3. Der Wert der Askese.

[245] Barthélemy Saint-Hilaire34 erhebt gegen Kapila den Vorwurf, daß er, wie alle Kinder seiner Zeit und seines Landes, an die Magie geglaubt habe, d.h. an die wunderbaren, angeblich durch die Askese zu gewinnenden Kräfte, durch die man Herr über die Naturgesetze wird und den natürlichen Lauf der Dinge zu ändern vermag. Daß der Begründer der Sâmkhya-Philosophie diesen Aberglauben geteilt[245] hat, läßt sich nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit beweisen; denn das einfache System, das wir auf ihn zurückführen müssen, schließt nicht die Notwendigkeit solcher Auswüchse ein; und die Schriften, die uns die Sâmkhya-Philosophie mit jenen phantastischen Vorstellungen durchsetzt zeigen, sind ja erst viele Jahrhunderte nach Kapila entstanden. Gleichwohl läßt sich nicht bezweifeln, daß Kapila wirklich an die übernatürliche Macht der Askese geglaubt hat; er wäre sonst kein echter Inder gewesen. Denn dieser Wahn hat seit Alters her, wie wenige Ideen sonst, dem ganzen indischen Volk bis auf die neuesten Zeiten für eine selbstverständliche Wahrheit gegolten.

Das Wort für Askese, tapas, bedeutete ursprünglich ›Erhitzung‹ im wörtlichen Sinne, das durch Kasteiung hervorgerufene Schwitzen; dann ›innere Erhitzung, Ekstase‹. Dieser Begriff weist uns in die ethnologische Periode zurück, die noch heute die wilden Völkerschaften einnehmen und in fernster Vergangenheit auch die Vorfahren der indogermanischen Völker eingenommen haben, – eine Periode, aus der namentlich Oldenberg in seiner »Religion des Veda« (S. 401-407 und sonst) so wertvolle Aufschlüsse gewonnen hat35. Aus dem Charakter der vedischen Hymnendichtung erklärt es sich, daß dieser uralte Begriff des Tapas uns erst[246] in jüngeren Liedern des Rigveda entgegentritt. Häufiger erscheint er im Yajur- und Atharvaveda, den Sammlungen der Opfer- und Zaubersprüche, und noch häufiger in der Literatur der Brâhmaṇas und Upaniṣads. Oftmals wird das Tapas hier als eine kosmogonische Potenz behandelt, durch die der Weltenschöpfer die Wesen und Dinge hervorbringt; der beste Beweis dafür, daß schon in dieser Zeit der Askese kaum eine geringere Macht zugeschrieben wurde als später in der epischen und in der klassischen Sanskritliteratur, wo dieser Glaube den abenteuerlichen Ausdruck gefunden hat, daß alle Götter vor der Bußkraft des Asketen in Entsetzen geraten und dieser geradezu ein allmächtiger Zauberer ist.

Ursprünglich hat das Tapas in Indien in körperlicher Selbstpeinigung und deren neuropathischen Folgen bestanden; erst als die religiösen Bedürfnisse des Volkes sich verinnerlichten, wurde auch der Schwerpunkt der Askese in die Meditation und Versenkung verlegt. Der Begriff des Yoga oder der geistigen Askese trat in den Vordergrund, und das Tapas oder die körperliche Askese wurde zu einem Hilfsmittel zur Steigerung des Yoga herabgedrückt36; doch lag es in der Natur der Sache, daß die beiden Begriffe in der Folgezeit kaum voneinander geschieden wurden und daß die Yogapraxis manche Elemente enthält, die ursprünglich unter den Begriff des Tapas fielen.

Gough37 sucht die Entstehung der Yoga-Praxis, ebenso wie den Glauben an die Seelenwanderung38, auf den Einfluß der wilden Völkerschaften, mit denen die eingewanderte[247] Rasse verschmolz, zurückzuführen, und beruft sich auch in diesem Falle auf Tylors Primitive Culture (I. 277). Es ist natürlich nicht unmöglich, daß bei der künstlichen Ausbildung der Yoga-Lehre etwaige fremde Vorbilder eine gewisse Einwirkung ausgeübt haben können; aber beweisbar ist dies hier ebensowenig wie im Falle der Lehre von der Seelenwanderung.

Die Askese wird in Indien allgemein nicht nur als ein Mittel zur Erreichung der wunderbaren Kräfte angesehen, sondern auch als das wirksamste Hilfsmittel zur Gewinnung der erlösenden Erkenntnis. Das besondere Hervortreten dieser Anschauung in den Sâmkhya-Schriften beruht sicherlich darauf, daß die Yoga-Lehre auf unser System gegründet ist. Es war nur zu natürlich, daß nach der Verbreitung der Yoga-Lehre die Anhänger der Sâmkhya-Philosophie die in jenem System niedergelegten Anschauungen übernahmen, soweit sie nicht den Lehren ihres eigenen Systems widersprachen. Ein Teil der hier in Betracht kommenden Vorstellungen hat bereits bei der Erörterung der Anforderungen des Sâmkhya-Systems S. 206 fg. zur Sprache gebracht werden müssen; der Rest möge hier seine Stelle finden.

