1. Der Atheismus.

[253] Einer der charakteristischsten Züge der Sâmkhya-Philosophie ist die Entschiedenheit, mit der das Dasein Gottes geleugnet wird. Daß die Anerkennung der Volksgötter diesem Atheismus keinen Eintrag tut, ergibt sich schon aus dem eben Bemerkten und wird noch ausdrücklich im Sâmkhyasûtra III. 56, 57 begründet. Der Glaube an gewordene und vergängliche Götter (janyeśvara, kâryeśvara)1 hat nichts mit der Frage nach dem ewigen Gott (nityeśvara) zu tun, von dem andere annehmen, daß er die Welt durch seinen Willen geschaffen habe. Der Gebrauch eines besonderen Wortes (îśvara ›der Mächtige‹) in der indischen Philosophie ist offenbar aus dem Bestreben hervorgegangen, diesen Gott von den Göttern (deva) auch im sprachlichen Ausdruck zu unterscheiden.

Die Gottesleugnung (nirîśvara-vâda) des Sâmkhya-Systems ist im wesentlichen das Ergebnis folgender Anschauungen: 1. der Lehre, daß der bewußtlosen Materie die sich mit Naturnotwendigkeit betätigende Kraft innewohne, für die rein rezeptiven Seelen sich zu entfalten, und 2. der allgemein-indischen Vorstellung von der Nachwirkung des Tuns der[253] lebenden Wesen, die jene Naturkraft anregt und ihrer Tätigkeit die Bahnen weist. Andere Gründe scheinen dazu getreten zu sein, vor allem wohl die Erkenntnis, daß auf dem Boden des Theismus das Problem der Entstehung des Unglücks nicht zu lösen ist, – ein Gedanke, den wir in der bedeutungsvollen Stelle Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 57 als eine Hauptstütze der atheistischen Welterklärung verwendet finden. Es heißt daselbst: »[Jedes] bewußte Handeln ist ausnahmslos bedingt entweder durch einen egoistischen Zweck oder durch Güte. Und da diese beiden [Motive] bei der Weltschöpfung ausgeschlossen sind, machen sie auch [die Annahme] unmöglich, daß [die Erschaffung der Welt] auf bewußtem Handeln beruht. Denn ein Gott, dessen Wünsche doch alle erfüllt sind, kann an der Erschaffung der Welt [schlechthin] kein Interesse gehabt haben; [die Möglichkeit eines egoistischen Zweckes fällt also fort. Aber] auch aus Güte kann [Gott] nicht die Schöpfung unternommen haben; denn da vor dem Schöpfungsakt die Seelen keinen Schmerz litten, weil noch keine Sinne, Körper und Objekte entstanden waren, wovon konnte die Güte [Gottes die Seelen] befreit zu sehen wünschen? Wenn man [aber] meint, [daß] die Güte [Gottes sich später zeigte,] als er nach dem Schöpfungsakt [seine Geschöpfe] leid voll sah, so wird man schwerlich über den circulus vitiosus hinwegkommen: infolge der Güte die Schöpfung und infolge der Schöpfung die Güte! Ferner würde ein durch Güte getriebener Gott nur freudvolle Geschöpfe schaffen, [aber] nicht solche in verschiedenartigen Lagen. Wenn [uns hierauf eingewendet wird:] ›die Verschiedenartigkeit folgt aus der Verschiedenartigkeit des Werkes, [dessen Lohn die Individuen von Gott empfangen]‹, so [antworten wir: Dann aber] ist doch die Leitung des Werkes von Seiten jenes bewußten [höchsten Wesens vollständig] überflüssig; denn die Wirksamkeit des [von den Individuen vollbrachten] Werkes [d.h. die nachwirkende Kraft des Verdienstes und der Schuld] erklärt sich trotz[254] der Ungeistigkeit [des Werkes] völlig ohne eine Oberleitung von Seiten jenes [Gottes]. Auch das Nichtwiederentstehen des Schmerzes, [nachdem die Erlösung erreicht ist,] begreift sich sehr wohl [auf Grund dieser Theorie], da, [wenn die nachwirkende Kraft des Werkes durch die unterscheidende Erkenntnis aufgehoben ist], die Produkte jener [Kraft], d.h. Körper, Sinne und Objekte, [mithin auch die Schmerzen] nicht [wieder] entstehen können. – Das [von uns angenommene] Wirken der ungeistigen Materie dagegen birgt weder einen egoistischen Zweck in sich, noch ist die Güte sein Motiv; und deshalb kann man gegen [unsere Theorie] nicht geltend machen, daß die genannten Widerlegungsgründe [auch] auf sie Anwendung finden. Vielmehr ist als Motiv allein die [unbewußte] Betreibung der Zwecke eines anderen [d.h. der Seele] berechtigt2

