Achte Vorlesung

[111] [Von der Reaction eines solchen Zeitalters gegen sich selber durch Aufstellung des Unbegreiflichen, als höchsten Princips. Woher, falls ein bestimmtes Unbegreifliches aufgestellt werde, dieses entstehe? Bestimmung des Begriffs der Schwärmerei, insbesondere der wissenschaftlichen.]


Ehrwürdige Versammlung!


Das dritte Zeitalter ist in seinem Grundzuge als ein solches, das nichts gelten lasse als das, was es begreife, aufgestellt, und sein leitender Begriff in diesem Begreifen, als der Begriff der blossen sinnlichen Erfahrung, sattsam beschrieben. Es ist aus dieser Beschaffenheit des Zeitalters abgeleitet, dass es in demselben einen Unterschied zwischen einem Gelehrtenstande[111] und einem anderen der Ungelehrten geben werde; und wie diese beiden Stände, sowohl jeder für sich betrachtet, als in ihrem gegenseitigen Verhältnisse zu einander beschaffen seyn werden. Zum Ueberflusse ist in der vorhergehenden Rede historisch gezeigt worden, dass dieses ganze Verhältniss nicht von jeher gewesen, sondern einmal geworden, und wie und auf welchem Wege es geworden, und also geworden; ingleichen, wie dasselbe Verhältniss im folgenden Zeitalter der Vernunftwissenschaft seyn werde.

Nun haben wir schon viel früher in der Hauptübersicht dessen, was wir hier abzuhandeln hätten, erinnert, dass ein solches Zeitalter des blossen nackten Erfahrungsbegriffs und des leeren formalen Wissens schon durch sein Wesen zum Widerstreite gegen sich reize, und in sich selber den Grund einer Reaction seiner selbst gegen sich selbst trage. Lassen Sie uns in der heutigen Rede diesen Wink aufnehmen und weiter verfolgen. Es kann nemlich nicht fehlen, dass einzelne Individuen, entweder weil sie wirklich die dürre Oede und furchtbare Leere der Resultate des aufgestellten Princips fühlen, oder aus blosser Begierde, etwas durchaus neues auf die Bahn zu bringen, – welche Begierde wir ja selber unter den Grundzügen des Zeitalters gefunden haben, – dass, sage ich, diese Individuen, geradezu das Princip des Zeitalters umkehrend, das eben als sein Verderben und als die Quelle seiner Irrthümer angeben, dass es alles begreifen wolle; und dass sie dagegen als ihr eigenes Princip, als das einzige, was noth thut, und als die wahre Quelle aller Heilung und Genesung, das Unbegreifliche, als solches und um seiner Unbegreiflichkeit willen, aufstellen. – Auch dieses Phänomen, sagte ich damals, obwohl es dem dritten Zeitalter geradezu entgegengesetzt zu seyn scheint, gehört dennoch unter die nothwendigen Phänomene dieses Zeitalters, und ist in einer vollständigen Charakteristik desselben nicht aus dem Auge zu lassen. – Es ist zuvörderst ein Widerspruch gegen die Maxime, dass man alles, was als wahr anerkannt werden solle, müsse begreifen können; welcher nicht gethan und theoretisch aufgestellt werden kann, ehe jene Maxime selber ausgesprochen worden, und[112] welcher lediglich in der Polemik gegen sie entsteht, – ein Widerspruch, der nothwendig eintreten muss, sobald nur jene Maxime eine Zeitlang geherrscht hat, und reiflich erwogen ist und im hellen Lichte sich zeigt; dass selbst die Anhänger dieser Maxime immerfort sehr vieles gelten lassen, was sie und ebensowenig diese ihre Gegner nicht begreifen. Sodann, es ist jenes Aufstellen des Unbegreiflichen zum Princip keinesweges Anfang und Bestandtheil des neuen Zeitalters, das aus dem dritten sich entwickeln soll, des Zeitalters der Vernunftwissenschaft: denn dieses tadelt keinesweges jene Maxime der Begreiflichkeit an und für sich, – es erkennt sie vielmehr an als ihre eigene; sondern es tadelt nur den schlechten und untauglichen Begriff, der bei diesem Begreifen zum Grunde gelegt und zum Maassstabe aller Gültigkeit gemacht wird; was aber das Begreifen selbst anbelangt, stellt die Vernunftwissenschaft als Grundsatz auf, dass schlechthin alles, und selber das Nichtbegreifen, als die Grenze des Begreifens und das einzig mögliche Unterpfand, dass das Begreifen erschöpft sey, begriffen werden müsse; und dass es zwar zu aller Zeit, und als den einzigen Träger der Zeit, ein dermalen Nichtbegriffenes, und nur als nicht begriffen Begriffenes, – keinesweges aber jemals ein absolut Unbegreifliches geben könne. Jenes Princip der absoluten Unbegreiflichkeit widerstreitet sonach der Form der Wissenschaft noch weit unmittelbarer, als selber das Princip der Begreiflichkeit aller Dinge durch den blossen sinnlichen Erfahrungsbegriff. Endlich ist dieses Princip der Unbegreiflichkeit, als solcher, auch nicht ein Nachlass der vorigen Zeit; wie schon aus demjenigen, was wir über diese bis jetzt beigebracht haben, hervorgeht. Das absolut Unbegreifliche des heidnischen und jüdischen Alterthums, – der willkürlich verfahrende, nie zu errathende, aber immer zu fürchtende Gott, mit dem man sich nur auf gutes Glück abfinden konnte, drang sich, weit entfernt dass sie ihn gesucht hätten, ihnen wider Willen auf, und sie wären desselben gern entledigt gewesen. Das Unbegreifliche der christlichen Kirche aber wurde als Wahrheit aufgestellt, nicht darum, weil es unbegreiflich war, sondern, ohnerachtet es von ungefähr unbegreiflich[113] ausgefallen war, deswegen, weil es in dem geschriebenen Worte, der Tradition und den Kirchensatzungen lag. Die von uns angeführte Maxime aber stellt das Unbegreifliche durchaus als Unbegreifliches, und eben um seiner Unbegreiflichkeit willen als Höchstes auf; und ist deswegen ein ganz neues und vorher nie also dagewesenes Phänomen des dritten Zeitalters.

