Sechste Rede

Zur Unverstörung

[814] Das hab' ich gehört. Zu einer Zeit weilte der Erhabene im Kurū-Lande, bei einer Stadt der Kurūner namens Kammāsadammam344. Dort nun wandte sich der Erhabene an die Mönche: »Ihr Mönche!« – »Erlauchter!« antworteten da jene Mönche dem Erhabenen aufmerksam. Der Erhabene sprach also:

›Vergänglich, ihr Mönche, sind die Begierden, leer und falsch und eitel‹: trügerisch ist, ihr Mönche, solche Rede aus Torenmund. Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt: beides ist es Todesgebiet, ist des Todes Bereich, ist des Todes Futterplatz, ist des Todes Weideland. Da gehn denn diese schlechten, unheilsamen Gesinnungen, als wie Verlangen, als wie Verabscheuen, [814] als wie Verwünschen, hervor; und diese gereichen dem heiligen Jünger, der hier eifrig sich übt, zur Gefahr.

Aber, ihr Mönche, der heilige Jünger überlegt bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt: beides ist es Todesgebiet, ist des Todes Bereich, ist des Todes Futterplatz, ist des Todes Weideland. Da gehn denn diese schlechten, unheilsamen Gesinnungen, als wie Verlangen, als wie Verabscheuen, als wie Verwünschen, hervor; und diese gereichen dem heiligen Jünger, der hier eifrig sich übt, zur Gefahr. Wie, wenn ich nun mit weitem, tiefem Gemüte verweilte und hätte die Welt überwunden, über ihr stehend im Geiste? Denn verweil' ich mit weitem, tiefem Gemüte und habe die Welt überwunden, über ihr stehend im Geiste, so können die schlechten, unheilsamen Gesinnungen, als wie Verlangen, als wie Verabscheuen, als wie Verwünschen, nicht mehr bestehn; und weil sie fehlen, wird mein Herz unbegrenzt sein, unbeschränkt, wohl ausgebildet.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit die Unverstörung, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein der Unverstörung zukehre. Das wird, ihr Mönche, die erste Stufe zur Unverstörung genannt.

Weiter sodann, ihr Mönche, überlegt der heilige Jünger bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt: was irgend Form hat, die vier Hauptstoffe und was durch die vier Hauptstoffe besteht, es ist alles Form345.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit die Unverstörung, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein der Unverstörung zukehre. Das wird, ihr Mönche, die zweite Stufe zur Unverstörung genannt.

Weiter sodann, ihr Mönche, überlegt der heilige Jünger bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt, Formen nach diesseit gerichtet, Formen nach jenseit gerichtet, Formen im Diesseit ersehnt, Formen im Jenseit ersehnt: beides ist es vergänglich. Was vergänglich ist lohnt nicht der Liebe, lohnt nicht der Freude, lohnt nicht der Neigung.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit die Unverstörung, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein der Unverstörung [815] zukehre. Das wird, ihr Mönche, die dritte Stufe zur Unverstörung genannt.

Weiter sodann, ihr Mönche, überlegt der heilige Jünger bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt, Formen nach diesseit gerichtet, Formen nach jenseit gerichtet, Formen im Diesseit ersehnt, Formen im Jenseit ersehnt, und Unverstörung ersehnen: es ist alles Ersehnen. Wo dieses ohne Überrest aufgeht: das ist die Ruhe, das ist das Ziel, jenes Reich des Nichtdaseins.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit das Reich des Nichtdaseins, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein dem Reich des Nichtdaseins zukehre. Das wird, ihr Mönche, die erste Stufe zum Reich des Nichtdaseins genannt.

Weiter sodann, ihr Mönche, begibt sich der heilige Jünger in den Wald oder unter einen großen Baum oder in eine leere Klause und überlegt bei sich: ›Leer ist es an sich und in sich.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit das Reich des Nichtdaseins, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein dem Reich des Nichtdaseins zukehre. Das wird, ihr Mönche, die zweite Stufe zum Reich des Nichtdaseins genannt.

Weiter sodann, ihr Mönche, überlegt der heilige Jünger bei sich: ›Nicht gehör' ich irgend wo irgend wem irgend zu, noch gehört mir irgend wo irgend was an: da gibt es nichts346.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit das Reich des Nichtdaseins, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein dem Reich des Nichtdaseins zukehre. Das wird, ihr Mönche, die dritte Stufe zum Reich des Nichtdaseins genannt.

