2. Die Erlösung bei Lebzeiten.

[242] Welcher Art auch die Erkenntnis sein mag, deren Erreichung für die einzelnen Systeme die Befreiung aus den Banden des Samsâra bedeutet, überall begegnen wir der Anschauung, daß derjenige, der die Erkenntnis gewonnen hat, des erreichten Zieles nicht mehr verlustig gehen kann. Mit dem Augenblick, in dem das Wesen der Dinge in voller Klarheit vor dem inneren Auge erscheint und damit die unerschütterliche Gewißheit der errungenen Erlösung eintritt, hat das Gesetz der Vergeltung über den Weisen seine Macht verloren. Die allseitige Übereinstimmung nötigt uns, auch diese Idee zu den allgemein-indischen zu rechnen, obschon die geläufigen technischen Ausdrücke jîvanmukta ›bei Lebzeiten erlöst‹ und jîvanmukti ›Erlösung bei Lebzeiten‹ erst in späterer Zeit gebildet und noch nicht einmal bei Śamkara nachzuweisen sind24. Ein unmittelbares Zeugnis für den Glauben an die jîvanmukti aus alter Zeit haben wir in der Stelle Chîndogya Upaniṣad VI. 14. 2: »Nur so lange dauert es bei ihm, als er glaubt, daß er nicht erlöst werden und sein Ziel erreichen werde.« Auch der Buddhismus kennt schon in seinen frühesten Zeiten den Glauben an die Erlösung bei Lebzeiten25.

Ich belege im folgenden die hier in Betracht kommenden Vorstellungen ausschließlich aus der Sâmkhya-Literatur26,[242] da man sich von dem Vorhandensein der gleichen Anschauungen in den anderen Systemen aus Nîlakaṇṭha-Hall, Rational Refutation 29-34 und Deussens System des Vedânta 452-460 (vgl. auch 382) überzeugen kann.

Den Beweis für die Existenz von Jîvanmuktas, den das Sâmkhyasûtra III. 79 in der Tatsache erblickt, daß es Lehrer der Wahrheit gegeben hat und gibt, als welche nur bei Lebzeiten Erlöste auftreten könnten, dürfen wir wie so manche andere Wunderlichkeiten unserer Texte auf sich beruhen lassen.

Der Einwand, daß nach dem Zusammenhang des Systems unmittelbar, nachdem die Erkenntnis der Wahrheit eingetreten ist, das Leben des Erlösten erlöschen müsse, wird durch das auch in den Vedânta-Schriften geläufige Gleichnis von der Töpferscheibe zurückgewiesen, die infolge des gegebenen Anstoßes auch nach der Fertigstellung des Topfes noch fortschwingt27. Vâcaspatimiśra bemerkt dazu28: »Infolge des Entstehens der Erkenntnis der Wahrheit ist die Menge der Werkansammlungen, obwohl sie anfangslos ist und die Zeit für ihr Heranreifen [zum Zwecke der Vergeltung] nicht feststeht, nicht mehr geeignet, Früchte – d.h. die Leiden einer neuen Existenz – zu zeitigen, weil die Keimkraft der Werke verbrannt ist. Denn wenn der Boden des Innenorgans mit dem Wasser der Fehler [d.h. des Nichtwissens, der Begierde usw.] getränkt ist, so treiben die Werksamen ihre Sprossen; wie aber können die Werksamen auf einem unfruchtbaren Salzboden, auf dem das gesamte Wasser der Fehler von der Glut der Erkenntnis der Wahrheit aufgesogen ist, ihre Sprossen treiben?« Und im Anschluß daran führt er aus, daß das gegenwärtige Leben auf solchen früheren Werken beruht, deren Same schon vor der Erreichung der erlösenden Erkenntnis aufgegangen ist und begonnen hat zu reifen29.[243] Diese Werke also sind die Triebfedern für die Fortdauer des Leibeslebens der Erlösten; ihre Frucht ist bis auf den letzten Rest zu genießen, und darum erfährt der Jîvanmukta auch noch Freude und Schmerz wie alle anderen Wesen, obschon nicht in demselben Grade30. »Wenn infolge eines [im Innenorgan hervorgebrachten] Eindrucks« – sagt Vijñânabhikṣu zu Sûtra V. 120 mit Bezug auf den bei Lebzeiten Erlösten – »im Körper der Götter oder [Menschen] eine Empfindung begonnen hat, so wirkt dieser Eindruck so lange, bis die Empfindung, welche angefangen hat sich geltend zu machen und von dem betreffenden Körper auszukosten ist, ihr Ende erreicht hat; und dieser [Eindruck] wird nur durch das Ende der Empfindung vernichtet, ebenso wie die [Kraft der] Werke [nur durch das Ende des Resultats, das sie gezeitigt haben].«