Inwiefern es nun bei dieser blossen Empfehlung des Unbegreiflichen überhaupt sein Bewenden keinesweges hat, so dass jedem nun überlassen bleibe, sein Unbegreifliches an sich zu bringen: – sondern, wenn noch überdies, wie von der Dogmaticität des Zeitalters sich erwarten lässt, ein besonderes und bestimmtes Unbegreifliches abgeliefert und mitgetheilt wird, – nun welchem Wege entsteht dieses? Keinesweges aus der Quelle des alten Aberglaubens; denn diese ist für das gebildete Publicum versiegt, und ihr Nachlass ist nur noch in der Theologie vorhanden: – noch aus der Theologie; denn diese ist, wie wir ehemals gezeigt haben, etwas anderes. Auf dem Wege der Einsicht in die Leerheit des vorhandenen Systems also auf dem Wege des Räsonnements, ist das neue System entstanden; durch Räsonnement und auf dem Wege des freien Denkens, welches aber hier ein Erdenken und Dichten wird, muss es sein Unbegreifliches zu Stande bringen: – den Namen der Philosophen werden die Urheber und die Vertreter dieses Systems führen.

Das Hervorbringen eines Unbegriffenen und Unbegreiflichen durch freies Dichten ist von jeher Schwärmen genannt worden; wir werden daher dieses neue System in seiner Wurzel fassen, wenn wir bestimmt erklären, was Schwärmerei sey, und worin sie bestehe.

Die Schwärmerei hat mit der ächten Vernunftwissenschaft das gemein, dass sie die blossen sinnlichen Erfahrungsbegriffe nicht für das Höchste gelten lässt, sondern über alle Erfahrung hinaus sich zu erheben strebt; und, da es über dem Gebiete der Erfahrung nichts giebt, als die Welt des reinen Gedankens, – dass sie, wie wir oben von der Vernunftwissenschaft sagten, das Universum rein aus dem Gedanken aufbauen will. Die Vertheidiger der Erfahrung, aus der einigen Quelle der Wahrheit,[114] treffen es daher, so gut sie können, und besser, als sie vielleicht selber wissen, wenn sie jeden, der ihnen jede Alleingültigkeit, gleichviel aus welchen Gründen, abläugnet, kurzweg einen Schwärmer nennen; denn allerdings erhebt dasjenige, was sie vermittelst ihrer lebhaften Phantasie wohl auch kennen mögen, und wogegen sie durch das Halten an der Erfahrung sich so sorgfältig verwahrt haben, die Schwärmerei, sich über die Erfahrung: der andere Weg aber, über sie sich emporzuschwingen, der der Wissenschaft, ist ihnen in sich selbst nie vorgekommen, und sie haben von dieser Seite keine Versuchungen zu bekämpfen gehabt.

Darin also, in diesem festen Beruhen auf der Welt des Gedankens, als der ersten und vornehmsten, sind beide, die Vernunftwissenschaft und die Schwärmerei, vollkommen einig.

