2. Der übrige Inhalt7.

[257] Am Schluß der Einleitung zum Sâmkhya-pravacana-bhâṣya wird der Inhalt unseres Systems in folgende vier Teile zerlegt:

1. dasjenige, wovon man sich befreien muß, d.h. der Schmerz;

2. die Befreiung, d.h. das Aufhören des Schmerzes;

3. die Ursache desjenigen, wovon man sich befreien muß, d.h. die Nichtunterscheidung, die auf der Verbindung der Seele mit der Materie beruht und den Schmerz bewirkt;

4. das Mittel zur Befreiung, d.h. die unterscheidende Erkenntnis.

Diese Vierteilung ist aus dem alten Kommentar des Vyâsa zum Yogasûtra II. 15 entnommen und beruht höchst wahrscheinlich auf noch viel älterer Tradition; denn sie zeigt eine unverkennbare Übereinstimmung mit dem ältesten Dogma des Buddhismus, dem der ›vier heiligen Wahrheiten‹ vom Leiden, von der Entstehung des Leidens, von der Aufhebung[257] des Leidens und von dem Wege zur Aufhebung des Leidens. Oldenberg, Buddha6 236 Anm., bemerkt darüber: »Ob in bezug auf die vierfache Gliederung der Buddhismus der entlehnende Teil ist, wird nicht fest gestellt werden können; daß im übrigen die Formulierung der vier Sätze sein Eigentum ist, scheint unzweifelhaft.« Gewiß ist der Wortlaut dieser Sätze Eigentum des Buddhismus; den Gedanken hingegen und die vierfache Gliederung halte ich auf Grund meiner Anschauungen über die Abhängigkeit des Buddhismus von der Sâmkhya-Philosophie für entlehnt.

Neben diese alte Vierteilung, die sich nur mit dem Endziel des Sâmkhya-Systems beschäftigt, aber von seinem Gesamtinhalt keine rechte Vorstellung erweckt, wurde in späterer Zeit eine erschöpfendere Zehnteilung gesetzt. In einem Fragment des Râjavârttika, das in der Sâmkhya-tattva-kaumudî zu Kârikâ 72 erhalten ist8, finden wir die folgende Angabe der zehn Hauptlehren oder besser Grundbegriffe (mûlikârtha) unseres Systems:

1. die Realität (von Seele und Materie),

2. die Einheit (der Materie),

3. die Zweckdienlichkeit (der Materie),

4. die Verschiedenheit (von Seele und Materie),

5. das Wirken (der Materie) im Dienste der anderen (d.h. der Seele),

6. die Vielheit (der Seelen),

7. die Verbindung (von Seele und Materie),

8. die (Möglichkeit der endgiltigen) Trennung (beider),

9. das Vorhandensein (der ganzen Fülle) materieller Entfaltungen (viśeṣa-vṛtti)9,

10. die Untätigkeit (der Seele).[258]

Im Anschluß hieran sind dann noch im Râjavârttika als dem Sâmkhya-System eigentümlich die Lehren von dem fünffachen Irrtum, den neun Befriedigungen, den achtundzwanzig Formen des Unvermögens und den acht Vollkommenheiten angeführt.

Unter jene zehn Grundlehren läßt sich in der Tat der ganze Inhalt des Systems einreihen, soweit er positiver Natur ist; doch würde es sich nicht empfehlen, einer europäischen Darstellung, von der man mit Fug und Recht einheitlichere Gesichtspunkte erwarten kann, diese Anordnung des Inhalts zugrunde zu legen.

Ein Blick auf das obige Schema lehrt, daß alle dort angeführten Sätze ausschließlich das Wesen und gegenseitige Verhältnis zweier Dinge betreffen, der Materie und der Seele. Beide sind unerschaffen, ohne Anfang und ohne Ende, und beide sind ihrem innersten Wesen nach voneinander verschieden; es gibt also kein höheres einheitliches Prinzip, aus dem man sie ableiten könnte. Unter diesen Umständen müssen wir uns die Frage vorlegen, welcher der zwei Begriffe für das System von maßgebenderer Bedeutung ist. So wenig wir ein Recht haben bei der klaren Stellung, die der Seele, dem geistigen Prinzip, in der Sâmkhya-Philosophie angewiesen ist, das System als ein materialistisches zu bezeichnen, so läßt sich doch nicht verkennen, daß uns aus demselben eher ein materialistischer als ein spiritualistischer Hauch entgegenweht. Barthélemy Saint-Hilaire10 findet es zwar schwierig, dem Sâmkhya-System seinen richtigen Platz in der Geschichte der Philosophie anzuweisen, meint aber schließlich, es sei am ehesten als idealistisch zu bezeichnen; denn welchen anderen Namen könne man einem System geben, »qui fait sortir le monde de l'intelligence et du moi?« Das ist durchaus unrichtig; die beiden Prinzipien, die Barthélemy mit ›intelligence‹ und ›moi‹ übersetzt, die buddhi und der ahamkâra, sind die ersten Entwicklungsstufen[259] der Urmaterie; sie gehören kosmisch wie individuell ausschließlich der Welt des Stoffes an, wie bald des näheren ausgeführt werden wird.

Um die Vorstellungen, die das Sâmkhya-System mit dem Begriff der Seele verbindet, und den Einfluß, den es den Seelen im Makrokosmos und Mikrokosmos zuschreibt, recht zu verstehen, ist eine genaue Kenntnis der Sâmkhya-Lehren von dem Wesen der Materie und den Eigenschaften ihrer Produkte erforderlich. Der folgende Abschnitt muß deshalb der Darstellung der Kosmologie und Physiologie unseres Systems gewidmet sein.

7

Vgl. hierzu die kurze Übersicht der distinktiven Sâmkhya-Lehren oben S. 26.

8

Es ist auch mit einigen Varianten in Nr. 68 der Sâmkhya-krama-dîpikâ (zu Sûtra 18 des Tattvasamâsa) wiedergegeben.

9

In der Sâmkhya-krama-dîpika śeṣa-vṛtti, d.h. nach Ballantyne ›die Fortdauer des Körpers (nach der Erreichung der erlösenden Erkenntnis)‹.

10

Premier Mémoire 485-487.

Quelle:
Die Sâṃkhya-Philosophie. Nach den Quellen von Richard Garbe. Leipzig 21917 [hier Abschnitte 2–4 wiedergegeben], S. 257-260.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Samkhya-Philosophie
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie; Eine Darstellung Des Indischen Rationalismus
Die Samkhya-Philosophie: Eine Darstellung des indischen Rationalismus