III. Das Unbewusste im Gefühl

[210] Wenn ich Zahnschmerz und Fingerschmerz habe, so ist dies augenscheinlich zweierlei, denn das Eine ist im Zahn, das Andere im Finger. Hätte ich nicht die Fähigkeit, meine Wahrnehmungen räumlich zu projiciren, so würde ich auch nicht zwei Schmerzen empfinden, sondern einen gemischten aus beiden, sowie man bei zwei reinen Tönen (ohne Obertöne), die in der Octave erklingen, absolut nur einen hört: den unteren, aber mit veränderter Klangfarbe. Die Ortsverschiedenheit der Wahrnehmung ertheilt also der Seele die Fähigkeit, die Schmerzensconsonanz den ortsverschiedenen Wahrnehmungen gemäss in ihre Elemente zu zerfallen, einen Theil mit dieser, den anderen mit jener Ortsvorstellung zu verknüpfen und so die Zweierleiheit zu constatiren. Nun können aber Dinge räumlich zweierlei sein und doch unterschiedlos, wie z.B. zwei congruente Dreiecke. Dies kann man freilich von Zahnschmerz und Fingerschmerz nicht behaupten; erstens können sie sich durch den Grad, d.i. die intensive Quantität unterscheiden und zweitens durch die Qualität, denn bei gleicher Stärke kann der Schmerz continuirlich oder intermittirend, brennend, kältend, drückend, klopfend, stechend, beissend, schneidend, ziehend, zuckend, kitzelnd sein, und eine Unendlichkeit von Variationen zeigen, die sich gar nicht beschreiben lassen.

Wir haben bis jetzt unter Schmerz das Ganze verstanden, es fragt sich aber, ob man dies nicht philosophisch verbieten muss, und vielmehr in diesem gegebenen Ganzen die sinnliche Wahrnehmung und den Schmerz oder die Unlust im engeren Sinne unterscheiden muss. Denn wir haben oft eine Wahrnehmung vor uns, die weder Lust noch Schmerz erzeugt, z.B. wenn ich mir den Finger leise drücke oder mir die Haut bürste; während[210] diese Wahrnehmung qualitativ unverändert bleibt, und nur in ihrem Grade zu- oder abnimmt, kann Lust oder Unlust hinzutreten, und jetzt sollte plötzlich in dem Schmerz oder der Lust die Wahrnehmung mit inbegriffen sein? Wir müssen also Beides sondern, und erkennen bald, dass beide so wenig Eins sind, dass sie vielmehr in causaler Beziehung stehen; denn die Wahrnehmung (oder ein Theil derselben) ist die Ursache des Schmerzes, da er mit derselben auftritt und verschwindet, und nie ohne dieselbe erscheint, wohl aber die Wahrnehmung unter besonderen Umständen ohne den Schmerz.

Nach dieser Sonderung liegt die Frage nahe, ob denn die erwähnten Unterschiede wirklich in Lust und Schmerz liegen oder bloss in den verursachenden und begleitenden Umständen, nämlich in der Wahrnehmung. Dass der Schmerz intensiv quantitative Unterschiede zulässt, ist klar, aber lässt er auch qualitative zu? Die meisten Unterschiede, welche man mit Worten bezeichnet, kommen auf verschiedene Formen des Intermittirens hinaus, so klopfend, ziehend, zuckend, stechend, schneidend, beissend, sogar kitzelnd; es verändert sich hier freilich mit dem Grade der Wahrnehmung fortwährend der Grad des Schmerzes nach gewissen mehr oder weniger regelmässigen Typen, aber von einer ursprünglich qualitativen Verschiedenheit des Schmerzes selbst ist dabei nichts zu finden. Viel eher könnte man dies vermuthen bei der Lust oder Unlust, die durch verschiedene Gerüche und Geschmäcke hervorgerufen wird, aber auch hier wird man sich bei scharfer Selbstbeobachtung überzeugen, dass die qualitative Verschiedenheit von Lust oder Unlust durchaus nur scheinbar ist, und diese Täuschung dadurch entsteht, dass man niemals bisher die Sonderung von Lust oder Unlust und Wahrnehmung vorgenommen hat, sondern beide mit der Wahrnehmung als einziges Ganzes aufzufassen gewohnt gewesen ist, so dass nun die Unterschiede der Wahrnehmung sich auch als Unterschiede dieses einigen Ganzen hinstellen. – Dass man aber diese Sonderung niemals vorgenommen hat, das liegt daran, weil man aus der unendlich mannigfaltigen Composition von Seelenzuständen immer nur diejenigen Gruppen als selbstständige Theile aussondern lernt, welche zusondern dem practischen Bedürfniss einen reellen Nutzen bringt. So z.B. sondert man in dem Accord, den ein volles Orchester angiebt, nicht etwa alle Töne einer Tonhöhe aus, gleichviel von welchen Instrumenten sie kommen, einschliesslich deren Obertöne, sondern man fasst die von einem Instrument[211] erzeugten Obertöne der verschiedensten Lagen mit dem Grundton des Instrumentes zu seiner Klangfarbe zusammen, und die so gebildeten Tongruppen, welche die von jedem einzelnen Instrumente hervorgerufenen Töne repräsentiren, fasst man erst zum Accord zusammen, einfach aus dem Grunde, weil die Kenntniss der Obertöne kein practisches Interesse gewährt, wohl aber die Kenntniss der Klangfarben der Instrumente. Und diese practische Art, die Tongruppen zusammen zu fassen, ist uns so eingelebt, dass uns die nach den Messen Tonhöhen, obwohl sie offenbar viel leichter sein muss, rein unmöglich ist, so unmöglich, dass erst vor wenigen Jahren Helmholtz die Entstehung der Klangfarben durch Combination von Obertönen wirklich streng bewiesen bat.