Der Unterschied beider beruht bloss auf der Beschaffenheit des Gedankens, von welchem jedes an seinem Theile ausgeht. Der Grundgedanke der Wissenschaft, der eben darum, weil er Grundgedanke ist, schlechthin nur Einer und in sich selber geschlossen ist, – ist dieser Wissenschaft durchaus klar und durchsichtig; und sie sieht, in derselben unwandelbaren Klarheit, aus diesem einen Gedanken alles mannigfaltige Denken und, da die Dinge ja nur im Denken vorkommen können, alle mannigfaltigen Dinge unmittelbar hervorgehen, und ergreift sie in diesem Hervorgehen auf der That; und dieses bis zur Grenze aller Klarheit, welche Grenze, als nothwendige Grenze, gleich. falls begriffen wird, – bis zum Unbegriffenen. Auch kommt der Wissenschaft dieser Gedanke nicht von selber, sondern sie muss ihm mit Mühe, Fleiss und Sorgfalt nachgehen; durchaus sich nicht beruhigend bei irgend einem noch nicht durchaus begriffenen, sondern immer höher steigend zu dem Erklärungsgrunde des letzteren, und zu dessen Erklärungsgrunde, so lange, bis alles nur ein einziges gediegenes Licht sey. So mit dem Gedanken der Wissenschaft. – Die Gedanken aber, von denen die Schwärmerei ausgehen kann, – denn diese sind in verschiedenen ihr ergebenen Individuen sehr verschieden, und oft in Einem und ebendemselben gar wandelbar – diese Gedanken sind in Beziehung auf ihre höhern Gründe nie klar,[115] und darum sogar in sich selber nur bis zu einer gewissen Stufe klar, eben deswegen ein, seinem Zusammenhange nach, absolut Unbegreifliches. Diese Gedanken können deswegen nie bewiesen, oder über ihre schon in ihnen liegende Stufe der Klarheit noch weiter klar gemacht werden, sondern sie werden postulirt, oder auch, falls aus wahren Wissenschaft der Ausdruck schon daseyn sollte – der Leser oder Hörer wird an die intellectuelle Anschauung verwiesen; welche letztere jedoch in der Wissenschaft ganz etwas anderes zu bedeuten hat, als in der Schwärmerei. Aus demselben Grunde kann auch über den Weg, wie man diese Gedanken erfunden, nie Rechenschaft abgelegt werden, weil sie in der That nicht, wie der Urgedanke der Wissenschaft, durch ein systematisches Aufsteigen zu höherer Klarheit gefunden, sondern blosse Einfälle sind von ohngefähr.

Dieses Ohngefähr nun, obwohl derjenige, der in seinem Dienste steht, es nie erklären wird, – was ist es denn im Grunde? – und wollen nicht wir wenigstens es erklären? Es ist eine blinde Kraft des Denkens, welche, wie alle blinde Kraft, zuletzt Naturkraft ist, von deren Botmässigkeit eben das klare Denken befreit; – zusammenhängend mit allen anderen Naturbestimmungen: dem Gesundheitszustande, dem Temperamente, dem geführten Leben, den gemachten Studien; und so sind denn diese Schwärmer in ihrem entzücktesten Philosophiren, ohnerachtet ihres Stolzes, sich über die Natur erhoben zu haben, und ihrer tiefen Verachtung für alle Empirie, selber nur etwas sonderbare, empirische Erscheinungen, ohne das geringste davon zu ahnen.

Die Bemerkung, dass die Principien dieser Schwärmerei ohngefähre Einfälle seyen, macht es mir zur Pflicht, die Schwärmerei von einem anderen, gewissermaassen ähnlichen Verfahren zu unterscheiden; und ich erhalte dadurch Gelegenheit, sie selbst noch schärfer zu bestimmen. Nemlich auch auf dem Boden der Physik sind die wichtigsten Experimente sowohl, als selbst durchgreifende und umfassende Theorien von ohngefähr und, wie man nun wohl sagen kann, durch einen Einfall entdeckt worden; und so wird es bleiben, bis die Vernunftwissenschaft[116] sattsam verbreitet und erweitert ist, und auch gegen die Physik ihre, in der vorigen Rede genau bestimmte Schuldigkeit erfüllt hat. Aber diese Männer gingen allemal von Phänomenen aus, nur suchend das Einheitsgesetz, in welchem diese befasst werden könnten; und gingen, sowie sie ihren Gedanken empfangen hatten, zu den Phänomenen zurück, um an ihnen den Gedanken zu prüfen; – ohne Zweifel in der festen Ueberzeugung, dass er erst von der Erklärbarkeit jener aus ihm seine Bestätigung erwarte, und in dem Entschlusse, ihn aufzugeben, falls er sich nicht auf diese Weise bewährte. Er bewährte sich, und es fand sich dadurch, dass sie nicht etwas willkürliches sich ausgedacht, sondern einen durch die Natur selbst uns angemutheten Gedanken gefunden hätten; und darum ist ihre Gabe keinesweges Schwärmerei, sondern sie ist Genie zu nennen. Ganz anders die Schwärmerei: sie geht weder aus von der Empirie, noch bescheidet sie sich, die Empirie als Richterin ihrer Einfälle an. zuerkennen, sondern sie fordert, dass die Natur sich nach ihren Gedanken richte; – worin sie freilich recht haben würde, wenn sie zuvörderst den rechten Gedanken hätte, und wenn sie ferner wüsste, wieweit diese Bestimmung der Natur a priori gehe, und in welchem Gebiete sie durchaus zu Ende sey und nur das Experiment entscheiden könne.

Diese Einfälle der Schwärmerei, habe ich gesagt, sind weder in sich klar, noch sind sie bewiesen, oder des theoretischen Beweises fähig, auf welchen ja auch durch das Geständniss der Unbegreiflichkeit Verzicht gethan wird; noch sind sie wahr, und darum durch den natürlichen Wahrheitssinn zu bewähren, gesetzt auch, sie fielen in dessen Gebiet. Nie ist es denn also möglich, dass auch nur von den Urhebern selber an sie geglaubt wird? Ich bin schuldig, Ihnen vor allen Dingen, und ehe wir weiter gehen, dieses Räthsel zu lösen.

