II. Das Unbewusste in der geschlechtlichen Liebe

[190] Die Staubgefässe der Pflanze neigen sich, wenn ihr Pollenstaub reif ist, und schütten ihn auf die Narbe; die Fische ergiessen ihren Samen über die Eier ihrer Gattung, wo sie einen Haufen derselben finden, der Lachs gräbt seinem Weibchen eine Grube dazu; die männlichen Sepien werfen bei der Berührung ihrer Weibchen einen als männliches Zeugungsglied ausgebildeten Arm ab, welcher in letztere eindringend vollständig das Begattungsgeschäft vollzieht; die Flusskrebse befestigen im November unter dem Leib der Weibchen Begattungstaschen mit Samen, der im Frühjahr die gereiften Eier befruchtet; die männlichen Spinnen tupfen die aus ihrer Geschlechtsöffnung tropfenweise hervorquellende Samenfeuchtigkeit mit einem äusserst complicirten, in dem letzten ausgehöhlten Gliede ihrer Taster enthaltenen Apparat auf, und bringen sie vermittelst desselben in die weibliche Geschlechtsöffnung; der Frosch umklammert das Weibchen und ergiesst seinen Samen, indem gleichzeitig das Weibchen die Eier legt; der Singvogel bringt die Oeffnung seines Samenganges auf die Cloake des Weibchens, und die Thiere mit Ruthe führen sie in die weibliche Scheide ein. Dass die Fische ihren Samen, zu dessen Entleerung sie sich getrieben fühlen, gerade nur auf die Eier ihrer Gattung ergiessen, dass Thiergattungen, bei denen Männchen und Weibchen ganz verschiedene Formen zeigen (wie z.B. Leuchtwurm und Johanniskäfer), dennoch zur Begattung sich ohne Irrthum zusammenfinden, und dass das männliche Säugethier seine Ruthe, zu deren Reizung es sich in der Brunstzeit getrieben fühlt, gerade nur in der weiblichen Scheide seiner Species reibt, sollte dies wirklich zwei verschiedene Ursachen haben, oder sollte es nicht vielmehr das Wirken desselben Unbewussten sein,[190] welches die Geschlechtstheile zusammenpassend bildet, und welches als Instinct zu ihrer richtigen Benutzung treibt, dasselbe unbewusste Hellsehen, welches in Bildung wie in Benutzung die Mittel dem Zwecke anpasst, welcher nicht in's Bewusstsein fällt?

Der Mensch, dem so mannigfache Mittel zu Gebote stehen, den physischen Trieb zu befriedigen, die ihm alle dasselbe leisten wie die Begattung, er sollte sich dem unbequemen, eklen, schamlosen Geschäft der Begattung unterziehen, wenn nicht ein Instinct ihn dazu immer von Neuem triebe, wie oft er auch erprobt habe, dass diese Art der Befriedigung ihm factisch keinen höheren sinnlichen Genuss gewährt wie jede andere? Aber selbst zu dieser Einsicht gelangen nicht viele, weil sie trotz der Erfahrung den zukünftigen Genuss immer wieder nach der Stärke des Triebes bemessen, oder gar noch während des Actus vom Triebe so benommen sind, dass sie nicht einmal zur Erfahrung kommen. Man wird vielleicht einwenden wollen, dass der Mensch häufig die Begattung begehrt, obwohl er die Unmöglichkeit der Zeugung kennt, z.B. bei notorisch Unfruchtbaren oder Prostituirten, oder während er, wie bei unehelichen Verhältnissen, die Zeugung zu verhindern sucht; dem ist aber zu erwidern, dass