Fast ebenso unmöglich erscheint es uns nun auch, aus dem Ganzen von Lust oder Unlust und den sie bewirkenden und begleitenden Wahrnehmungen diese Elemente in der Selbstbeobachtung scharf zu sondern und auseinander zu halten; dass diese Sonderung indess möglich sein muss, sieht Jeder daran, dass beide Theile sich wie Ursache und Wirkung verhalten und wesentlich verschieden sind. Wem es gelingt, sie vorzunehmen, wird den Satz bestätigt finden, dass Lust und Unlust nur intensiv quantitative, aber keine qualitativen Unterschiede haben. Es wird um so leichter gelingen, mit je einfacheren Beispielen man anfängt, z.B. ob die Lust beim Anhören eines Glockentones verschieden ist, wenn der Ton c und wenn er d ist. Hat man die Sache einmal bei solchen einfachen Beispielen eingesehen, so wird sie Einem auch einleuchten, wenn man allmählich zu Beispielen aufsteigt, die grössere Unterschiede der Wahrnehmung enthalten. Man kann auch rückwärts eine Bestätigung des Satzes darin sehen, dass man im Stande ist, verschiedene sinnliche Genüsse oder Schmerzen gegen einander abzuwägen (z.B. ob Jemand für den Thaler, den er auszugeben hat, lieber eine Flasche Wein trinkt, oder Kuchen und Eis isst, oder Beefsteak mit Bier, oder ob er sich dafür die Befriedigung eines anderen sinnlichen Bedürfnisses gewährt; – ob man den Zahnschmerz noch Tagelang erträgt, oder sich lieber den Zahn ausziehen lässt), welches gegenseitige Abwägen nicht möglich wäre, wenn nicht Lust und Unlust in allen diesen Dingen nur quantitativ verschieden und qualitativ gleich wären, denn nur mit Gleichem lässt sich Gleiches messen.

Man sieht nunmehr auch ein, dass die Ortsverschiedenheit keineswegs den Schmerz unmittelbar, sondern nur die Wahrnehmung trifft, und erst durch die Wahrnehmung eine ideelle Theilung des[212] summarischen Schmerzes eintritt, indem ein Theil desselben auf diese, ein anderer auf jene Wahrnehmung causal bezogen wird. Wenn nun streng genommen der Schmerz ortslos ist und nur die Wahrnehmung Ortsbeziehung hat, so kann auch die durch die Ortsverschiedenheit gesetzte Zweierleiheit nur auf die Wahrnehmung, aber nicht auf den Schmerz Bezug haben, und der Schmerz ist demnach nicht blos in allen Fällen qualitativ gleich, sondern er ist in demselben Moment immer nur Einer.

Diese Erwägungen finden ihre Bestätigung in Wundt's »Beiträgen zur Theorie der Sinneswahrnehmung«. Derselbe sagt (S. 391-392): »Das Wesentliche des Schmerzes ist identisch, mag derselbe in einem der objectiven Sinnesorgane, wie in der Haut, oder in einem beliebigen Theil der Rumpfeingeweide seinen Sitz haben. Wie der Schmerz, von welcher Ursache er auch herrühren mag – von mechanischem, chemischem Reiz, Wärme oder Kälte u.s.w. – immer gleicher Natur ist, so zeigt er in seinem wesentlichen Charakter keine Verschiedenheit, welche schmerzempfindende Nerven des Körpers der schmerzerregende Reiz auch treffen mag.« Er zeigt weiter, »dass der Schmerz, wie er in den eigentlichen Sinnesorganen nur als die höchste Steigerung der Empfindung sich darstellt, so auch in allen übrigen empfindenden Organen nichts Anderes ist, als die intensivste Empfindung, die auf die stärksten Reize erfolgt, dass dagegen alle Organe, die überhaupt der Schmerzempfindung fähig sind, auch Empfindungen zu vermitteln vermögen, die nicht als Schmerz bezeichnet werden können, sondern die für jedes Organ dasselbe darstellen, was für das Sinnesorgan die specifische Sinnesempfindung ist« (S. 394). »Ist man einmal auf diese Vorläufer und Nachfolger des Schmerzes aufmerksam geworden, so kann man dieselben auch deutlich dann wahrnehmen, wenn sie nicht mit vorangegangenen, oder nachfolgenden Schmerzen in Verbindung stehen« (S. 393). »Da wir auf sie erst achten, wenn sie zum Schmerz sich steigern, so hat die Sprache auch nur unterscheidende Bezeichnungen für die Eigenthümlichkeit des Schmerzes verschiedener Organe« (S. 395). Diese den Sinnesempfindungen entsprechenden specifischen Organempfindungen in Verbindung mit der secundären Affection benachbarter Gewebe sind es also, welche die verschiedene Färbung des Schmerzes bedingen, ohne die Identität seines Wesens zu alteriren.

Wer die Gleichheit von Lust und Unlust in sinnlichen Gefühlen eingesehen hat, der wird sie auch bei geistigen bald zugeben. Ob[213] mein Freund A oder mein Freund B stirbt, kann wohl den Grad, aber nicht die Art meines Schmerzes verändern, eben so wenig ob mir die Frau oder mein Kind stirbt, obwohl meine Liebe zu beiden ganz verschiedener Art gewesen, also auch die Vorstellungen und Gedanken, welche ich mir über die Beschaffenheit des Verlustes mache, ganz verschieden sind. Wie der Schmerz überhaupt in diesem Falle durch die Vorstellung des Verlustes verursacht worden ist, so wird auch in dem Complex von Gefühlen und Gedanken, den man gewöhnlich unter Schmerz zusammenfasst, durch die Verschiedenheit der Vorstellungen über den Verlust eine Verschiedenheit herbeigeführt; sondert man aber wiederum das ab, was Schmerz und nichts als Schmerz ist, nicht Gedanke und nicht Vorstellung, so wird man finden, dass dieser wiederum ganz gleich ist. Dasselbe findet bei dem Schmerz statt, den ich über den Verlust der Frau, über den Verlust meines Vermögens, der mich zum Bettler macht, und über den durch Verleumdung verursachten Verlust meines Amtes und meiner Ehre empfinde. Das was Schmerz ist, und nichts als Schmerz, ist überall nur dem Grade nach verschieden. Ebenso bei der Lust, die ich empfinde, wenn ein Anderer nach langem Sträuben endlich meinem eigensinnigen Willen willfahrt, oder wenn ich einen Lotteriegewinn mache, oder eine höhere Stellung erhalte.