Diese Einfälle sind, wie wir oben gezeigt haben, im Grunde die Producte einer blinden Naturkraft des Denkens, welche Kraft, unter diesen bestimmten Umständen, in diesem bestimmten Individuum sich nothwendig also äussern musste, wie sie sich äussert, – musste, sage ich; es versteht sich, falls nicht etwa das Individuum durch Erhebung zum freien und klaren Denken[117] sich über alle blinde Naturgewalt des Denkens erhob, und diese Quelle verstopfte. Falls es dieses nicht that, so ist folgendes nothwendig: Jede blinde Naturkraft wirkt immerfort, auch unsichtbar und unbewusst für den Menschen; es ist daher zu erwarten, dass diese Gestalt des Denkens, als nun einmal das Grundwesen dieses Individuums, in ihm schon in einer Menge von Zweigen auf- und angeschossen sey, die ihm von Zeit zu Zeit durch den Kopf gefahren, ohne dass er ihr eigentliches Princip entdeckt, oder einen entscheidenden Entschluss über ihre Annahme gefasst. Er gehet also leidend hin, oder behorcht auch wohl recht bedächtig die in ihm fortdenkende Natur; es kommt endlich die wahre Wurzel zum Vorschein, und er erstaunt nicht wenig, wie so auf einmal Einheit, Licht, Zusammenhang und Bestätigung über seine vorherigen Einfälle insgesammt sich verbreitet; freilich nichts weniger ahnend, als dass diese früheren Einfälle schon Zweige derselben, immerfort treibenden und nur erst jetzt an das Tageslicht gekommenen Wurzel seyen, mit welcher sie darum auch ohne Zweifel übereinstimmen werden. Die Wahrheit des Ganzen bestätigt sich ihm durch die Erklärbarkeit aller Theile aus dem Ganzen, da er nicht weiss, dass es nur von diesem Ganzen, und durch dieses Ganze, Theile, und dass sie überhaupt nur durch dieses Ganze da sind. Er hält die Erdichtung für Wahrheit, weil sie mit so vielen früheren kleinen Erdichtungen übereinstimmt, welche ihm, nur ohne sein Ahnen, aus derselben Quelle zugekommen.

