IV. Das Unbewusste in Charakter und Sittlichkeit

[225] Es giebt kein zur Erscheinung Kommen des Willens ohne Erregungsgrund, Motiv. Der Wille des Individuums verhält sich zunächst wie ein potentielles Sein, wie eine latente Kraft, und sein Uebergang in die Kraftäusserung, in das bestimmte Wollen, erfordert als zureichenden Grund ein Motiv, welches allemal die Form der Vorstellung hat. Diese Sätze aus der Psychologie setze ich voraus. Das Wollen ist nur der Intensität nach verschieden; alle übrigen anscheinenden Verschiedenheiten des Wollens fallen in seinen Inhalt, d.h. in die Vorstellungen dessen, was gewollt wird, und dieser Inhalt hängt wieder mit den Motiven zusammen; nach den verschiedenen Hauptclassen der unter Menschen am Gewöhnlichsten vorkommenden Gegenstände des Wollens (wie Sinnesgenuss, Gut und Geld, Lob, Ehre und Rahm, Liebesglück, Kunstgenuss und künstlerische Productivität, Erkenntniss u.s.w.) wird auch das Wollen selbst in verschiedene Hauptrichtungen (Triebe) unterschieden, als z.B. sinnliche Genusssucht, Habgier und Geldgier, Eitelkeit, Ehrgeiz und Ruhmsucht, Liebesdrang, künstlerischer Trieb, Wissensdurst und Forschungstrieb u.s.w.

Wäre nun dieser Inhalt des Wollens allein von den Motiven abhängig, wo wäre die Psychologie sehr einfach, und der Mechanismus in allen Individuen congruent. Die Erfahrung zeigt aber, dass ein und dasselbe Motiv, ganz abgesehen von zufälligen Unterschieden der Stimmung, auf verschiedene Individuen verschieden wirkt. Die Meinung der Menschen lässt den Einen gleichgültig, dem Anderen gilt sie Alles; die Lorbeerkrone des Dichters dünkt dem Einen verächtlich, der Andere opfert ihr sein Lebensglück, ebenso ein schönes[225] Weib; der Eine bringt sein Vermögen zum Opfer, um seine Ehre zu retten, der Andere verkauft sie für eine Summe Geldes; gute Lehren und schöne Beispiele spornen den Einen zur Nacheiferung an, den Anderen lassen sie unberührt, vernünftige Ueberlegung bestimmt bei dem Einen alles Handeln, bei dem Anderen ist sie nicht im Stande, als Motiv zu wirken, und die sichere Aussicht des Verderbens vermag ihn nicht von seinem Leichtsinn abzuhalten, u.s.w. Meistentheils tritt gar keine besondere Vermittelung in das Bewusstsein, weshalb auf mich dieses Motiv (z.B. die Mittheilung, dass eine neue naturwissenschaftliche Erfindung gemacht sei) stark, jenes (z.B. die Mittheilung, dass in der Gesellschaft, wo ich eingeladen bin, Bank gelegt werden soll) schwach wirkt. Das höchste, was an Vermittelungen vor mein Bewusstsein treten kann, ist die Erwartung einer grösseren oder geringeren Lust, doch bleibt eben das Räthselhafte und Unergründliche an meiner Natur, warum ich mir aus dem Kennenlernen einer neuen Erfindung eine grosse, aus dem Hazardspiel aber eine geringe oder gar keine Lust verspreche, während das Umgekehrte bei meinem Nachbarn der Fall ist.