Dass Lust und Unlust überall gleich sind, geht auch hier wiederum daraus hervor, dass man die eine mit der anderen misst, auf welchem Abwägen von Lust und Unlust in der Zukunft jede vernünftige practische Ueberlegung, jedes Entschlussfassen des Menschen beruht, denn man kann doch nur Gleiches mit Gleichem messen, nicht Heu mit Stroh, oder Metzen mit Pfunden. In der Thatsache, dass das ganze menschliche Leben und die Entscheidungsgründe des Handelns in demselben auf einem Gegeneinanderabwägen der verschiedensten Arten von Lust und Unlust beruht, ist implicite und unbewusst die Voraussetzung als bedingende Grundlage enthalten, dass solche verschiedene Arten von Lust und Unlust sich überhaupt gegen einander abwägen lassen, dass sie commensurabel, d.h. dass das Verglichene an ihnen qualitativ identisch ist; wäre diese stillschweigende Voraussetzung falsch, so würde das ganze menschliche Leben auf einer Ungeheuern Illusion beruhen, deren Entstehen und Möglichkeit schlechthin unbegreiflich wäre. Die Commensurabilität der Lust und Unlust an sich, welche schon sprachlich in der Gleichnamigkeit aller Arten von Lust und Unlust ausgedrückt ist, muss also unbedingt als[214] Thatsache angenommen werden, und sie gilt nicht bloss für verschiedene Gattungen sinnlicher Lust, sondern eben so sehr für sinnliche und geistige Lust und Unlust. Man denke sich einen Menschen, der zwischen zwei reichen Schwestern die Wahl hat zu heirathen, die eine klug und hässlich, die andere dumm und schön, so wägt er die vorausgesetzte sinnliche und geistige Lust gegen einander ab, und je nachdem diese oder jene ihm überwiegend scheint, trifft er seine Entscheidung. Auf dieselbe Weise wägt ein in Versuchung geführtes Mädchen die Lust aus der Ehre, aus dem Tugendstolz und aus der Hoffnung auf künftige Hausfrauenwürde gegen die Lust aus den Verheissungen des Verführers und die ihr bei demselben winkenden Genüsse ab; ein Gläubiger wiederum vergleicht die himmlischen Freuden, die aus irdischer Entsagung quillen sollen, mit jenen irdischen Freuden, denen er entsagen soll, und je nach dem anscheinenden Ueberwiegen der einen oder der andern Summe ergreift er das irdische oder das himmlische Theil. – Es wäre ein solches Abwägen von sinnlicher und geistiger Lust gegen einander und die Voraussetzung der Wesensgleichheit beider, auf welcher sie beruht, nur dann unverständlich, wenn Sinnliches und Geistiges überhaupt heterogene, durch eine starre Kluft geschiedene Gebiete wären. Dies ist aber nicht der Fall; auch das Sinnliche, insofern es eben Empfindung ist, ruht schon auf dem geistigen Boden der Innerlichkeit, und auch das Geistige, insoweit es das Bewusstsein erfüllt, bildet nur die Blüthe des Baumes der Sinnlichkeit, auf dem es erwachsen ist, und von dem es sich niemals losreissen kann.A52

Wir halten also das Resultat fest, dass Lust und Unlust an und für sich in allen Gefühlen nur Eine ist, oder dass sie nicht der Qualität nach, sondern nur dem Grade nach verschieden sind.A53 Dass Lust und Unlust einander aufheben, sich also wie Positives und Negatives verhalten, und der Nullpunct zwischen ihnen die Indifferenz des Gefühls ist, ist klar; ebenso klar ist es, dass es gleichgültig ist, welches von Beiden man als Positives annehmen will, ebenso gleichgültig wie die Frage, ob man die rechte oder die linke Seite der Abscissenaxe als positiv annimmt (dass also Schopenhauer Unrecht hat, wenn er die Unlust als das allein Positive erklärt, und die Lust als ihre Negation; er begeht dabei den Fehler, den Gegensatz als einen contradictorischen aufzufassen, der ein conträrer ist).

Die Frage ist nun aber die: was sind denn Lust und Unlust? Dass die Vorstellung eine ihrer Ursachen ist, haben wir gesehen, aber was sind sie denn selbst? Aus der Vorstellung allein sind sie[215] nun und nimmermehr zu erklären, so sehr sich auch ältere und neuere Philosophen darum bemüht haben; die einfachste Selbstbeobachtung straft ihre unbefriedigt lassenden Deductionen Lügen, und sagt aus, dass Lust und Unlust einerseits und Vorstellung andererseits heterogene Dinge sind, die sich nur gewaltsam in einen Topf werfen lassen. Dagegen ist von den meisten bedeutenden Denkern aller Zeiten anerkannt worden, dass Lust und Unlust mit dem innersten Leben des Menschen, mit seinen Interessen und Neigungen, seinen Begehrungen und Strebungen, mit einem Worte mit dem Reich des Willens im engsten Zusammenhang stehen. Ohne auf die Ansichten der einzelnen Philosophen hier näher eingehen zu wollen, kann man zusammenfassend sagen, dass Aller Meinungen sich auf zwei Grundanschauungen zurückführen lassen: entweder fassen sie die Lust als Befriedigung, Unlust als Nichtbefriedigung des Begehrens auf, oder umgekehrt das Begehren als Vorstellung der zukünftigen Lust, das Verabscheuen (negative Begehren) als Vorstellung der zukünftigen13 Unlust. Im ersteren Falle ist der Wille, im letzteren das Gefühl als das Ursprüngliche gefasst. Welches von Beiden das Richtige ist, ist unschwer zu sehen; denn erstens besteht im Instinct das Wollen factisch vor der Vorstellung der Lust, sein eigentliches Ziel ist hier ein anderes, als die individuelle Lust der Befriedigung; zweitens wird wohl durch die Erklärung der Lust als Befriedigung des Willens Alles an der Lust genügend erklärt, aber nicht umgekehrt Alles am Willen durch die Erklärung desselben als Vorstellung der Lust; hier bleibt das eigentlich treibende Moment, der Wille als wirkende Causalität, völlig unbegreiflich; – eben weil der Wille die Veräusserlichung, Lust und Unlust aber die Rückkehr von dieser Veräusserlichung zu sich selbst und damit der Abschluss dieses Processes ist, darum muss der Wille das primäre, die Lust das secundäre Moment sein.