Da dieses Denken der Schwärmerei denkende Naturkraft ist, geht es wieder zurück auf die Natur, hängt sich an den Boden derselben, und bestrebt eine Wirksamkeit in ihr; mit einem Worte: alle Schwärmerei ist und wird nothwendig Naturphilosophie. – Es ist nöthig, – auch um ein anderes, das von Unverständigen oft auch für Schwärmerei gehalten wird, von ihr kräftig zu unterscheiden, – dass wir diesen letzteren Gedanken sorgfältiger auseinandersetzen. Entweder die sinnliche Begier, der Trieb der persönlichen Selbsterhaltung und des natürlichen Wohlseyns, ist die einzige Triebfeder des Denkens sowohl, als des Handelns des Menschen: – so steht das Denken lediglich im Dienste der Begier, und ist nur dazu da,[118] um die Mittel zur Befriedigung jener sich zu merken und sich zu wählen; oder, der Gedanke ist durch sich selber und aus eigener Kraft lebendig und thätig. Auf den ersten Zustand gründete sich die ganze, bisher sattsam von uns beschriebene Weisheit des dritten Zeitalters, – und hiervon reden wir hier nicht weiter. Bei dem zweiten giebt es wiederum zwei oder, wenn man anders zählt, drei Fälle. Entweder nemlich ist der durch sich selber lebendige und thätige Gedanke denn doch nur die sinnliche Individualität des Menschen, bloss im Gedanken sich darstellend demnach immer eine nur verdeckte und nicht dafür erkannte sinnliche Lust, – und dann ist er die Schwärmerei: oder er ist der, ohne alle Begründung in der Sinnlichkeit rein aus sich selber quellende Gedanke, der nie auf die einzelne Person geht, sondern immer die Gattung umfasst, und den wir in unserer zweiten, dritten und vierten Rede sattsam beschrieben haben: die Idee. Ist er die Idee, so kann er sich wiederum, wie gleichfalls oben auseinandergesetzt worden, auf zweierlei Weise äussern: entweder in einer seiner ursprünglichen Zerspaltungen, die da oben angeführt wurden; und sodann treibt er unmittelbar zum Handeln, strömt aus in das persönliche Leben des Menschen, vernichtend alle seine sinnlichen Triebe und Begierden und der Mensch ist Künstler, Held, Wissenschaftler, oder Religioser: oder derselbe reine Gedanke kann sich äussern in seiner absoluten Einheit; so wird er klar eingesehen, und ist der Eine, in sich selbst klare und durchsichtige Gedanke der Vernunftwissenschaft, der an und für sich zu keinem Handeln in der Sinnenwelt treibt, sondern lediglich ein freies Handeln in der Welt des reinen Gedankens, oder die wahre und ächte Speculation ist. Im Gegensatze gegen das Leben in den Ideen wird die Schwärmerei nicht unmittelbar handeln, sondern, dass zufolge derselben gehandelt werde, dazu bedarf es noch eines besonderen Willensentschlusses, bestimmt durch die Lust; die Schwärmerei bleibt sonach für sich Speculation; ferner geht sie nicht auf die Gattung als solche, sondern auf die Person, weil sie lediglich von der Person ausgeht, und auf dasjenige, worin das Leben der Person ruht, auf die sinnliche Natur, und wird darum nothwendig[119] Naturspeculation. Das Leben in den Ideen sonach, was der rohsinnliche Mensch wohl auch Schwärmerei zu nennen sich untersteht, ist von der Schwärmerei sehr scharf geschieden. Von der Vernunftwissenschaft aber, als der ächten Speculation, ist die Schwärmerei schon in einem obigen Absatze der heutigen Rede sattsam unterschieden worden. Um in Beziehung auf Naturphilosophie die ächte Speculation von der falschen, der Schwärmerei, unterscheiden zu können, muss man selber im Besitze der ersteren, oder der Vernunftwissenschaft seyn; und dies ist keinesweges die Sache des ungelehrten Publicums. Ueber diesen Gegenstand, sonach über die letzten Gründe der Natur, diesem Publicum sich mitzutheilen, wird keinem ächten Wissenschaftskundigen einfallen; die speculative Naturlehre setzt wissenschaftliche Bildung voraus, und kann nur wissenschaftlich gefasst werden, und der Ungelehrte bedarf ihrer niemals. In Rücksicht dessen aber, worüber der Wissenschaftskundige sich dem grösseren Publicum mittheilen kann und soll, – in Rücksicht der Ideen, giebt es selber für dieses Publicum ein unfehlbares Kriterium: ob Schwärmerei sey, was man ihm vortrage, oder nicht; dieses: ob das Vorgetragene auf das Handeln sich beziehe und davon rede, oder ob auf eine stehende und ruhende Beschaffenheit der Dinge. So bezieht sich die Hauptfrage, die ich Ihnen, E. V., vom Anfange dieser Reden an vorgelegt, und auf deren von mir vorausgesetzte Beantwortung die ganze Fortsetzung derselben, als auf ihren wahren Grundsatz baut, – die Frage: ob Sie selber sieh wohl entbrechen könnten, ein ganz an die Idee hingeopfertes Leben zu billigen, hochzuachten und zu bewundern, durchaus auf ein Handeln, und auf Ihr Urtheil über dieses Handeln; und darum wurden Sie zwar über alle sinnliche Erfahrungswelt hinaus erhoben, keinesweges aber wurde geschwärmt. Um noch ein bestimmteres Beispiel anzuführen: die Lehre von einem durchaus nicht willkürlich handelnden Gotte, in dessen höherer Kraft wir alle leben, und in diesem Leben zu jeder Stunde selig seyn können und sollen; welche unverständige Menschen sattsam geschlagen zu haben glauben, wenn sie sie Mysticismus nennen; – diese Lehre ist keinesweges[120] Schwärmerei; denn sie gehet auf das Handeln, und zwar auf den innigsten Geist, welcher alles unser Handeln beleben und treiben soll. Schwärmerei würde sie werden nur dadurch, wenn das Vorgeben hinzugefügt würde, dass diese Einsicht aus einem gewissen inneren geheimnissvollen Lichte quelle, welches nicht allen Menschen zugänglich, sondern nur wenigen Auserwählten ertheilt sey, – in welchem Vorgeben der eigentliche Mysticismus besteht: denn dieses Vorgeben verräth eine eigenliebige Betrachtung des eigenen Werthes und einen Hochmuth auf die sinnliche Individualität. Also – die Schwärmerei trägt ausser ihrem inneren, nur von der ächten Speculation gründlich aufzudeckenden Kriterium auch noch das äussere, dass sie niemals Moral- oder Religionsphilosophie ist, welche beide sie vielmehr in ihrer wahren Gestalt inniglich hasset (was sie Religion nennt, ist allemal eine Vergötterung der Natur): sondern dass sie immer Naturphilosophie ist, d.h. dass sie gewisse innere, weiterhin unbegreifliche Eigenschaften in den Gründen der Natur zu erforschen strebt, oder erforscht zu haben glaubt, durch deren Gebrauch sie über den ordentlichen Lauf der Natur hinausgehende Wirkungen hervorzubringen sucht. Dies, sage ich, ist die Schwärmerei nothwendig ihrem Princip zufolge, und dies ist sie auch von jeher wirklich gewesen. Man lasse sich nicht dadurch irre machen, dass sie so oft uns in die Geheimnisse der Geisterwelt einzuführen versprochen, und uns die Mittel, Engel und Erzengel, oder wohl Gott selber zu binden und zu bannen, verrathen wollen: immer geschah dies, um diese Kenntniss zur Hervorbringung von Wirkungen in der Natur zu gebrauchen; jene Geister wurden sonach nicht als Geister, sondern lediglich als Naturkräfte gefasst. Der Hauptzweck war immer der, Zaubermittel auszufinden. – Wenn man die Sache ganz streng nehmen will, wie ich es, um wenigstens durch dieses Beispiel völlig klar zu werden, hier mit Bedacht thue: so ist selber das in der vorigen Rede beschriebene Religionssystem, das von einem willkürlich handelnden Gotte ausgeht, und eine Vermittelung, zwischen ihm und den Menschen annimmt, und vermittelst eines abgeschlossenen Vertrags, entweder durch die Beobachtung[121] einiger willkürlichen und ihrem Zwecke nach unbegreiflichen Satzungen, oder durch einen in seinem Zwecke eben so unbegreiflichen historischen Glauben, sich von Gott gegen anderweitige Beschädigungen loszukaufen glaubt, – selber dieses Religionssystem, sage ich, ist ein solches schwärmerisches Zaubersystem, in welchem Gott nicht als der Heilige, von dem getrennt zu seyn schon allein und ohne weitere Folge das höchste Elend ist, sondern als eine furchtbare, mit verderblichen Wirkungen drohende Naturkraft betrachtet wird, in Beziehung auf welche man nun das Mittel gefunden, sie unschädlich zu machen. oder wohl gar, sie nach unseren Absichten zu lenken.