Was nun aber auch der Jîvanmukta nach dem entscheidenden Wendepunkt in seinem Dasein noch tun und treiben möge, – und wenig genug kann es ja nur sein, da er von völliger Gleichgiltigkeit gegen die Dinge dieser Welt (der Vorbedingung für die Erreichung des erlösenden Wissens) erfüllt ist –, aus seinen Handlungen erwächst kein Verdienst und keine Schuld mehr; die Erkenntnis löst die nachwirkende Kraft seines Tuns auf, ebenso wie sie das Verdienst und die Schuld aller früheren Werke, die noch nicht angefangen haben Frucht zu tragen, vernichtet hat. Wenn dann endlich die Werke, welche die Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens bedingen, abgebüßt sind und »die Trennung vom Körper erreicht ist, so erlangt die Seele die unbedingte und absolute Isolierung31«. Erst dann, mit der Vernichtung des inneren Organs im Tode des Erlösten, ist der Schmerz vollständig und für alle Ewigkeit aufgehoben32.[244]

Anhangsweise sei hier eine der spätesten Entwicklung des Sâmkhya-Systems angehörende Vorstellung erwähnt, durch welche die klaren soeben dargelegten Anschauungen etwas verwischt wurden.

Wie wir S. 207 erkannten, hat die mit der echten Sâmkhya-Lehre nicht zu vereinigende Theorie der Yoga-Philosophie von den drei Stufen der unterscheidenden Erkenntnis Eingang in die Sâmkhya sûtras (III. 77-79) gefunden. Die Folge davon war, daß man eine dieser drei Stufen für den Standpunkt des Jîvanmukta erklären mußte. Die niedere konnte es nicht sein, weil der auf ihr angelangte noch weiterer Aufklärung bedarf; die höchste war deshalb ausgeschlossen, weil auf ihr die Konzentration bis zu der Bewußtlosigkeit gesteigert ist, »aus der es kein Auferstehen gibt«, mithin der Tod unmittelbar bevorsteht. So blieb, als für den Jîvanmukta in Anspruch zu nehmen, allein die ›mittlere Unterscheidung‹ übrig, in der nur noch die Eindrücke der früheren Erfahrung bestehen bleiben, aber alle Begierden geschwunden sind und der Weise in der Gewißheit lebt, daß er durch Genießen und Leiden die Kraft derjenigen Werke aufbraucht, deren Frucht heranzureifen begonnen hat33.

24

Deussen, System des Vedânta 460.

25

Pischel, Leben und Lehre des Buddha2 72, 73.

26

Vgl. die Darstellung bei Barthélemy Saint-Hilaire, Premier Mémoire 473-476.

27

Kârikâ 67, Sûtra III. 82.

28

Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 67.

29

S. auch Vijñânabhikṣu zu Sûtra I. 1, Seite 13, 14 meiner Übersetzung.

30

Vgl. Vijñânabhikṣu zu Sûtra III. 77, 83, und seine Einleitung zu V. 120.

31

Kârikâ 68.

32

Dadurch unterscheidet sich die videhamukti, die endgiltige Erlösung nach dem Tode, von der jîvanmukti. Vijñânabhikṣu zu I. 1, Mahâdeva zu III. 77.

33

Aniruddha zu III. 77.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 242-245.
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