Wie ein bestimmtes Individuum sich gegen dieses oder jenes Motiv verhalten werde, kann man nicht eher wissen, als bis man es erfahren hat; weiss man aber, wie ein Mensch auf alle möglichen Motive reagirt, so kennt man alle Eigenthümlichkeiten desselben, so kennt man seinen Charakter. Der Charakter ist also der Reactionsmodus auf jede besondere Classe von Motiven, oder was dasselbe sagt, die Zusammenfassung der Erregungsfähigkeiten jeder besonderen Classe von Begehrungen. Indem es kein Motiv giebt, das ausschliesslich einer jener Classen zugehört, so werden stets oder doch in der Regel eine grössere Menge von Trieben gleichzeitig afficirt, und die Resultante der hierdurch gleichzeitig erregten Begehrungen ist der actuelle Wille, welcher unaufhaltsam und unmittelbar die That involvirt, wenn diese nicht durch physische Ursachen verhindert ist. Fragen wir nun, was es denn für ein Process sei, diese Reaction des Willens auf das Motiv, und dies Widerspiel der Begehrungen zu der Einen Resultante, so müssen wir gestehen, dass wir zwar seine Existenz durch unzweifelhafte Rückschlüsse an den in's Bewusstsein fallenden Thatsachen erkennen, dass wir aber über seine Art und Weise nichts aussagen können, weil unser Bewusstsein uns keine Kunde davon giebt. Wir kennen in jedem einzelnen Falle nur das Anfangsglied, das Motiv, und das Endglied, das bestimmte Wollen als Resultat, aber was das auf das[226] Motiv Reagirende sei, können wir niemals erfahren, ebenso wenig können wir je einen Einblick in das Wesen dieser Reaction thun, die völlig den Charakter der Reflexwirkung oder des reflectorischen Instinctes an sich trägt, wie wir dies bei dem speciellen Fall des Mitleides und einiger andern Triebe schon in Cap. B. I. gesehen haben. Von dem Kampfe der verschiedenen Begehrungen gegen einander haben wir wohl theilweise ein Bewusstsein, aber nur in soweit, als wir in früheren einfacheren Fällen die einzelnen Begehrungen gesondert als letzte Resultanten erfahren haben, und unsere früheren Erfahrungen auf die Gegenwart anwenden. Wie unvollständig aber diese Erfahrungen sind, und wie unvollkommen sie benutzt werden zum Verständniss eines gegenwärtigen Seelenvorganges, wird wohl jeder schon an sich erfahren haben.

Wie häufig glaubt das Bewusstsein, die Stärke aller in dem Falle betheiligten Begehrungen auf das Sorgfältigste gegen einander abgewogen und keine unberücksichtigt gelassen zu haben, und wenn es zum Handeln kommt, so sieht es zu seiner grössten Ueberraschung, dass sein herausgeklügeltes Facit ganz und gar nicht stimmt, sondern plötzlich eine ganz andere Resultante als souveräner Wille hervortritt. (Man erinnere sich der im vorigen Capitel S. 218-19 über unbewussten Willen gegebenen Andeutungen. Vgl. auch eben darüber Cap C. III.) Es zeigt sich also, dass es in der That nur ein sicheres Kennzeichen für den eigentlichen, wahren und endgültigen Willen giebt, das ist die That (gleichviel ob sie gelingt, oder im ersten Versuch durch äussere Umstände erstickt wird), dass aber jede andere Voraussetzung des Bewusstseins über das, was man eigentlich will, unsichere, häufig trügende Vermuthung bleibt, die keineswegs auf einer unmittelbaren Kenntniss des Bewusstseins vom Willen, sondern auf Erfahrungsanalogien und künstlichen Combinationen dieser beruht. Wie Spreu vor dem Winde zerstiebt oft der festeste Entschluss, der sicherste Vorsatz an der That, wo erst der wahre Wille aus der Nacht des Unbewussten hervortritt, während der Wille des Vorsatzes nur einseitiges Begehren, oder gar nur vom Bewusstsein vorgestellt und gar nicht vorhanden war. Tritt aber die That niemals an den Menschen heran, z. B dadurch, dass er immer die Unmöglichkeit ihrer Ausführung im Auge hat, so erlangt er auch nie Gewissheit über das, was er eigentlich im Gründe seines Herzens will. Die sogenannte bewusste Willenswahl und ihr Schwanken ist keineswegs ein bewusstes Schwanken des Willens, sondern ein Schwanken der Erkenntniss über das richtige Verständniss[227] der Motive und darüber, wie die Verhältnisse sich jetzt und in Zukunft dem Willen gegenüber gestalten und verhalten. Ist aber die Erkenntniss erst im Klaren, so ist es sofort auch der Wille. Z.B. das Schwanken meiner Wahl, ob ich die kluge und hässliche, oder die dumme und hübsche Schwester heirathen soll, ist kein Schwanken meines Willens, der vorläufig noch gar nicht hervortritt, sondern meines Verstandes über die Grösse der in jedem Falle zu erwartenden Vortheile und Nachtheile; nachdem der Verstand gewählt hat, ist erst dem Willen sein Motiv geschaffen, nämlich die Vorstellung der in jedem der beiden Fälle zu erwartenden Summe von gefühlsdifferenten Verhältnissen.

Es ist also festzuhalten, dass die Werkstatt des Wollens im Unbewussten liegt, dass man nur das fertige Resultat und zwar erst in dem Augenblicke zu sehen bekommt, wo es in der That zur practischen Anwendung kommt, und dass die Blicke, die es etwa in die Werkstatt hineinzuwerfen gelingt, nur mit Hülfe von Spiegeln und optischen Apparaten einige immerhin unsichere Kunde zu bringen vermögen, die aber niemals in jene unbewussten Tiefen der Seele dringt, wo die Reaction des Willens auf das Motiv und sein Uebertritt in das bestimmte Wollen stattfindet.