Dies, E. V. was wir beschrieben und, wie ich, glaube genau bestimmt und von allem damit verwandten abgesondert haben, ist Schwärmerei überhaupt – und mit den angegebenen Grundzügen muss sie allenthalben sich äussern, wo sie sich äussert; auf dem von uns gleichfalls angegebenen Wege kommt sie zu Stande, wo sie blosse Natur ist. In demjenigen Falle, in welchem wir hier von ihr sprechen, als Reaction des dritten Zeitalters gegen sich selber, ist sie nicht blosse Natur, sondern grösstentheils Kunst. Sie geht aus von dem bedachten, Widerstreben gegen das Princip des dritten Zeitalters; von dem Misfallen an der deutlich eingesehenen Leere und Kraftlosigkeit desselben; von der Meinung dass man gegen sie sich nur durch das Gegentheil der allgemeinen Begreiflichkeit, die Unbegreiflichkeit, retten könne; und von dem dadurch entstandenen Entschlusse, ein Unbegreifliches an sich zu bringen: auch ist überdies in des dritten Zeitalters und in aller, die von demselben ausgehen, Natur nur sehr wenig Kraft zum Schwärmen vorhanden. Wie machen es denn also diese, und ihr Unbegreifliches und ihren Theil der Schwärmerei herbeizuschaffen? Sie machen es Also: sie setzen sich hin, um über die verborgenen Grunde der Natur – denn dies ist ja die unwandelbare Sitte der Schwärmerei, dass sie stets die Natur zu ihrem Objecte mache – sich etwas auszudenken, lassen sich einfallen, was ihnen nun eben einfallen will, und sehen sich nun um unter diesen Einfällen, welcher ihnen etwa am besten gefalle begeistern sich[122] auch, falls etwa die Einfälle nicht so recht fliessen, durch physische Reizmittel, – die bekannte und hergebrachte Unterstützung aller Künstler im Schwärmen alter und neuer Zeit unter rohen und gebildeten Völkern; – ein Mittel, durch welches die Klarheit, Besonnenheit und Freiheit der ächten Speculation, die den höchsten Grad der Nüchternheit erfordert, ohnfehlbar aufgehoben wird, und aus dessen Gebrauche für das Produciren schon lediglich und allein sich sicher schliessen lässt, dass nicht speculirt, sondern geschwärmt werde. Will auch durch dieses Hülfsmittel die Ader noch nicht ergiebig genug fliessen, so nehmen sie ihre Zuflucht zu den Schriften ehemaliger Schwärmer, – je seltener und je verschriener diese Schriften sind, desto lieber, nach ihrem Grundsatze, dass alles um so viel besser sey, je mehr es vom herrschenden Zeitgeiste abweiche, – und zieren nun mit diesen fremden Einfällen ihre eigenen aus, falls sie dieselben nicht gar für eigene geben. – Es soll, dass ich dieses im Vorbeigehen anmerke, keinesweges geläugnet werden, dass unter diesen Einfällen der alten verschrienen Schwärmer nicht mehrere vortreffliche Gedanken und genialische Winke vorhanden seyen; wie wir denn selbst den neueren nicht abzusprechen gedenken, dass sie nicht manchen trefflichen Fund machen; aber immer sind diese genialischen Funken von Irrthümern umgeben, und nie sind sie klar: um diese Funken bei jenen herauszufinden, muss man sie schon zu ihnen mitgebracht haben, und keiner wird von ihnen etwas lernen der nicht schon klüger war, denn sie, da er an ihre Lectüre ging.