Lassen wir diese Ansicht vorläufig gelten, so erhalten wir eine[216] unerwartete Bestätigung für die wesentliche Gleichheit der Lust und Unlust in allen Gefühlen. Wir haben nämlich früher gesehen, dass das Wollen ebenfalls immer ein und dasselbe ist, und sich erstens nur dem Stärkegrade nach und zweitens dem Objecte nach unterscheidet, welches aber nicht mehr Wille, sondern Vorstellung ist. Wenn nun Lust die Befriedigung, Unlust die Nichtbefriedigung des Willens ist, so ist klar, dass auch diese immer nur ein und dieselben sein müssen, und bloss dem Grade nach verschieden sein können dass aber die scheinbaren qualitativen Unterschiede, die sie enthalten, durch begleitende Vorstellungen gegeben werden, theils durch die, welche das Willensobject ausmachen, theils durch die, welche die Befriedigung des Willens herbeiführen. Hieraus resultirt für alle Zustände des Gemüthes unbeschadet ihrer Mannigfaltigkeit eine so grosse Einfachheit, dass diese nach dem alten Wort: »simplex sigillum veri«, rückwärts den Sätzen eine Stütze sein muss, aus denen sie entspringt, sowie diese sich einander gegenseitig durch die Macht der Analogie stützen und verwahrscheinlichen.

Das, warum ich nun eigentlich an diesem Orte diese Fragen aus dem bewussten Seelenleben berührt habe, sind folgende beiden ergänzenden Sätze aus der Psychologie des Unbewussten: 1) Wo man sich keines Willens bewusst ist, in dessen Befriedigung eine vorhandene Lust oder Unlust bestehen könnten, ist dieser Wille ein unbewusster; und 2) das Unklare, Unaussprechliche, Unsägliche der Gefühle liegt in der Unbewusstheit der begleitenden Vorstellungen. – Weil der Begriff des unbewussten Willens in der bisherigen Psychologie fehlte, darum konnte sie gewissenhafter Weise die Erklärung der Lust als Befriedigung des Willens nicht unbedingt acceptiren, und weil ihr der Begriff der unbewussten Vorstellung fehlte, darum wusste sie mit dem gesammten Gebiet der Gefühle nichts Rechtes anzufangen, und beschränkte deshalb ihre Betrachtungen fast ausschliesslich auf das Gebiet der Vorstellung.

Als Beispiel einer Lust aus unbewusstem Willen denke man an die Instincte, bei denen der Zweck im Unbewussten liegt, z.B. die Mutterlust am Neugeborenen, oder die transcendente Seligkeit des glücklich Liebenden; hier kommt durchaus kein derartiger Wille zum Bewusstsein, dessen Befriedigung dem Grade der Lust entspräche; wir keimen aber die metaphysische Macht jenes unbewussten Willens, als dessen specielle Wirkungen die einzelnen instinctiven Begehrungen erscheinen und dem durch die Erfüllung dieser[217] Genüge geschieht; und ein überschwenglich hoher und starker Wille muss es wahrlich sein, dessen Befriedigung jene Erscheinungen überschwenglicher Lust zur Folge hat, von denen die Dichter aller Zeiten nicht hoch genug zu singen wissen.

Ein anderes Beispiel ist die sinnliche Lust und Unlust, die aus Nervenströmungen gewisser Art hervorgehen. Lotze in seiner »medicinischen Psychologie« zeigt, dass die sinnliche Lust stets mit einer Förderung, die Unlust mit einer Störung des organischen Lebens verbunden auftritt; dieser gewissenhafte Forscher erkennt aber ausdrücklich an, dass hiermit nur ein gesetzmässiges Zusammenvorkommen constatirt sei, keineswegs jedoch aus dem Begriff der Störung des Lebens der Begriff der Unlust abgeleitet werden könne, dass somit das Gesetz, das Beide verbindet, tiefer liegen müsse. Dies ist nun offenbar der unbewusste Wille, den wir als Princip der Verleiblichung, der Selbsterhaltung und Selbstherstellung kennen gelernt haben; sobald Störungen oder Beförderungen im Bereich des organischen Lebens so beschaffen sind, dass sie durch Nervenströmungen zum Organ des Bewusstseins, dem Gehirn telegraphirt werden, so müssen die Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen dieses unbewussten Willens als Lust oder Unlust empfunden werden. (Was Widerlegung etwaiger Einwendungen gegen obige Behauptungen über die sinnliche Lust und Unlust anbetrifft, so verweise ich auf Lotze, zweites Buch, zweites Capitel.)