Eine gewisse Ergänzung zu diesen bemerkenswerten Ausführungen liefert Vijñânabhikṣu in seinem Kommentar zu Sûtra VI. 65: »Auch auf dem theistischen Standpunkt kann man nicht sagen, daß die Manifestierung der Produkte einfach durch Gott bewirkt werde, weil Gott dann parteiisch [im Verteilen von Freude und Schmerz] und grausam [weil den Schmerz erschaffend] sein würde. Diese Parteilichkeit und [Grausamkeit] müssen die Theisten dadurch widerlegen, [daß sie lehren,] Gott berücksichtige [bei der Verteilung von Freude und Schmerz] die Werke [der Individuen]. Wenn nun Gott diese Werke lenkte, so würde er [wiederum dem Vorwurf] der Parteilichkeit und [Grausamkeit] ausgesetzt sein«. Solche und ähnliche Erwägungen hatten sich[255] gewiß schon dem Begründer der Sâmkhya-Philosophie aufgedrängt, als er sich zu dem kühnen Schritte entschloß, offen den Atheismus zu bekennen. Daß keine andere Lehre des Sâmkhya-Systems so oft und so heftig angegriffen sein wird als diese, dürfen wir schon aus der Einfügung des persönlichen Gottes schließen, durch die das Yoga-System, die Tochter des Sâmkhya, die Gedanken Kapilas in Indien annehmbarer zu machen suchte. Die strengen Anhänger der Sâmkhya-Philosophie bemühten sich auf der anderen Seite, aus ihrem eigenen System neue Gründe zur Abwehr der Angriffe gegen die Gottesleugnung abzuleiten. Sie stellten vor allen Dingen die sophistische Alternative: soll Gott eine erlöste oder eine gebundene Seele sein? Als erlöste, d.h. mit keinem Leibe und keinem Innenorgan verbundene Seele würde Gott ohne alle Qualitäten und besonders ohne Wunsch und Willen, der notwendigen Vorbedingung für alle schöpferische Tätigkeit, sein; es würde ihm ebenso jeglicher Beweggrund für die Leitung der Welt fehlen. Als gebundene Seele würde Gott dem Samsâra angehören und, wie alle anderen Wesen, betört und mit weltlichen Schwächen behaftet sein, in welchem Falle er wiederum nicht Schöpfer und Leiter der Welt, sondern nur ein nomineller (pâribhâṣika) Gott sein könnte, der mit dem Anfang dieser Weltperiode entsteht und mit ihrem Ende vergeht3. Wenn ein Theist gegen diese Beweisführung den nahe liegenden Einwand erhebt, daß Gott dann eben weder zu den erlösten noch zu den gebundenen Seelen gehören könne, sondern eine Ausnahmestellung einnehmen müsse, so erhält er die Antwort: Wo die Existenz eines in seiner Art einzigen Dinges behauptet wird, fehlt jede Argumentationsbasis4. So und so oft wird in den Sâmkhyasûtras erklärt, daß sich das Dasein Gottes nicht beweisen läßt5. Wenn man die aphoristische Kürze des Werkes in Betracht zieht, so geht aus dieser[256] mehrfachen Wiederholung deutlich hervor, welches Gewicht auf diesen Punkt, auf den tatsächlichen Mangel eines zwingenden Gottesbeweises, gelegt worden ist.

Der ganze Zusammenhang des Sâmkhya-Systems schließt den Gottesglauben aus, und nur eine oberflächliche Betrachtung kann zu dem hie und da6 ausgesprochenen Urteil gelangen, daß der Begründer der Sâmkhya-Philosophie seine Lehren auf diejenigen Prinzipien beschränkt habe, die nach seiner Meinung zu beweisen waren, und daß er demzufolge nur die Unbeweisbarkeit Gottes dargetan, aber nicht seine Existenz geleugnet habe.

1

D.h. Götter, die ein Produkt (der in früheren Existenzen vollbrachten guten Werke) sind. Vgl. den Index zu meiner Ausgabe des Sâmkhya-pravacana-bhâṣya.

2

Diese Beweisführung Vâcaspatimiśras ist fast vollständig von Mâdhavâcârya im Sâmkhya-Kapitel des Sarva-darśana-samgraha (S. 228 der Übersetzung) wiederholt. Auch finden sich dieselben Gründe zerstreut in denjenigen Sâmkhyasûtras, in welchen die Existenz Gottes geleugnet wird (I. 92-94, V. 2-12, 46, 126, 127, VI. 64) und namentlich bei den Kommentatoren zu diesen Stellen. Vgl. übrigens auch »Eine jinistische Widerlegung des Theismus« bei F. Otto Schrader, Über den Stand der indischen Philosophie zur Zeit Mahâvîras und Buddhas, Appendix II S. 62 fg.

3

Sâmkhyasûtra I. 93. 94, V. 5-7; vgl. auch Gauḍapâda zu Kârikâ 61.

4

Aniruddha in der Einleitung zu I. 94 und im Kommentar zu V. 11.

5

S. die Stellen S. 255 Anm.

6

Z.B. von Goldstücker, Literary Remains I. 174.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 253-257.
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