Alle Schwärmerei geht aus auf irgend eine Art von Zauberei: dies ist ihr beständiger Charakter. Welche Art des Zaubers will denn die Schwärmerei, von der wir hier reden, hervorbringen? Sie ist lediglich wissenschaftlich: wenigstens reden wir hier nur von der wissenschaftlichen Schwärmerei des Zeitalters; ob zwar wohl es noch eine andere für die Kunst, sowie für das Leben gehen dürfte, die wir vielleicht zu einer anderen Zeit charakterisiren werden. Diese wissenschaftliche Schwärmerei muss daher in der Wissenschaft etwas im gewöhnlichen Naturgange unmögliches durch Zauberei bewerkstelligen wollen. Was nun? Die Wissenschaft ist entweder a priori, oder empirisch.[123] Um das Apriorische, theils als erschaffend das Reich der Ideen, theils als bestimmend die Natur, inwieweit es nemlich dieselbe bestimmt, zu erfassen, dazu bedarf es des kalten, ruhigen, unaufhörlich mit sich selbst streitenden, sich berichtigenden und aufklärenden Denkens; und es kostet Zeit und Mühe, und ein halbes aufgewendetes Leben, um es darin zu etwas Bedeutendem zu bringen: – dies ist zu bekannt, als dass hierbei jemand auf Zaubermittel denken sollte; sie halten sich daher von diesem Fache entfernt, – und was sie etwa zur Einfassung ihres eigenen Werkes brauchen, können sie ja von anderen borgen und auf ihre Weise verarbeiten, so dass es niemand merke, und sie können noch um so eher auf Verborgenheit rechnen, wenn sie auf die Geplünderten schimpfen, indess sie dieselben plündern Es bleibt übrig das Empirische. Inwiefern dies nun, nach Ausscheidung alles Apriorischen in der Natur, rein empirisch ist, ist die gewöhnliche Meinung, welche auch wohl die richtige seyn dürfte, dass sich dieses nur durch angestellte Experimente erforschen lasse, und dass jeder mit dem Vorhandenen sich zuvörderst historisch bekannt machen und es sorgfältig nachversuchen müsse; und erst durch neue, auf eine geistvolle Uebersicht des gesammten Vorraths der Erfahrung gebaute Versuche hoffen könne, selbst neu zu werden. Auch dies geht viel zu langsam, und erfordert anhaltende Mühe und Zeit: auch hat man der geschickten Mitarbeiter, die uns die Sachen vorweg erfinden durften, zu viele, so dass man wohl bis an das Ende seines Lebens arbeiten könnte, ohne ein Original zu werden. Hier wäre das Zaubermittel anwendbar, und es thäte noth, eins zu haben. Suche man also kurz und gut durch Einfälle in das Innere der Natur einzudringen, und sich dadurch des mühsamen Lernens und der leidigen, gegen alle unsere vorgefassten Systeme ausfallen könnenden Versuche zu überheben.

Schon wegen des allgemeinen Hanges zum Wunderbaren in der menschlichen Natur kann dieses Vorhaben nicht verfehlen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und Hoffnung zu erregen. Mögen auch die Alten, welche jenen Weg des mühsamen Erlernens schon zurückgelegt und vielleicht[124] selbst glückliche und fruchtbare Versuche angestellt haben, ein wenig scheel dazu sehen, dass sie diese frucht- und ruhmlose Mühe übernommen, und dass die Entdeckungen ihrer Versuche ihnen nun in ein paar Perioden a priori demonstrirt werden, welche sie ja in alle Wege statt jener Experimente auch hätten finden können; und, dass die Wunderlehre nicht schon damals erschien, als sie noch jung waren: – desto willkommener wird den Jünglingen, welche jenen Weg noch nicht gemacht haben und jetzt an der Stufe stehen, wo sie nach der alten Sitte ihn zu machen hätten, die Verheissung seyn, sie desselben lediglich durch eine Reihe von Paragraphen zu überheben. Erfolgt auch, wie es das gewöhnliche Schicksal der Zauberkünste ist, in der That kein Zauber; entstehen keine neuen empirischen Erkenntnisse, und bleiben die Gläubigen gerade so wissend, oder so unwissend, als sie vorher waren; – ist auch offenbar, oder könnte wenigstens jedem, der nicht blind ist, offenbar seyn, dass das Wesentliche der zum Beispiele angeführten empirischen Kenntnisse durchaus nicht a priori deducirt, oder durch das ganze Räsonnement auch nur berührt sey, sondern lediglich aus dem ehemals gemachten Versuche als bekannt vorausgesetzt und nur in eine allegorische Form gezwängt werde, in welcher Einzwängung nun eben die vorgebliche Deduction besteht; – wird auch der Wunderthäter der Anmuthung, die man nothwendig an ihn machen müsste, dass er wenigstens durch Eine eingetroffene Prophezeiung seine höhere Sendung documentire, nie genügen, noch, wie er sollte, in einer durch Schlüsse aus der bisherigen Erfahrung unerreichbaren Region, ein, weder von ihm, noch von einem anderen je gemachtes Experiment angeben und dessen Erfolg bestimmt vorhersagen, so dass es bei der wirklichen Vollziehung des Experiments sich also fände, sondern immer, wie alle falschen Propheten fortfahren, erst nach der That das geschehene a priori zu prophezeien; – wird auch dieses alles ohne Zweifel sich also verhalten: so wird dennoch der bekannte Glaube der Adepten nicht wanken; – heute zwar ist der Process nicht gelungen, aber den nächsten siebenten oder neunten Tag gelingt er gewiss.[125]