Dass wir sehr oft nicht wissen, was wir eigentlich wollen, ja sogar oft das Gegentheil zu wollen glauben, bis wir durch die Lust oder Unlust bei der Entscheidung über unseren wahren Willen belehrt werden, wird wohl Jeder schon Gelegenheit gehabt haben, an sich und Anderen zu beobachten. Wir glauben nämlich in solchen zweifelhaften Fällen häufig das zu wollen, was uns gut und lobenswerth erscheint, z.B. dass ein kranker Verwandter, den wir zu beerben haben, nicht sterben möge, oder dass bei einer Collision zwischen dem Gemeinwohl und unserem individuellen Wohl ersteres vorangesetzt werde, oder dass eine früher eingegangene Verpflichtung bestehen bleiben, oder dass unserer vernünftigen Ueberzeugung und nicht unserer Neigung und Leidenschaft gewillfahrt werde; dieser Glaube kann so fest sein, dass hernach, wenn die Entscheidung unserem vermeintlichen Willen entgegen ausfällt, und uns trotzdem keine Betrübniss, sondern eine ausgelassene Freude überkömmt, wir uns vor Erstaunen über uns selbst gar nicht zu lassen wissen, weil wir nun an dieser Freude plötzlich unsere Täuschung gewahr[218] werden, und erfahren, dass wir unbewusst das Gegentheil von dem gewollt haben, was zu wollen wir uns vorgestellt hatten. Da wir nun auf unseren eigentlichen Willen in diesem Falle nur aus unserer Lust, resp. Unlust zurückschliessen, so besteht diese Lust bei ihrem Eintreten offenbar in der Befriedigung eines unbewussten Willens. Dies wird noch einleuchtender, wenn wir betrachten, wie von dem übermässigsten Erstaunen an, dass solch' ein Wille unbewusst in der eigenen Seele existirt haben könne, ganz allmählich der Uebergang stattfindet durch den leisen Verdacht, den Zweifel und die Vermuthung, dass man doch wohl jenes wolle, und nicht das, was man sich einbilde, bis endlich zu dem offenen Selbstbetrug, wo man ganz gut weiss dass man jenes wolle, aber sich und andere mit mehr oder weniger Glück zu überreden sucht, man wolle das Gegentheil. Hieran schliessen sich dann die Fälle, wo nicht einmal der Versuch zur Selbsttäuschung gemacht wird, und die Ueberraschung, mit welcher die Lust auftritt, nur darin besteht, dass man sich sehr lange den Wunsch nicht zum Bewusstsein gebracht hat, also z B. wenn ein längst todt geglaubter Freund plötzlich in mein Zimmer tritt; auch dann ist es ein unbewusster Wille, dessen Befriedigung als Freudenschreck sich darstellt, aber jetzt brauche ich die Existenz dieses Willens in mir nicht erst aus dem Eintritt der Lust zu erschliessen, sondern kann sie direct aus der Erinnerung früherer Zeiten entnehmen, wo ich oft gewünscht habe, den verlorenen Freund noch einmal in meine Arme zu schliessen.

Wir wissen aus Cap. A. IV., dass der bewusste und unbewusste Wille sich wesentlich dadurch unterscheiden, dass die Vorstellung, welche das Object des Willens bildet, im einen Falle bewusst, im anderen unbewusst ist. Indem wir uns diesen Satz zurückrufen, erkennen wir den Uebergang von der Lust oder Unlust aus unbewusstem Willen zu denjenigen Gefühlen, welche dadurch etwas Unklares erhalten, dass ihre Qualität ganz oder theilweise durch unbewusste Vorstellungen bedingt wird. Wir sehen nämlich jetzt dass das erstere nur ein specieller Fall des letzteren ist, indem eben in ersterem die Vorstellungen, welche den Inhalt des befriedigten Willens bilden, unbewusst bleiben, und vielleicht nur die Vorstellungen, welche die Befriedigung herbeiführen, bewusst werden (wie z.B. bei der Mutterliebe); doch passt dies nicht ganz auf die fälle, wo sofort durch das Eintreten der Lust oder Unlust auch das Vorhandensein und die Art des unbewussten Willens vom[219] Bewusstsein erschlossen wird, weil dieses nur zwischen zwei oder doch nur wenigen Arten von Willen schwanken konnte.

Nun sind aber selten die Verhältnisse so einfach, dass das Gefühl in der Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines einzigen bestimmten Begehrens besteht, sondern die verschiedenartigsten Gattungen von Begehrungen durchkreuzen sich in jedem Augenblick auf das Mannigfaltigste, und durch dasselbe Ereigniss werden einige befriedigt, andere nicht befriedigt, daher giebt es weder reine, noch einfache Lust und Unlust, d.h. es giebt keine Lust, die nicht einen Schmerz enthielte, und keinen Schmerz, mit dem nicht eine Lust verknüpft wäre; aber es giebt auch keine Lust, die nicht aus der gleichzeitigen Befriedigung der verschiedensten Begehrungen zusammengesetzt wäre. Wie das actuelle Wollen die Resultante aller gleichzeitig functionirenden Begehrungen, so ist auch die Befriedigung des Willens die Resultante aller gleichzeitigen Befriedigungen und Nichtbefriedigungen der einzelnen Begehrungen; denn es ist ja gleich, ob man eine Operation gleich mit der Resultante vornimmt, oder mit den einzelnen Componenten, und dann erst die Resultante der Partialresultate nimmt. Nun leuchtet ein, dass ein Theil dieser einzelnen Begehrungen bewusst, ein anderer unbewusst sein kann, ja meistentheils sein wird; dann ist auch die Lust gemischt aus solchen Lüsten, die durch bewusste, und solchen, die durch unbewusste Vorstellungen bestimmt werden. Der letztere Theil muss der Qualität des Gefühles jenen unklaren Charakter geben, jenen stets übrig bleibenden Rest, der bei aller Anstrengung niemals vom Bewusstsein erfasst werden kann.

