vom Wachen unterscheiden zu können. Ich muß daher die Existenz der sinnlichen Dinge bezweifeln, aber nicht bloß diese,[180] sondern auch die einfachen und allgemeinsten Gegenstände wie die körperliche Natur, die Ausdehnung usw., ja, selbst auch die mathematischen Wahrheiten, weil sich schon viele in betreff ihrer täuschten und für gewiß hielten, was sich nachher als irrig erwies, vor allem aber, weil in unserm Geiste schon von alters her die Meinung eingewurzelt ist, daß ein Gott existiert, der alles vermag und uns erschuf. Denn wir wissen nicht, ob er uns nicht so erschaffen hat, daß wir uns immer selbst in dem, was wir für das Allerklarste und Gewisseste halten, täuschen.« ([»Meditationes«], Medit. I, und »Princ. Phil.«, P. I, § 1-5)

Die Art und Weise, wie C. seine Zweifel ausdrückt und vorstellt, ist sehr unphilosophisch, und seine Zweifelsgründe sind allerdings höchst schwach. Der letzte Zweifelsgrund gar laboriert an keiner geringen Schwäche und Inkonsequenz.

Wie kann C. jene alte Meinung von einem allmächtigen Gott zum Grund des Zweifelns machen? Jene Meinung, von der er ja gar nicht weiß, ob sie wahr ist? Er hätte ja auch diese Meinung als nur eine Meinung aus sich ausrotten sollen. Übrigens ist wohl zu erwägen, daß sich hier C. nur noch vor, nicht schon in seiner Philosophie, nur am Anfange derselben befindet, daß diese Gründe mehr nur die subjektive Weise ausdrücken, wie er zum Prinzip seiner Philosophie kam, und insofern gleichgültig sind und, wären sie noch viel schlechter, nicht die Notwendigkeit des Zweifels aufheben. Denn der wahre, der wesentliche Grund des Zweifelns sind (wie sich zeigen wird) nicht die angeführten Gründe, sondern ist das Fundament der Cartesischen Philosophie selbst, das »Ich denke, also bin ich«, ist die Notwendigkeit, daß der Geist, den C. (freilich nur in seiner ersten, einfachsten, abstraktesten Form) zu erkennen von dem Geiste der Weltgeschichtebestimmt war, sich selbst nur durch den Zweifel erfaßt und nur durch ihn erkannt werden kann. Daher auch C. nicht nur so getan hat, als zweifle er, wie ihm einige Gegner vorwarfen, sondern wirklich gezweifelt hat und nur von dem begriffen werden kann, der mit ihm zweifelt, aber freilich in einem andern Sinn, als gewöhnlich der Zweifel des C. verstanden wird. Die ganze Argumentation der Gegner des C. gegen seine Zweifel, zu der allerdings C. selbst wegen der Nachlässigkeit, Schiefheit,[181] Ungeschicklichkeit und selbst Kindlichkeit seiner Ausdrücke, wegen der unphilosophischen, inkonsequenten Form, in der er die meisten seiner Gedanken vorstellt, Veranlassung gab, fällt daher durch die Bemerkung zusammen, daß sie sich bei ihm nur an die Zweifel, aber nicht an das Zweifeln, was die Hauptsache ist, hielten, daß sie, was gleichfalls von der größten Wichtigkeit ist, nicht die bestimmte Art, nicht den Zusammenhang seines Zweifelns mit dem bestimmten Ausgangspunkt und Resultat desselben berücksichtigten. In jedem Zweifel, der nicht ins Blaue hineingeht und ins Unbestimmte hineinfaselt, nicht zu seinem Ausgangspunkt die Willkür hat, ist schon negativ das Resultat enthalten, das durch ihn herauskommt. Der wahre Zweifel ist eine Notwendigkeit, nicht bloß insofern, als er mich von den die Erkenntnis einer Sache verhindernden Meinungen oder Vorurteilen befreit und so ein subjektives Mittel ist zu ihrer Erkenntnis zu gelangen, sondern insofern, als er der Sache, die ich durch ihn erkenne, gemäß ist, in ihr selbst liegt und daher das einzige, durch die Sache selbst gegebne und bestimmte Mittel ist, sie zu erkennen. Das wahre philosophische Zweifeln ist daher allerdings nicht voraussetzungslos, sondern es ist ihm das Resultat vorausgesetzt, das aber für den Philosophen nicht vor ihm da ist, sondern erst aus und mit dem Zweifel für ihn entsteht; es ist ihm vorausgesetzt ferner der Geist und der allgemeine Standpunkt der mit diesem Zweifeln anhebenden Philosophie, auf den sich der Philosoph nicht willkürlich setzt wie auf einen Stuhl, den er ad libitum verlassen und dann wieder besetzen kann, sondern auf den er von dem Geiste der Weltgeschichte und seiner Philosophie sich gesetzt findet und der darum ein notwendiger Standpunkt ist. So ist auch das Zweifeln des C. nichts Willkürliches, so daß er ebensogut mit ihm als nicht mit ihm hätte anfangen können, es ist die mit Notwendigkeit aus dem Prinzip seiner Philosophie selbst hervorgehende Methode, das einzige Mittel, es zu erkennen. Das Zweifeln des C. war aber nicht nur insofern eine notwendige Handlung, als er nur vermittelst desselben das Prinzip seiner Philosophie finden konnte, sondern auch insofern, als er eben nur dadurch, daß er den Anfang der Philosophie vom Zweifel, von der Verneinung macht, den Anfang und Grund zu einer neuen und freien,[182] aus sich selbst anfangenden Philosophie legte und legen konnte.97