die Kenntniss oder Absicht des Bewusstseins auf den Instinct keinen directen Einfluss hat, da der Zweck der Zeugung eben ausserhalb des Bewusstseins liegt, und nur das Wollen des Mittels zu dem unbewussten Zweck (wie bei allen Instincten) in's Bewusstsein fällt. Dass der Trieb zur geschlechtlichen Verbindung ein Instinct ist, der spontan hervortritt, und keineswegs als eine Folge von der Erfahrung zu betrachten ist, dass bei dieser Verbindung eine Lust zu gewärtigen sei, erhellt aus der Thatsache, dass der Geschlechtstrieb als Instinct etwas ganz allgemeines im Thier- und Pflanzenreich ist, während erst auf ziemlich hohen Stufen des Thierreichs sich Wollustorgane finden, welche eine sinnliche Lust an den Begattungsact knüpfen; es ist also der Instinct der geschlechtlichen Copulation etwas weit Früheres und Ursprünglicheres in der Geschichte der Organisation, da alle Organismen ohne Wollustorgane durch ihn allein, ohne Beihülfe der Sinnlichkeit, in ausreichender Weise zur Ausübung der geschlechtlichen Functionen getrieben werden. Es ist aber wohl verständlich, weshalb das Unbewusste bei Wesen, deren Bewusstsein bereits höher entwickelt ist, besondere Wollustorgane für nöthig erachtet; denn je mehr das Bewusstsein selbstständige Bedeutung erlangt, desto mehr wächst die Gefahr, dass dasselbe die Forderungen des Instincts durchkreuzen[191] könne, desto wünschenswerther wird ein Köder, der zur Vollzugnahme der Instincthandlungen anlockt. Ein Beweis dafür, dass der Trieb zur Begattung keine blosse Folge des physischen Dranges in den Genitalien ist, liegt ferner auch in dem früher angeführten Beispiel von der Begattung der Vögel (Cap. A. III. S. 70-71) und endlich noch in der Erscheinung, dass die Stärke des geschlechtlichen und physischen Dranges in gewissem Grade von einander unabhängig ist, denn man findet Menschen mit starker Neigung zum anderen Geschlecht, während ihr physischer Trieb so gering ist, dass er fast an Impotenz streift, und umgekehrt giebt es Menschen von starkem physischen Triebe und doch geringer Neigung zum anderen Geschlecht. Dies liegt darin, dass der physische Trieb von Zufälligkeiten der physischen Organisation der Genitalien abhängig ist, der metaphysische aber ein Instinct ist, der aus dem Unbewussten quillt; das schliesst indess nicht aus, dass einerseits der metaphysische Trieb durch einen stärkeren physischen Trieb mehr zum Functioniren geweckt werde, und andererseits die Stärke des physischen Triebes bei Bildung der Organisation mit durch die Stärke des metaphysischen Triebes bedingt werde. Daher liegt auch die Unabhängigkeit beider von einander erfahrungsmässig nur in gewissen Grenzen. Auch die Phrenologie erkennt die Sonderung beider Triebe an, denn während der physische Drang offenbar nur in der Organisation der Genitalien und der Reizbarkeit des ganzen Nervensystems gesucht werden kann, sucht die Phrenologie – gleichviel mit welchem Rechte – die Stärke des geschlechtlichen Triebes aus dem kleinen Gehirn und den umliegenden Theilen zu erkennen.