Aber noch andere Puncte giebt es als den unbewussten Willen, wo unbewusste Vorstellung auf die Eigenthümlichkeit des Gefühls bestimmend wirkt. Es kann nämlich selbst die das Gefühl erzeugende Wahrnehmung oder Vorstellung dem Hirn unbewusst sein, so wunderlich es auf den ersten Augenblick klingt. Denn man sollte meinen, die Vorstellung, welche die Befriedigung des Willens herbeiführt, kann nur von aussen oder bei Phantasiespielen durch hirnbewusstes Vorstellen kommen, und in beiden Fällen kann die Instanz des Bewusstseins nicht umgangen werden. Man vergisst aber dabei, dass es noch andere Nervencentraltheile giebt, die ebenso wie das Hirn für sich ein Bewusstsein haben, welches der Lust und der Unlust fähig ist. Nun kann man sich wohl denken, dass die Lust oder Unlust-Empfindungen dieser Centra dem Gehirn zugeleitet werden, ohne dass die Leitung so gut eingerichtet ist, dass[220] die Wahrnehmungen selbst, welche in jenen Centris Lust oder Unlust erzeugen, bis zum Gehirn gelangen könnten. So erhält das Gehirn wohl Lust- und Unlust-Empfindungen zugeleitet, aber nicht ihre Entstehungsgründe, und darum haben solche im Gehirn aus anderen Centris sich wiederspiegelnde Gefühle und Stimmungen etwas sehr Unverständliches und Räthselhaftes, wenn auch ihre Macht über das Hirnbewusstsein nicht selten sehr gross ist. Letzteres sucht sich dann meist andere scheinbare Ursachen seiner Gefühle auf, die keineswegs die richtigen sind. Je weniger sich das Hirnbewusstsein zu einer gewissen Selbstständigkeit und Höhe emporgerungen hat, desto mehr Macht haben die aus dem relativ Unbewussten quillenden Stimmungen über dasselbe, so beim weiblichen Geschlecht mehr als beim männlichen, bei Kindern mehr als bei Erwachsenen, bei Kranken mehr als bei Gesunden. Am deutlichsten treten diese Einflüsse auf bei Hypochondrie, Hysterie und bei wichtigen sexuellen Veränderungen, als z.B. Pubertät, Schwangerschaft. Diese Einflüsse äussern sich auch keineswegs bloss in Stimmungen, d.h. in der Disposition zu heiteren oder traurigen Gefühlen, sondern in höheren Graden lassen sie direct Gefühle im Hirnbewusstsein entstehen, wie man wiederum am Besten an Hypochondristen bemerkt.

»Man sehe jenes Kind: wie seelenfroh, wie freudiges Hüpfen, wie heiteres Lachen, wie leuchtendes Auge; alles Fragen nach der Ursache wäre vergeblich, oder die angegebenen Ursachen würden mit der Freude ausser allem Verhältniss stehen. Und plötzlich, und wieder ohne allen bewussten Grund, ist das Alles vorbei, das Kind ist still in sich gekehrt, trüben Auges, grämlichen Mundes, zum Weinen geneigt, es ist verdriesslich und traurig, wo es noch eben vergnügt und lustig war.« (Carus' Psyche.) Wo anders sollen diese Gefühle, deren Eigenthümlichkeit nur auf unbewusste Vorstellungen zurückzuführen ist, ihren Ursprung nehmen, als aus vitalen Wahrnehmungen der niederen Nervencentra? Dass die Macht dieser Gefühle uns beim Menschen um so grösser erscheint, je geringer die Selbstständigkeit des Hirnbewusstseins ist, lässt darauf schliessen, dass bei den Thieren die Bedeutung derselben ebenfalls um so grösser ist, je tiefer wir in der Thierreihe hinabsteigen, was sich auch a priori erwarten lässt, da hier die geistigen Genüsse und Leiden des menschlichen Hirnbewusstseins mehr und mehr verschwinden.A55

Man wird jetzt einsehen, wie auch andere sinnliche Gefühle, die zum Theil durch klar bewusste Hirnwahrnehmungen bestimmt und begleitet sind, zum anderen Theil unklar und unfasslich bleiben,[221] insofern sie durch Wahrnehmungen und Gefühle niederer Centra vermittelt sind; so vergleiche man z.B., wie leicht es ist, irgend ein einfaches Gefühl, das durch die Wahrnehmung der direct zum Hirn leitenden oberen Sinne bestimmt ist, in der blossen Vorstellung vollständig und klar zu reproduciren, wie erfolglos dagegen alle Bemühungen bleiben, Hunger und Durst oder Geschlechtsgenuss dem Bewusstsein klar und vollständig aus der Erinnerung zu vergegenwärtigen.

Endlich bleibt die Möglichkeit übrig, dass noch andere unbewusste Vorstellungen bestimmend auf die Eigenthümlichkeit der Gefühlszustände einwirken. Wir haben nämlich schon weiter oben gesehen, dass die sinnliche Wahrnehmung häufig erst dann eine Lust- oder Unlust-Empfindung zur Folge hat, wenn sie in einer gewissen Stärke auftritt, während sie unter diesem Maass als indifferente objective Wahrnehmung für sich besteht, ohne ein solches Gefühl zu veranlassen. Nun ist aber fast keine sinnliche Wahrnehmung durchaus einfach, sondern aus einer Menge von Elementen zusammengesetzt, die nur durch den gemeinsamen Act der Perception zur Einheit verbunden werden. Dennoch können sehr wohl Eine oder einzelne dieser Partialwahrnehmungen Gefühle zur Folge haben, während die übrigen Partialwahrnehmungen dem Gefühl indifferent bleiben. Nichtsdestoweniger werden, wenn die Verbindung dieser verschiedenen Partialwahrnehmungen zu Einer summarischen Wahrnehmung keine zufällige, sondern eine in der Natur des Objects begründete beständige ist, nicht nur die das Gefühl bewirkenden, sondern auch die indifferenten Theile der ganzen Wahrnehmung mit dem Gefühle verschmelzen und für die Qualität des ganzen Seelenzustandes mitbestimmend sein, weil ja die Seele kein Interesse hat, die Sonderling der gefühlerzeugenden und der indifferenten Theile vorzunehmen. So z.B. wirkt für den Charakter des Lustgefühls, welches in mir durch das Anhören einer bestimmten Sängerin erzeugt wird, jede charakteristische Eigenthümlichkeit des Timbre und Klanges der Stimme mitbestimmend, und ohne dass diese kleinen Unterschiede, welche eben nur zur Möglichkeit der Unterscheidung verschiedener Stimmen hinreichen, einen Unterschied in dem Grade des Genusses hervorrufen könnten, bin ich doch nicht im Stande mir den Genuss, welchen ich beim Anhören gerade dieser Sängerin empfanden, von diesen feinen Nuancen der indifferenten Wahrnehmung zu sondern, ohne die Eigenthümlichkeit des gehabten Gefühls aufzugeben. Es beweist dies eben nur, dass man das, was [222] eigentlich Lust und Unlust in den Seelenzuständen ist, gar niemals auszuscheiden sich geübt hat, sondern alle Seelenzustände, in denen nur überhaupt Lust und Unlust vorkommt, aber mit Einschluss aller begleitenden Wahrnehmungen und Vorstellungen (ja sogar Begehrungen), unter dem Ausdruck Gefühl zusammenfasst. – Man sieht nun ein, dass auch unter den bloss begleitenden Wahrnehmungen unbewusste für das Hirn sein können, wie dies so eben für die gefühlerzeugenden gezeigt worden ist; noch wichtiger aber werden diese begleitenden Vorstellungen, wenn wir von dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung in das der geistigen Vorstellung übergehen.