Wenn man nun eingestehen muss, dass die Erregung des Willens für uns ewig mit dem Schleier des Unbewussten bedeckt bleiben wird, so ist es nicht zu verwundern, dass wir auch die Ursachen nicht so leicht zu durchschauen vermögen, welche die verschiedene Erregungsfähigkeit der verschiedenen Begehrungen, oder die verschiedene Reaction des Willens verschiedener Individuen auf dieselben Motive bedingen; wir müssen uns eben vorläufig damit begnügen, in ihnen die innerste Natur des Individuums zu sehen, und nennen darum ihre Wirkung sehr bezeichnend Charakter, d.h. Merkmal oder Kennzeichen des Individuums. Soviel jedoch haben wir erkannt, dass dieser innerste Kern der individuellen Seele, dessen Ausfluss der Charakter ist, jenes eigentlichste practische Ich des Menschen, dem man Verdienst und Schuld zurechnet und Verantwortlichkeit auferlegt, dass also dieses eigenthümliche Wesen, welches wir selbst sind, dennoch unserem Bewusstsein und dem sublimirten Ich des reinen Selbstbewusstseins ferner liegt, als irgend etwas anderes in uns, dass wir vielmehr diesen tiefinnersten Kern unserer selbst nur auf demselben Wege kennen lernen können, wie an anderen Menschen, nämlich durch Rückschlüsse aus dem Handeln. »An ihren Fruchten sollt ihr sie erkennen«, dies Wort gilt auch für[228] die Selbsterkenntniss, und wie sehr täuschen wir uns auch dabei noch, indem wir Handlungen aus ganz anderen, namentlich besseren Beweggründen gethan zu haben glauben, als wirklich der Fall ist, wie wir dann zuweilen durch Zufälligkeiten zu unserer Beschämung erfahren. (Die Fortsetzung der Betrachtung über den Charakter folgt in der zweiten Hälfte des Cap. C. XI.)

Es dürfte nicht überflüssig sein, von diesem Standpuncte aus auch auf das Wesen des Ethischen einen Seitenblick zu werfen. Es ist viel darüber gestritten, ob die Tugend lehrbar sei, und theoretisch lässt sich heute noch so darüber streiten, wie zu Plato's Zeiten, aber der practische Psychologe ist zu keiner Zeit darüber in Zweifel gewesen, dass, abgesehen von der Gewohnheit, dieser zweiten Natur der Seele, welche eine Dressur im eigentlichen Sinne ist, weil nur durch Furcht die Gewöhnung bewirkt werden kann, dass also ausser der Gewohnheit keine Lehre im Stande ist, Moralität zu erzeugen, sondern nur die vorhandene Moralität zu erwecken durch Vorhalten der geeigneten Motive, welche sonst vielleicht nicht in dieser Art und Stärke an den Zögling herangetreten wären. Denn es liegt auf der Hand, dass Moralität nicht ein Prädicat der Vorstellung, sondern des Willens ist; das Hervortreten des Willens in den actuellen Zustand als Reaction auf das Motiv haben wir aber als einen durchaus unbewussten Act erkannt, der theils zwar von der Beschaffenheit des Motives, zum anderen Theil aber von der Reactions-Weise und Stärke des Willens abhängig ist. Das Motiv ist immer bloss Vorstellung, kann also nicht das Prädicat moralisch haben, es bleibt mithin für die Moralität allein jener unbewusste Factor übrig, der als Theil des Charakters betrachtet werden muss, und zum innersten Kern der Individualität gehört. Diese Grundlage des Charakters kann, wie gesagt, wohl durch Uebung und Gewohnheit (vermöge absichtlicher oder zufälliger Einseitigkeit der vor das Bewusstsein tretenden Motive) modificirt werden, aber nie durch Lehre; denn die schönste Kenntniss der Sittenlehre ist todtes Wissen, wenn sie auf den Willen nicht als Motiv wirkt, und ob sie das thut, hängt allein von der Natur des individuellen Willens selbst, d.h. vom Charakter ab. So sehen wir auch historisch, dass die Leute, die am meisten Sittenlehre im Munde haben, oft am wenigsten Moralität im Charakter haben, dass Köpfe von eminenter geistiger und wissenschaftlicher Befähigung und Bildung nicht selten moralisch schlechte Menschen sind, und dass umgekehrt die reinste ungetrübteste Moralität in einfachen Menschen von geringer Geistesbildung wohnt, die[229] sich nie mit ethischen Problemen befasst haben, die oft nicht einmal sich guter Erziehung zu erfreuen hatten, und auf die die schlechten sie umgebenden Beispiele nie zur Nachahmung reizend, sondern nur abschreckend wirkten. Damm sehen wir ferner, dass alle Religionen, wie beschaffen ihre Sittenlehre auch sein mag, gleich viel oder gleich wenig Einwirkung auf die Moralität ihrer Bekenner üben, ja sogar dass verschiedene Culturstufen wohl auf die Rohheit oder Feinheit der Form, in der die Vergehen und Verbrechen begangen werden, aber auf die Sittlichkeit des Charakters und die Güte und Reinheit des Herzens keinen wesentlichen Einfluss haben. Dagegen ist die Sittlichkeit eines Volkes im Verhältniss zu der der übrigen Völker neben dem Nationalcharakter ausschliesslich durch seine Sitten und die an dieselbe geknüpfte Gewohnheit durch Erziehung bedingt; die National-Sitte aber ist wiederum ausser von Zufälligkeiten der äusseren Lage, der Nachbarschaft und der inneren Entwickelung von dem Nationalcharakter abhängig.