Der Yogin, d.h. derjenige Asket, der durch die Ausübung der Yoga-Praxis die in Aussicht gestellten Ziele erreicht hat, bringt durch seinen bloßen Willen alles, was er wünscht, zustande. Diese Macht wird aus dem von dem Yogin erworbenen Verdienst oder aus der Stärke seiner Kontemplation abgeleitet, und es wird ausdrücklich bemerkt, daß die von ihm geschaffenen Dinge nicht etwa illusorisch, sondern real seien39. Wie der Yogin allmächtig ist, so ist er auch allwissend; er sieht nicht nur die Dinge, die der Wahrnehmung gewöhnlicher Menschenkinder durch Dazwischenliegendes entrückt sind; er schaut auch in die Vergangenheit und Zukunft. Diese Vorstellung wird durch[248] die Sâmkhya-Lehre von der steten Realität der Produkte (sat-kârya-vâda) begründet; auch das Gewesene, d.h. das in seine materielle Ursache Aufgegangene, und das Zukünftige, d.h. das noch nicht aus seiner Ursache Hervorgegangene, existiert ebenso gut wie das Gegenwärtige, nur in einem anderen Stadium. Das innere Organ des Yogin nun steht in unmittelbarer Verbindung mit der Urmaterie, aus der alles entsteht und in die alles zurücksinkt, und dadurch zugleich »mit jeder Zeit, mit allem Raum und mit allen Objekten«40. Noch in anderer Weise denkt man sich bei dem Yogin die Kräfte der Organe in übernatürlicher Weise gesteigert Diejenigen Dinge, die für andere Menschen unsichtbar sind – die Seelen, die Urmaterie und die Grundstoffe, die sich noch nicht durch gegenseitige Verbindung zu grobem Stoff entwickelt haben – werden von dem Yogin gesehen, nicht durch innere Anschauung, sondern durch wirkliche Sinneswahrnehmung41. Der Yogin nimmt also auch in bezug auf den Körper eine Sonderstellung unter allen Wesen ein. Das Sâmkhya-System unterscheidet drei Kategorien von Körpern mit Rücksicht auf deren vorwaltende Eigentümlichkeit: handelnde (karma-deha), genießende, bezw. leidende (upabhoga-deha), und Körper beiderlei Art (ubhaya-deha). Der Leib des Yogin aber ist von allen dreien verschieden, da seine charakteristischste Eigentümlichkeit weder Handeln noch Genießen ist, sondern das Zeitigen der Erkenntnis42.

34

Premier Mémoire 389.

35

Vgl. auch die zusammenfassenden Sätze Oldenbergs in der Deutschen Rundschau, November 1895, S. 211: »Wer sich zu besonders heiligen Riten vorbereiten wollte, verfuhr wie noch heute der Wilde verfährt, wenn er sich in den gehobenen Zustand versetzen will, in welchem der Mensch des Verkehrs mit der Geisterwelt teilhaftig wird. Der Vollzieher des Somaopfers rüstete sich zu seinem heiligen Werk, indem er längere Zeit, in dunkle Tierfelle gehüllt, stammelnde Sprache redend, fastend bis ›nichts mehr in ihm ist, Haut und Knochen aneinander hängen, das Schwarze in seinen Augen verschwindet‹, sich neben dem dämonenverscheuchenden Zauberfeuer aufhielt und den Zustand innerer Erhitzung (Tapas) in sich hervorbrachte: ein Verfahren, welches inmitten des vedischen Rituals als ein unverständlicher Rest aus ferner Vorzeit dasteht, das aber der heutige Indianer oder Zulu, dem ganz ähnliche Gebräuche geläufig sind, sofort begreifen würde.«

36

Das Wort yoga tritt in dieser Bedeutung erst beträchtlich später auf als tapas, ist aber immerhin, wie aus Jacobs Concordance zu ersehen ist, in den Upaniṣads mittleren Alters ziemlich häufig. In der Maitrî Up. (VI. 18) finden wir bereits die in dem späteren Yoga-System vorgeschriebene Technik fast vollständig entwickelt. Daß der Buddhismus die Übung der Versenkung sehr hoch schätzte, aber die leibliche Askese verwarf, auf die der Jinismus großes Gewicht legte, ist allgemein bekannt.

37

Philosophy of the Upanishads 18, 19.

38

Vgl. oben S. 235 fg.

39

Sâmkhyasûtra III. 28, 29 nach Aniruddhas und Mahâdevas Erklärungen.

40

Sûtra I. 90, 91 nebst den Kommentaren und Vijñânabhikṣu zu I. 121.

41

Vijñ. zu Sûtra I. 109, III. 1.

42

Sûtra V. 125, 126 (124, 125 Vijñ.). Hier ist der Yogin mit dem seltenen Worte anuśayin bezeichnet, d.h. nach Vijñ. ›der Gleichgiltige‹, nach den anderen Kommentatoren besser ›derjenige, von dessen Werken nur noch ein Rest übrig geblieben ist‹.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 245-249.
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