So haben wir nun die verschiedenen Arten, wie Gefühle durch unbewusste Vorstellungen bestimmt werden können, im Allgemeinen entwickelt, und vielleicht ist bei dieser Gelegenheit auch schon die Wichtigkeit der unbewussten Vorstellungen für das ganze Gefühlsleben sichtbar geworden. Diese Wichtigkeit ist gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Man nehme sich zur Probe nur ein Gefühl vor, welches man wolle, und suche es in seinem ganzen Umfang mit völlig klarem Bewusstsein zu erfassen, es ist vergebens; denn wenn man sich nicht mit dem oberflächlichsten Verständniss begnügt, so wird man stets auf einen unauflöslichen Rest stossen, der jeder Bemühung spottet, ihn mit dem Brennspiegel des Bewusstseins zu beleuchten. Wenn man sich nun aber fragt, was man denn mit dem klar gewordenen Theil gethan habe, während man ihn mit vollem Bewusstsein erfasste, so wird man sich sagen müssen, dass man ihn in Gedanken, d.h. bewusste Vorstellungen übersetzt habe, und nur soweit das Gefühl sich in Gedanken übersetzen lässt, nur so weit ist es klar bewusst geworden. Dass sich aber das Gefühl, und wenn auch nur theilweise, hat in bewusste Vorstellungen umgiessen lassen, das beweist doch wohl, dass es diese Vorstellungen schon unbewusst enthielt, denn sonst würden ja die Gedanken in der That nicht dasselbe sein können, was das Gefühl war. Wenn der früher unbewusste Theil des Gefühls beim Durchdringen mit dem Bewusstsein sich als Vorstellungsgehalt erweist, so dürfen wir dasselbe auch von dem noch nicht mit dem Bewusstsein durchdrungene Theil des Gefühls voraussetzen; denn sowohl beim Individuum wie bei der Menschheit als Ganzes rückt die Grenze zwischen dem unverstandenen und dem verstandenen Theil des Gefühls immer weiter vor.

Nur soweit die Gefühle bereits in Gedanken übersetzt werden können,[223] nur so weit sind sie mittheilbar, wenn man von der immerhin höchst dürftigen instinctiven Geberdensprache absieht; denn nur soweit die Gefühle in Gedanken zu übersetzen sind, sind sie mit Worten wiederzugeben. Man weiss aber, was es mit der Mittheilung der Gefühle für Schwierigkeit bat, wie oft sie verkannt und missverstanden, ja sogar wie oft sie für unmöglich erklärt werden. Gefühle kann überhaupt nur begreifen, wer sie gehabt hat; nur ein Hypochondrist versteht den Hypochondristen, nur wer schon geliebt hat, den Verliebten. Wie oft aber verstehen wir uns selbst nicht, wie räthselhaft sind uns oft unsere eigenen Gefühle, namentlich wenn sie zum ersten Male kommen; wie sehr sind wir nicht in Betreff derselben den gröbsten Selbsttäuschungen unterworfen. Wir sind oft von einem Gefühle beherrscht, das in unserem innersten Wesen schon feste Wurzeln geschlagen hat, ohne es zu ahnen, und plötzlich bei irgend einer Gelegenheit fällt es uns wie Schuppen von den Augen. Man denke nur, wie tief oft reine Mädchenseelen von einer ersten Liebe erfasst sind, während sie mit gutem Gewissen die Behauptung entrüstet zurückweisen würden, und wenn nun der unbewusst Geliebte in Gefahr kommt, aus der sie ihn retten können, dann steht auf einmal das bisher schüchterne Mädchen im ganzen Heroismus und Opfermuth der Liebe da, und scheut keinen Spott und keine Nachrede; dann weiss sie aber auch in demselben Augenblick, dass sie liebt und wie sie liebt. So unbewusst aber, wie in diesem Beispiel die Liebe, hat mindestens einmal im Leben jedes geistige Gefühl in uns existirt, und der Process, vermöge dessen wir uns ein für allemal seiner bewusst wurden, ist das Uebersetzen der unbewussten Vorstellungen, welche das Gefühl bestimmten, in bewusste Vorstellungen, d.h. Gedanken und Worte.A56[224]

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S. 215 Z. 15 v. u. Die übliche Trennung zwischen sinnlichen und geistigen Gefühlen und Trieben ist wohl berechtigt, wenn damit die verschiedene Beschaffenheit und der verschiedene Werth der Gebiete bezeichnet werden soll, auf welche die betreffenden Gefühle und Triebe sich durch die Vorstellungen, mit denen sie verbunden sind, beziehen; aber sie wird zu einer unberechtigten Unterstellung, wenn sie über diese qualitative Verschiedenheit der betreffenden Vorstellungsgebiete übergreift, und die Gleichartigkeit des Willens an sich und seiner Befriedigung oder Nichtbefriedigung anzutasten versucht (vergl. hierzu Göring, System der krit. Phil. Theil I, Cap. VI »Die Trennung der Triebe und Gefühle in sinnliche und geistige« S, 107 ff., auch Cap. IV »Die Falschheit der Unterscheidung zwischen niederem und höherem Willen« S. 78-87).