Das Resultat ist: Das ethische Moment des Menschen, d.h. dasjenige, was den Charakter der Gesinnungen und Handlungen bedingt, liegt in der tiefsten Nacht des Unbewussten; das Bewusstsein kann wohl die Handlungen beeinflussen, indem es mit Nachdruck diejenigen Motive vorhält, welche geeignet sind, auf das unbewusste Ethische zu reagiren, aber ob und wie diese Reaction erfolgt, das muss das Bewusstsein ruhig abwarten, und erfährt erst an dem zur That schreitenden Willen, ob derselbe mit den Begriffen übereinstimmt, die es von sittlich und unsittlich hat.

Hiermit ist gezeigt, dass der Entstehungsprocess dessen, dem wir die Prädicate sittlich und unsittlich beilegen, im Unbewussten liegt, es ist jetzt zweitens zu zeigen, dass diese Prädicate Eigenschaften bezeichnen, welche nicht ihrem Subject an und für sich inhäriren, sondern welche nur Beziehungen desselben zu einem ganz bestimmten Standpuncte eines höheren Bewusstseins ausdrücken, d.h. dass diese Prädicate erst Schöpfungen des Bewusstseins sind und dem Unbewussten an sich niemals zukommen können, woraus dann unmittelbar folgt, dass es falsch wäre, von einem moralischen Instinct zu sprechen, da zwar die Handlungen des Menschen als solche aus dem Unbewussten oder Instinctiven des Charakters fliessen, z.B. durch die Instincte des Mitleids, der Dankbarkeit, Rache, Selbstsucht, Sinnlichkeit u.s.w. erzeugt werden, aber diese unbewusste Production nie und nimmer etwas mit den Begriffen sittlich und unsittlich zu thun haben kann, weil dieselben erst vom Bewusstsein[230] geschaffen werden, ein bewusster Instinct aber eine contradictio in adjecto wäre. Letztere Bemerkung sollte nur verhüten, dass man mir etwa das Gewissen als etwas Instinctives unterschiebt; dasselbe ist vielmehr durchaus nichts Einfaches, sondern etwas sehr Zusammengesetztes, dessen Entwickelung aus den mannigfachsten Factoren des Bewusstseins sich mit Bestimmtheit nachweisen lässt.

