4. Das Mythologische.

[249] Die philosophischen Systeme haben ebensowenig wie die Religionen Buddhas und Jinas mit den mythologischen[249] Anschauungen des Volkes gebrochen. Die Existenz der Götter, Halbgötter und Dämonen wird nicht bestritten, wohl auch nicht bezweifelt, ist aber von geringer Bedeutung. Zwar sind die Götter höher organisierte und glücklichere Wesen als die Menschen; aber sie stehen ebenso wie diese innerhalb des Samsâra und müssen, wenn sie nicht die erlösende Erkenntnis gewinnen und damit aus dem Weltdasein ausscheiden, wieder ihre Leiber wechseln43. Der Macht des Todes sind auch sie nicht entronnen, und deshalb stehen sie tiefer als derjenige Mensch, der das höchste Ziel erreicht hat. Viel leichter als die Erreichung dieses Zieles ist es, sich durch Tugend und gute Werke zu göttlichem Bange zu erheben und nach dem Tode auf dem Monde oder in der Welt Indras, Brahmans usw. – auch wohl in der Person eines dieser Götter – wiedergeboren zu werden; nur törichte Menschen trachten nach solchem vergänglichen Glück.

Wie der Glaube an überirdische Wesen und himmlische Stätten, ist natürlich auch der an Höllen, in die der Böse herabsinkt, um seine Sünden abzubüßen, in die Systeme übergegangen44. Alle diese mythologischen Vorstellungen aber werden in den Lehrbüchern des Vedânta-Systems, das sich in der aparâ vidyâ, der ›niederen Wissenschaft‹ auf den religiösen Standpunkt stellt, viel eingehender berücksichtigt als in den Sâmkhya-Schriften. Hier werden sie eigentlich nur herangezogen, wo es sich um den Lohn des Frommen und die Strafe des Unfrommen handelt, oder wo die Bedeutung der Erlösung, des absoluten und endgiltigen Aufhörens des Schmerzes, durch Vergleichung mit den untergeordneteren Zielen, denen die Religion zustrebt, in das[250] rechte Licht gesetzt werden soll. Für das Sâmkhya-System als solches ist die indische Mythologie belanglos.

Unter den Sâmkhya-Lehrern hat allein Vijñânabhikṣu, der, wie wir schon mehrfach sahen, kein konsequenter Vertreter unseres Systems war, an einigen Stellen Gelegenheit genommen, die volkstümlichen Anschauungen des Brahmanentums mit den Lehren der Sâmkhya-Philosophie auf die in den Purâṇas übliche Art und Weise zu verschmelzen. Er erklärt45 den Âdipuruṣa, den Urgeist, d.h. Viṣṇu, für diejenige Seele, die beim Beginn dieser Schöpfung vor allen anderen gleich ewigen Seelen wegen früher erworbener Verdienste sich mit der Buddhi, der ersten Entfaltung der Urmaterie und der Trägerin der höheren psychischen Vorgänge, verbunden hat. Die Buddhi Viṣṇus ist nach Vijñânabhikṣu nicht von derselben Art, wie bei uns gewöhnlichen Menschen, sondern von universeller Natur; sie besteht aus reinem Sattva und ist deshalb nur der auf Güte und Wohlwollen beruhenden Funktionen fähig; außerdem befindet sie sich im Besitz des höchsten Maßes von Erkennen, Stärke und übernatürlicher Kraft. Das Höchste aber, was unser Autor von Viṣṇu aussagen kann46, ist, daß er an der Spitze der bei Lebzeiten Erlösten stehe; denn über den Bang eines Jîvanmukta kann kein Wesen, auch der größte der Götter nicht, hinausgelangen. Im Kreise dieser Glücklichen, die die unterscheidende Erkenntnis errungen haben, ist selbst Viṣṇu nur ein primus inter pares.

In ähnlicher Weise werden von Vijñânabhikṣu47 Brahman (oder Hiraṇyagarbha)48 und Śiva als diejenigen Seelen bezeichnet, die sich mit dem kosmischen Ahamkâra, der zweiten Entfaltung der Urmaterie und dem Träger des zum Handeln antreibenden Ichbewußtseins, verbunden haben49. Dadurch[251] soll die schaffende Tätigkeit Brahmans und das zerstörende Wirken Śivas erklärt werden.

Schließlich erwähnt Vijñânabhikṣu noch50 die gangbare Vorstellung von den (zugleich als Lenker der Sinnesorgane geltenden) Göttern der Erde, der Luft, des Feuers und des Wassers, indem er diese für Geister erklärt, die durch den Wahn gebunden sind, daß die Naturelemente ihr Selbst seien.

Nur der Vollständigkeit wegen sind diese sich nicht durch Klarheit auszeichnenden Vorstellungen hier mit angeführt worden.

43

S. oben S. 240 fg. Immer und immer wieder wird in den Sâmkhya-Texten versichert, daß auch aus den himmlischen Welten eine Wiederkehr zu neuen Daseinsformen stattfinde. S. in den Indices zu meinen Textausgaben unter âvṛtti, anâvṛtti und punarâvṛtti. Über die entsprechenden Anschauungen im Vedânta vgl. Deussen 68 fg., im Buddhismus Oldenberg, Buddha6 246 Anm. 1.

44

Vgl. Sâmkhyakârikâ 44, und wegen des Vedânta Deussen 412-414.

45

Zu Sûtra I. 96, 154, V. 5, VI. 64, 66.

46

Zu Sûtra V. 47.

47

Zu Sûtra VI. 64.

48

Vgl. meinen Index zum Sâmkhya-pravacana-bhâṣya s.v.

49

S. schon oben S. 60.

50

Zu Sûtra II. 13, 18, 21. Vgl. Deussen, System des Vedânta 70.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 249-252.
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