Dem sinnlichen Menschen, der das, was ihn affiziert, was er fühlt, für Wirklichkeit hält, weil es ihn affiziert, der sich zum Maße dessen macht, was ist oder nicht ist, der die fühlbaren Beschaffenheiten der Dinge für ihre Existenz hält und der daher Glaubt, daß C., wenn er ihre Existenz bezweifelt, leugnet, daß man die Dinge sieht, hart, weich fühlt und dergl., muß freilich der Zweifel des C. sehr lächerlich vorkommen. Aber, wie schon Malebranche treffend von C. bemerkte: »Des-Cartes, qui vouloit établir sa Philosophie sur des fondemens inebranlables, n'a pas crû pouvoir supposer, qu'il y eût des corps, ni devoir le prouver par des preuves sensibles, quoi-qu'elles paroissent très convaincantes au commun des hommes. Apparemment il savoit aussi bien que nous, qu'il n'y avoit qu'à ouvrir les yeux, pour voir des corps, que l'on pouvoit s'en approcher et les toucher, pour s'assurer, si nos yeux ne nous trompoient point dans leur rapport. Mais... il aimoit mieux se rendre ridicule aux petits esprits par des doutes, qui leur paroissent extravagans, que d'assurer des choses, qu'il ne jugeoit pas certaines et incontestables.«[183] (Eclairc. sur le I. Livre de la »R. de la Ver.«, S. 211) Die sinnliche Existenz der Dinge, die innerhalb des Standpunktes der Sinnlichkeit dem Sinnlichen für unbezweifelbare Realität gilt, bezweifelt überhaupt kein Idealist, aber ob diese sinnliche, diese erscheinende Existenz eine wahre Wirklichkeit, eine Existenz ist, die dem Gedanken stich- und standhält, das ist eben die Frage. Da übrigens der Zweifel bei C. nur der Anfang seiner Philosophie ist und bei ihm nur die Bedeutung der Unterscheidung und der Abstraktion hat, wie sich zeigen wird, so ist hier nicht der Ort, den Sinn des Idealismus, namentlich des subjektiven, näher zu untersuchen und zu kritisieren.

97

Wie und wiefern der Cart. Philosophie, überhaupt einem philosophischen Gedanken das Prädikat der Neuheit zukommt, darüber habe ich mich näher im »Bayle« und »Leibniz« erklärt. Die Art, wie Huëtius in seiner »Censura Philos. Cart.«, c. 8, 5 8, verfährt, um ihr dieses Prädikat abzusprechen, ist höchst kritik- und geistlos. In seinem Schreiben an den P. Dinet erklärt c seine Philosophie für die allerälteste, weil sie von Prinzipien ausgehe, welche allen bisherigen Philosophen gemein, dem menschlichen Geiste angeboren seien. Ebenso »Princ. Phil.«, P. IV, 5 200.

Quelle:
Ludwig Feuerbach: Geschichte der neuern Philosophie von Bacon bis Spinoza. Leipzig 1976, S. 180-184.
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