»Weiter sodann, ihr Mönche, überlegt der heilige Jünger bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt, Formen nach diesseit gerichtet, Formen nach jenseit gerichtet, Formen im Diesseit ersehnt, Formen im Jenseit ersehnt, und Unverstörung ersehnen, und das Reich des Nichtdaseins ersehnen: es ist alles Ersehnen. Wo dieses ohne Überrest aufgeht: das ist die Ruhe, das ist das Ziel, jene Grenze möglicher Wahrnehmung.‹ Und wie er da weiter vorschreitet, emsig also ausharrt in der Übung, wird das Herz gestillt; ist Stille geworden, so erlangt er in dieser Zeit die Grenze möglicher Wahrnehmung, oder er wird von der Weisheit angezogen. Bei der Auflösung des [816] Körpers, nach dem Tode, mag es wohl sein, daß ihn das vorwiegende Bewußtsein der Grenze möglicher Wahrnehmung zukehre. Das wird, ihr Mönche, Stufe zur Grenze möglicher Wahrnehmung genannt.«

Nach diesen Worten wandte sich der ehrwürdige Ānando also an den Erhabenen:

»Da ist, o Herr, ein Mönch also vorgeschritten: ›Nicht sein und nicht mir sein, nicht werden, nicht mir werden soll was ist, was war: ich lasse es fahren‹: also gewinnt er Gleichmut. Kann nun wohl ein solcher Mönch, o Herr, vom Wahne erlöschen, oder kann er es nicht?«

»Gar mancher Mönch, Ānando, kann da vom Wahne erlöschen, gar mancher Mönch kann es da nicht.«

»Was ist nun, o Herr, der Anlaß, was ist der Grund, daß da gar mancher Mönch vom Wahne erlöschen kann, gar mancher Mönch es da nicht kann?«

»Da ist, Ānando, ein Mönch also vorgeschritten: ›Nicht sein und nicht mir sein, nicht werden, nicht mir werden soll was ist, was war: ich lasse es fahren‹: also gewinnt er Gleichmut. Diesem Gleichmut ist er in Liebe und Freude und Neigung zugetan. Weil er diesem Gleichmut in Liebe und Freude und Neigung zugetan ist, wird das Bewußtsein daran gewohnt, hangt daran. Hangt er an, Ānando, kann der Mönch nicht vom Wahne erlöschen.«

»Wo aber ist, o Herr, ein solcher Mönch anhänglich angehangen?«

»An der Grenze, Ānando, möglicher Wahrnehmung.«

»Das beste Anhangen, sagt man, o Herr, sei es, wo ein solcher Mönch anhänglich anhangt.«

»Das beste Anhangen ist es, Ānando, wo ein solcher Mönch anhänglich anhangt. Bestes Anhangen ist ja geheißen, Ānando, jene Grenze möglicher Wahrnehmung. – Da ist, Ānando, ein Mönch also vorgeschritten: ›Nicht sein und nicht mir sein, nicht werden, nicht mir werden soll was ist, was war: ich lasse es fahren‹: also gewinnt er Gleichmut. Diesem Gleichmut ist er in keiner Liebe, keiner Freude, keiner Neigung zugetan. Weil er diesem Gleichmut in keiner Liebe, keiner Freude, keiner Neigung zugetan ist, wird das Bewußtsein nicht daran gewohnt, hangt nicht daran. Hangt er nicht an, Ānando, kann der Mönch vom Wahne erlöschen.«

»Erstaunlich, o Herr, außerordentlich ist es, o Herr: von Staffel zu Staffel, merkt man, hat uns, o Herr, der Erhabene das Entkommen aus dem Flutbereiche dargestellt. – Was aber ist, o Herr, die heilige Freiheit?«

»Da überlegt, Ānando, der heilige Jünger bei sich: ›Begierden nach diesseit gerichtet, Begierden nach jenseit gerichtet, Begierden im Diesseit ersehnt, Begierden im Jenseit ersehnt, Formen nach diesseit gerichtet, Formen nach jenseit gerichtet, Formen im Diesseit ersehnt, Formen im Jenseit ersehnt, und Unverstörung ersehnen, und das Reich des Nichtdaseins ersehnen, [817] und die Grenze möglicher Wahrnehmung ersehnen: das ist Dasein; so weit Dasein reicht ist ewige Art jene hanglose Herzensfreiheit.‹

Und so hab' ich, Ānando, die Stufen zur Unverstörung gezeigt, die Stufen zum Reich des Nichtdaseins gezeigt, die Stufe zur Grenze möglicher Wahrnehmung gezeigt, von Staffel zu Staffel das Entkommen aus dem Flutbereiche gezeigt, die heilige Freiheit gezeigt. Was ein Meister, Ānando, den Jüngern aus Liebe und Teilnahme, von Mitleid bewogen, schuldet, das habt ihr von mir empfangen. Da laden, Ānando, Bäume ein, und dort leere Klausen. Wirket Schauung, Ānando, auf daß ihr nicht lässig werdet, später nicht Reue empfindet: das haltet als unser Gebot.«


Also sprach der Erhabene. Zufrieden freute sich der ehrwürdige Ānando über das Wort des Erhabenen347.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 1, Zürich/Wien 41956, S. 814-818.
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