Gut und böse nennen wir auch leblose Naturerscheinungen, Wind, Luft, Vorzeichen; ferner legen wir diese Prädicate Thieren und rohen Menschen oder kleinen Kindern bei, in sittlich und unsittlich gehen dieselben aber erst dann über, wenn wir die Wesen für ihr Wirken verantwortlich machen; wir halten aber wiederum dann die Wesen für verantwortlich für ihr Thun, wenn ihr Bewusstsein zu einem solchen Grade entwickelt ist, dass sie selbst die Begriffe von sittlich und unsittlich verstehen können, und machen sie nur für solche Handlungen verantwortlich, bei denen ihr Bewusstsein nicht verhindert war, diesen seinen eigenen Maassstab anzulegen. So kommt es, dass wir eine und dieselbe Handlung bei einem Wesen sittlich oder unsittlich nennen, bei einem anderen aber nicht; z.B. werden wir den strengen Eigenthumssinn, den wir bei manchen Thieren innerhalb ihrer Gattung und engeren Lebensgemeinschaft (z.B. bei wilden Pferden innerhalb ihrer Heerde in Bezug auf Weideplätze und aufbewahrtes Futter) nicht als eine sittliche, sondern nur als eine gute Eigenschaft bezeichnen; so können wir es nicht unsittlich nennen, wenn wilde Völkerschaften dem Gastfreund auch ihre Weiber offeriren: im Gegentheil könnte dies als Theil der Gastfreundschaft sittlich genannt werden, weil bis zu dieser Stufe des Verständnisses ihr Bewusstsein allenfalls entwickelt ist, aber nicht bis zum Verständniss der Sittsamkeit im geschlechtlichen Umgang. Bei einem kleinen Kinde können wir dieselben Ausbrüche der Bosheit wohl nur höchstens böse nennen, die in reiferem Alter denselben Charakter als unsittlich verdammen lassen. Die Blutrache wäre bei uns unsittlich, bei Völkern von geringerer Cultur ist sie eine sittliche Institution, bei ganz rohen Wilden ein blosser Act der Leidenschaft, der weder sittlich noch unsittlich genannt werden kann. Diese Beispiele mögen zum Beweise genügen, dass sittlich und unsittlich nicht Eigenschaften der Wesen oder ihrer Handlungen an sich sind, sondern nur Urtheile über dieselben von einem erst durch das Bewusstsein geschaffenen Standpuncte aus, Beziehungen zwischen jenen Wesen und ihren Handlungen auf der einen, und diesem Standpuncte einer höheren Bewusstseinsstufe auf der anderen Seite, dass also die[231] Natur, soweit sie unbewusst ist, den Unterschied von sittlich und unsittlich nicht kennt. Ja die Natur an sich ist nicht einmal gut oder böse, sondern ewig nichts weiter als natürlich, d.h. sich selbst gemäss; denn der allgemeine Naturwille hat nichts ausser sich, weil er Alles umfasst und Alles selber ist, also kann für ihn nichts gut oder böse sein, sondern nur für einen individuellen Willen; denn eine Beziehung zwischen einem Willen und einem äusseren Object wird durch die Begriffe gut und böse schon nothwendig vorausgesetzt.

Bei alledem soll aber keineswegs der Werth dieses vom Bewusstsein geschaffenen kritischen Standpunctes erniedrigt werden, nur der Irrthum soll beseitigt werden, als gäbe es ausserhalb dieses specifischen Standpunctes die Möglichkeit dieser Begriffe, die erst in der Beziehung zu ihm entstehen. Nimmt man freilich ausser und vor der Natur ein Bewusstsein (in einem persönlichen Gott) an, so kann man auch von dem Standpuncte dieses Bewusstseins aus den Maassstab jener Begriffe an die Welt legen; leugnet man aber, wie wir aus später zu entwickelnden Gründen thun müssen, ein Bewusstsein ausserhalb der Verbindung von Geist und Materie, so verschwindet auch die Möglichkeit, den Maassstab jener Begriffe an die ganze unbewusste Welt zu legen; eine Sache, an die schon viele unnütze Arbeit verschwendet ist. Alles dies aber drückt keineswegs auf den Werth jener Begriffe, denn wie trotz aller Einseitigkeit und Beschränktheit das Bewusstsein doch für diese Welt der Individuation an Wichtigkeit über dem Unbewussten steht, so steht letzten Endes auch das Sittliche höher als das Natürliche; ja indem das Bewusstsein schliesslich doch auch nur ein unbewusstes Naturproduct ist, so ist auch das Sittliche nicht ein Gegensatz des Natürlichen, sondern nur eine höhere Stufe desselben, zu welcher sich das Natürliche kraft seiner selbst und durch die Vermittelung des Bewusstseins emporgeschwungen hat.

Mit diesen kurzen Andeutungen muss ich mich hier begnügen, da eine in diesem Sinne ausgeführte Ethik ein eigenes Werk abgeben würde. Auch glaubte ich auf die Darstellung verzichten zu müssen, warum und wie der Standpunct der Beurtheilung mit den Prädicaten sittlich und unsittlich aus einer gewissen Höhe des Bewusstseins hervorgehen müsse, und was der Inhalt jener Begriffe sei; ich glaubte dies um so eher zu dürfen, als mir für die Zwecke unserer jetzigen Untersuchung die allgemeine Fassung jener Begriffe, wie sie im bürgerlichen Leben statt hat, ausreichend erschien.[232]

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 225-233.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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