A53

S. 215 Z. 13 v. u. Je mehr Anfechtungen dieser Satz, der so einfach ist, aber für ein an die Abstraction von den begleitenden und erzeugenden Vorstellungen der Gefühle nicht gewöhntes Denken so überraschend und beinahe paradox erscheint, erfahren hat, desto mehr freut es mich, dass ich mich in diesem Punkte auf die Uebereinstimmung mit keinem Geringeren als Kant berufen kann. Derselbe sagt in der Krit. d. prakt. Vern. (Werke VIII. 131): »Die Vorstellungen der Gegenstände mögen noch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, selbst Vernunftsvorstel lungen im Gegensatze der Vorstellungen der Sinne sein, so ist doch das Gefühl der Lust, wodurch jene doch eigentlich den Bestimmungsgrund des Willens ausmachen (die Annehmlichkeit, das Vergnügen, das man davon erwartet, welches die Thätigkeit zur Hervorbringung des Objekts antreibt), nicht allein so ferne von einerlei Art, dass es jederzeit bloss empirisch erkannt werden kann, sondern auch so ferne, als es eine und dieselbe Lebenskraft, die sich im Begehrungsvermögen äussert, afficirt, und in dieser Beziehung von jedem andern Bestimmungsgrunde« (soll heissen: von jedem durch einen andern Bestimmungsgrund hervorgerufenen Gefühl) »in nichts als dem Grade verschieden sein kann. Wie würde man sonst zwischen zwei der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen eine Vergleichung der Grösse nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungs vermögenafficirt, vorzuziehen?« (Vgl. »Phil. Fragen der Gegenwart« S. 92-94.)

13

Es mag immerhin mit dem positiven Begehren stets zugleich die Empfindung der gegenwärtigen Nichtbefriedigung, mit dem negativen häufig zugleich die Empfindung einer gegenwärtigen (in ihrem Fortbestand gefährdeten) relativen Befriedigung verbunden sein, so können diese gegenwärtigen Empfindungen doch keinenfalls als das Begehren selbst, sondern nur als Ursache des Begehrens gefasst werden (genauer: als Veranlassungen oder Gelegenheiten, welche dem innerhalb des Weltprocesses ein für allemal erhobenen oder actuellen Weltwillen diese Richtung zur Bethätigung anweisen); denn das Begehren selbst geht nothwendig auf einen noch nicht seienden, zukünftigen Zustand, könnte also dann doch immer nur als eine durch jene gegenwärtigen Empfindungen hervorgerufene oder durch sie verstärkte Vorstellung oder Vorempfindung der künftigen Lust und Unlust gedeutet werden (vgl. Cap. A IV).

A55

S. 221 Z. 4 v. u. Die Abhängigkeit der Stimmungen und Gefühle von den Vorgängen in mittleren und niederen Nervencentren ist um so grösser, je schwächer die Herrschaft der Grosshirnhemisphären und ihre reflexhemmende, d.h. centralisirende Thätigkeit, und je grösser die relative Selbstständigkeit der mittleren und niederen Centra, d.h. die Decentralisation und Desorganisation des Nervensystems ist. Da im weiblichen Geschlecht im Durchschnitt das Uebergewicht des Grosshirns und die Centralisation schwächer ist, so ist dasselbe in seinem Gefühlsleben auch mehr dem unberechenbaren und uncontrollirbaren Einfluss der mittleren und niederen Centra ausgesetzt, und in um so höherem Grade, je sensitiver das Individuum ist. Zum Theil lässt die Dunkelheit dieser gefühlsbestimmenden Einflüsse sich dadurch aufhellen und controliren, dass man das fragliche Individuum in somnambulen Zustand versetzt; denn das somnambüle Bewusstsein lässt wenigstens einen Theil dessen, was in's wache Bewusstsein nur als unklare Stimmung oder Gefühlsfärbung hineinscheint, als bewusste Vorstellungen oder Empfindungen oder Begehrungen erkennen und macht sogar in mancher Hinsicht den Motivationsprocess dieser Begehrungen durchsichtig, die im wachen Bewusstsein nur als unbegreiflicher Trieb oder Neigung auftreten und zur Erklärung und Rechtfertigung oft genug vom wachen Bewusstsein mit falschen Scheingründen versehen werden. Andererseits ist aber auch zu beachten, dass die theilweise Unterdrückung der Grosshirnfunction im Somnambulismus viele dunkle Triebe und Gefühlsursachen mit unterdrückt und dadurch den Charakter des Individuums oft sehr verändert, wenn nicht gar verwandelt, erscheinen lässt. Ausserdem verhält sich das somnambüle Bewusstsein zu den Einflüssen der noch tiefer unter ihm stehenden Centra ähnlich, wie das wache Bewusstsein zu ihm selbst; d.h. es ist auch noch von unten her von zahlreichen relativ unbewussten Einflüssen in seinen Gefühlen bestimmt, wenn gleich es denselben um eine Stufe näher steht als das wache Bewusstsein. Insbesondere ist die Klarheit der Aggrecerption im somnambulen Bewusstsein um so viel geringer, als die Schwalle für somsitive Empfindungen nach unten verschoben ist, und die Folge davon ist, dass die Eindrücke meist nicht eigentlich sondern uneigentlich, symbolisch oder personificirend, aufgefasst und verarbeitet werden.

A56

S. 224 letzte Z. (Vgl. zu diesem Capitel mein Werk: »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. und »Krit. Wanderungen« Nr. V: »Die Motivation des sittlichen Willens«.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 210-225.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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