Nachdem wir das Generelle des Geschlechtstriebes als etwas Instinctives erkannt haben, fragt es sich, ob es mit der Individualisation desselben ebenso sei, oder ob diese aus Bedingungen des Bewusstseins entspringe. Bei den Thieren unterscheiden wir folgende Fälle: Entweder ist der Geschlechtstrieb bloss generell, die Auswahl des Individuums bleibt dem Zufall völlig überlassen, und mit der einmaligen Begattung hört jede Gemeinschaft auf, wie z.B. bei den niederen Seethieren, den Fischen, die sich begatten, den Fröschen u. a.; oder die sich paarenden Individuen bleiben für die Zeit einer Brunst zusammen, wie die meisten Nager und mehrere Katzenarten, oder bis zum Gebären, wie die Bären, oder noch eine Zeitlang nachher, bis die Jungen sich mehr entwickelt haben, wie die meisten Vögel, die Fledermäuse, Wölfe, Dachse, Wiesel, Maulwürfe, Biber, Hasen; oder sie bleiben lebenslänglich beisammen und bilden eine[192] Familie; hier ist wieder Polygamie und Monogamie zu unterscheiden; erstere findet sich bei den hühnerartigen Vögeln, den Wiederkäuern, Einhufern, Dickhäutern und Robben, letztere bei einigen Crustaceen, Sepien, Tauben und Papageien, bei den Adlern, Störchen, Rehen und Cetaceen. Man wird mit Grund annehmen müssen, dass bei den monogamischen Thieren die Schliessung der Ehen, die so treu gehalten werden, kein blosses Werk des Zufalls ist, sondern dass in der Beschaffenheit der sich zusammenfindenden Gatten für dieselben Motive liegen müssen, warum sie einander vor anderen Individuen einen gewissen Vorzug einräumen. Sehen wir doch selbst bei regellos sich begattenden Thieren von höherer Geistesstufe eine mit entschiedener Leidenschaft verknüpfte geschlechtliche Auswahl nicht selten eintreten (z.B. bei edlen Hengsten oder Hunden). Eine Adlerswittwe bleibt gewöhnlich ihr Leben lang unvermählt; man beobachtete, dass ein Storch sein Weibchen, welches einer Wunde wegen nicht mit ihm ziehen konnte, drei Jahre hindurch in jedem Frühjahre wieder aufsuchte, in den folgenden Jahren aber auch im Winter bei ihm blieb. Bei monogamischen Thieren kann mitunter das eine nicht ohne das andere leben, so stirbt z.B. von einem Paar Inseparables das zweite oft schon einige Stunden nach dem ersten. Aehnliches hat man von dem Kamichy, einem südamerikanischen Sumpfvogel, bisweilen bemerkt, sowie von Turteltauben und Mirikina-Affen. Auch Waldlerchen kann man nur paarweise im Bauer halten. Wir können nicht annehmen, dass Dasjenige, was beim Storch den mächtigen Wanderinstinct überwunden hat, was die Inseparables in kurzer Frist tödtet, etwas Anderes als auch ein Instinct sei, sonst könnte es nicht so schnell, so tief in den innersten Kern des Lebens eingreifen. Dass die Formen der geschlechtlichen Beziehungen Instincte sind, beweist auch ihre Unveränderlichkeit innerhalb einer Gattung. Nach Analogie dieser Erscheinungen müssen wir auch beim Menschen das Zusammenleben der Gatten in der Ehe für eine Institution des Instincts und nicht des Bewusstseins halten, wobei ich an den Instinct, einen Hausstand zu gründen, erinnere, mit welchem dieser eng zusammenhängt. Das vorsätzliche Bestreben der unehelichen vorübergehenden Liebschaft dagegen müssen wir als etwas Instinctwidriges betrachten, welches nur durch bewussten Egoismus hervorgerufen wird. Hier verstehe ich aber unter Ehe nicht die kirchliche oder bürgerliche Ceremonie, sondern die Absicht, das Verhältniss zu einem dauernden zu machen.

Es fragt sich nun, ob Polygamie oder Monogamie die dem[193] Menschen natürliche Form ist, und wie es kommt, dass die Menschheit die einzige Thiergattung ist, wo verschiedene Formen der Geschlechtsbeziehungen neben einander vorkommen. Mir scheint sich dies Räthsel so zu lösen, dass der Instinct des Mannes Polygamie, der des Weibes Monogamie fordert, dass daher überall, wo der Mann ausschliesslich dominirt, rechtlich Polygamie herrscht, hingegen da, wo der Mann durch höhere Bildung dem Weibe eine würdigere Stellung eingeräumt hat, auch die Monogamie zur gesetzlich allein gültigen Form geworden ist, während sie von Seiten der Männer factisch in keinem Theile der Welt streng innegehalten wird. Dass die Monogamie die Form sei, welche in der Menschheit für die längste Zeit ihres Bestehens factisch herrschen wird, ist schon in der Gleichzahl der Individuen beider Geschlechter angezeigt. Wenn für den Mann die Ehebruchsgelüste so schwer zu besiegen sind, so ist dies nur eine Wirkung seines Instinctes zur Polygamie; wenn aber ein Weib, das an ihrem Manne einen ganzen Mann hat, Ehebruchsgelüste hat, so ist dies entweder eine Folge völliger Entartung oder der leidenschaftlichen Liebe. Die Verschiedenheit des Instinctes in Mann und Weib versteht man wohl, wenn man bedenkt, dass ein Mann in einem Jahre mit der genügenden Anzahl Frauen bequem über hundert Kinder zeugen könnte, das Weib aber mit noch so viel Männern nur Eins; dass der Mann wohl unter günstigen Umständen mehrere Frauen und deren Kinder ernähren kann, die Frau aber nur in eines Mannes Hausstand wohnen kann, und durch jede in diesen eingeführte Rivalin sich und ihre Kinder beeinträchtigt fühlt; dass endlich nur der Mann, nicht die Frau durch Ehebruch des andern Theils in die Lage kommen kann, fremde Kinder für seine eignen zu halten, und die Liebe zu den eignen Kindern durch Misstrauen in die eheliche Treue zu untergraben.