Es kommt zu diesem Reizmittel des Beifalls noch ein anderes, sehr tief greifendes. Nemlich: der menschliche Geist, sich selbst überlassen und ohne Zucht und Erziehung, mag weder müssig seyn, noch geschäftig; wenn ein Mittelding zwischen beiden erfunden würde, so wäre dies ihm das Rechte. Ganz müssig zu gehen und nichts zu thun, macht doch zu grosse Langeweile, – und hat man unglücklicherweise das Studiren zu seinem Geschäfte gemacht, so ist zu erwarten, dass man nichts lernen werde, was, um der Folgen willen, abermals übel ist. Wahrhaft nachdenken und speculiren ist lästig, und fördert nicht; etwas lernen strengt Aufmerksamkeit und Gedächtniss gleichfalls an. Es trete die Phantasie ins Mittel! Trifft es nun ein glücklicher Meister diese in Schwung zu bringen, – und wie könnte es ihm fehlen, wenn er ein Schwärmer ist, da Schwärmerei die Unbewachten und Unerfahrenen allemal sicher ergreift, – so geht die Phantasie ohne alle weitere Mühe ihres Inhabers ihren Weg fort und regt sich, und lebt bunt und immer bunter, und bildet die Erscheinung einer sehr raschen Thätigkeit, ohne dass wir selber die geringste Mühe aufzuwenden haben; es wird in uns selbst gar kühnlich selbst gedacht, ohne dass wir selbst zu denken nöthig haben, – und das Studiren ist in das lustigste Geschäft von der Welt verwandelt worden. – Und nun zumal der herrliche Erfolg, – kaum der Schule entgangen, oder noch auf ihr befindlich, den bewährtesten Männern in der Empirie mit Einfällen, die sie freilich, mit der Natur ihrer Wissenschaft zu gut bekannt, nie haben konnten, in den Weg zu treten, und über ihre augenblickliche Verlegenheit durch unser absolutes Fehlgreifen, als über ein Geständniss ihrer eigenen Schwäche, die Achseln zucken, und uns selber segnen und benedeien zu können!

Es konnte uns während dieser Schilderung weder unbekannt seyn, noch entgehen, dass absolut unwissenschaftliche Menschen über die Bemühungen der ächten Speculation und über die Freunde derselben ohngefähr eben also sich vernehmen lassen. Wir geben diesen zu, dass, da sie alle Speculation für Schwärmerei halten müssen, weil für sie überhaupt nichts denn Erfahrung vorhanden ist, sie Dach ihrer Weise völlig recht[126] haben; und von unserer Seite, die wir ein über alle Erfahrung hinaus Liegendes, zugleich aber, und gerade um des ersten willen und zufolge des ersten, auch Erfahrung, die durchaus Erfahrung bleibe, behaupten, – von unserer Seite kann der auf eine ähnliche Verirrung gehende Tadel, vermeinte Speculation da einzuführen, wo nur Erfahrung gilt, nicht füglich sich anders ausdrücken, als ebenso. Auch kommt es überhaupt nicht auf den Ausdruck an, sondern darauf, ob man verstehe, wovon die Rede sey, und Rede zu stehen sich getraue einem jeden, der es auch versteht; worüber wir, sey es auch nur durch das in der heutigen Rede Gesagte, uns wohl legitimirt zu haben glauben. Oeffentlich stillzuschweigen über offenbaren Unsinn, der in unsere nächsten Cirkel nicht eingreift, ist erlaubt; und wir würden auch in diesem engeren Cirkel die wenigen, heute gesagten Worte nicht verloren haben, wenn nicht die Vollständigkeit der ganzen versprochenen Abhandlung diese wenigen Worte erfordert hätte.

In Summa: dies dürfte wohl der Geist seyn der bestimmten Periode unseres Zeitalters, in welcher wir leben: Das System der allein geltenden nüchternen Erfahrung dürfte im Ersterben begriffen seyn, und dagegen das System einer Schwärmerei, die durch eine vermeinte Speculation die Erfahrung selbst aus dem Gebiete verdrängen wird, das ihr allein gehört, mit allen ihren Ordnung zerstörenden Folgen, seine Herrschaft beginnen, um das Geschlecht, welches das erste System sich gefallen liess, dafür grausam zu bestrafen. Mittel gegen diesen Andrang vorzukehren, ist vergeblich; denn das ist nun einmal der Hang des Zeitalters, welcher Hang noch überdies ausgerüstet ist mit allen übrigen Lieblingstendenzen desselben. Wohl hierbei dem Weisen, der über sein Zeitalter und über alle Zeit sich erhebt; der es weiss, dass die Zeit überhaupt nichts ist, und dass eine höhere Leitung, durch alle scheinbaren Umwege ganz sicher unsere Gattung ihrem wahren Ziele zuführt![127]

Quelle:
Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Band 7, Berlin 1845/1846, S. 111-128.
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Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

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