Nachdem wir den geschlechtlichen Instinct am Menschen in genereller und individueller Beziehung erkannt haben, bleibt die Frage offen, warum er sich auf dieses Individuum ausschliesslich concentrire und nicht auf jenes, d.h. die Frage nach den Bestimmungsgründen der so eigensinnigen geschlechtlichen Wahl.

Dass bei den Menschen, namentlich den gebildeteren Classen, die Zahl der zu begehrenderen Individuen anderen Geschlechtes wesentlich beschränkt ist, liegt an den Hemmungen, die vorher überwunden werden müssen, nämlich Ekel bei beiden, und Scham vorzugsweise beim weiblichen Geschlecht. Die körperlichen Berührungen sind so enge, und werden durch die instinctiven Begleitungshandlangen,[194] wie Küssen u.s.w., so vervielfältigt, dass der Ekel, wenn er nicht schon abgestumpft ist, in sein volles Recht tritt und der geschlechtlichen Verbindung mit all' und jedem Individuum einen kräftigen Widerstand entgegensetzt. Die Scham beim weiblichen Geschlecht, und beim männlichen die Kenntniss des Widerstandes, welchen diese Scham entgegensetzen wird, sind fast noch wirksamere Beschränkungen. Beides aber erklärt nur negativ, warum diese und jene Individuen ausgeschlossen sind, und nicht positiv, warum dieses Eine begehrt sei. Der Schönheitsinn kann wohl auch dabei mitwirken, – so wie man ein schönes Pferd, auch abgesehen von seinem Gange, und auch wenn es Niemand sieht, lieber reitet, wie ein hässliches, – obwohl durchaus nicht abzusehen ist, was die Schönheit oder Hässlichkeit mit dem Genuss bei der Begattung oder überhaupt mit den geschlechtlichen Beziehungen zu thun habe; denn wenn man, wie z.B. in Shakespeare's »Ende gut, Alles gut« einem rasend Verliebten in der Nacht eine Falsche unterschiebt, so thut dies offenbar seinem Genuss keinen Eintrag. Es könnte auch die Eitelkeit, vor Anderen ein hübsches Weib sein nennen zu können, mitsprechen, wenn nicht erst wieder der Gegenstand dieser Eitelkeit der Erklärung bedürfte; im Grunde genommen rücken wir mit alledem der Frage keinen Schritt näher, weil es erstens der hübschen Menschen viele giebt, und zweitens bei Weitem nicht die hübschesten geschlechtlich am meisten reizen. Eher könnte schon dies eine Antwort sein: der Mann hat die weibliche Scham zu überwinden, um zum Ziel zu kommen; hat er diese Arbeit, die nur allmählich von Statten geht, einmal begonnen, so hat er nun bei diesem Individuum nur noch eine geringere Arbeit vor sich, als bei anderen, um seiner Eitelkeit den Sieg zu verschaffen. Aber wenn es auch oft genug sich so zutragen mag, so ist doch diese Antwort allein völlig unzureichend, nicht nur weil sie wieder den ersten Anfang ganz dem Zufall anheimgestellt lässt, sondern auch weil, wenn diese Rücksicht maassgebend wäre, die bereits errungene Geliebte allen neu zu gewinnenden aus reiner Bequemlichkeit vorgezogen werden müsste, was doch gewiss nicht zutrifft. – Es ist also vor allen Dingen festzuhalten, dass der physische Trieb als solcher, oder wie man sagt die Sinnlichkeit, für sich allein durchaus unfähig ist, die Concentrirung des Triebes auf ein ganz bestimmtes Individuum zu erklären. Die blosse Sinnlichkeit führt niemals zur Liebe, sondern nur zur Ausschweifung, am liebsten zur widernatürlichen, wofern sie nur stark genug ist und nicht durch andere Triebe von solchen Wegen abgehalten[195] wird. Selbst da, wo die Sinnlichkeit auf naturgemässen Wegen bleibt, und die Steigerung des Genusses bloss durch änsserliches Raffinement zu erzielen sacht, wo sie in dem verhängnissvollen Unglauben an die metaphysische Natur der Liebe den Zauber derselben durch äusserlichen Kitzel herbeitäuschen zu können wähnt, selbst da wird sie bald mit Ekel gewahr, dass das blosse Fleisch allemal zum Aas wird, und sie statt der Liebe nur deren widerlichen Leichnam an's Herz schliesst. So gewiss eine angebliche Liebe ohne Sinnlichkeit nur das fleisch- und blutlose Phantasiegespenst der gesuchten Seele ist, so gewiss ist blosse Sinnlichkeit nur der seelenlose Leichnam der schaumgeborenen Göttin. Der ganze folgende Nachweis ruht auf dem hier gelegten Fundament, dass Sinnlichkeit nur das Haschen nach irgend welcher Art des geschlechtlichen Genusses, aber nie und nimmer die geschlechtliche Liebe zu erklären vermag.

Es scheint nunmehr nichts übrig zu bleiben, als dass es geistige Eigenschaften seien, welche die geschlechtliche Auswahl bedingen. Dies unmittelbar zu nehmen, ist ganz unmöglich, da für den geschlechtlichen Genuss die geistigen Eigenschaften völlig gleichgültig sind, noch gleichgültiger als die körperliche Schönheit; es kann also nur so zu verstehen sein, dass die geistigen Eigenschaften eine geistige Harmonie und gegenseitige Anziehung hervorrufen, welche auf bewussten Grundlagen ruht, und für das künftige Zusammenleben das grösstmöglichste Glück verspricht. Dieses bewusste Seelenverhältniss, welches durchaus identisch mit dem Begriff der Freundschaft ist, würde alsdann erst die geschlechtliche Wahl bedingen müssen, d.h. die Ursache sein, dass der geschlechtliche Umgang mit diesem besonders befreundeten Individuum allen anderen vorgezogen wird. Dieser Process ist in der That ein sehr gewöhnlicher, besonders beim weiblichen Geschlecht, das nicht wählen darf, sondern gewählt wird. Es ist schlechterdings für gewöhnlich nicht zu erwarten, dass eine Braut eine andere Liebe als diese für einen Bräutigam haben soll, den ihre Eltern ihr vorschlagen, oder den sie zum ersten Mal unter vier Augen gesprochen, als er sich erklärte, und für welchen sie bisher kein anderes Interesse haben konnte, als die Vermuthung, dass er sich für sie interessire. Wenn sie nun Braut ist, so strengt sie ihre Phantasie an, alles von Schwärmerei, was sie je in Romanen gelesen, hier auf diesen Einen in Nutzanwendung zu bringen, schwört ihm Liebe, glaubt es bald selbst, indem sie sich daran gewöhnt hat, mit ihrem aufgeregten generellen Geschlechtstrieb[196] stets sein Bild zu verknüpfen, und folgt später ihrer Pflicht und ihrer Neigung zugleich, wenn sie diesem Manne, dem Vater ihrer Kinder, treu bleibt, für den sie Achtung und Freundschaft gefasst, und an den sie sich gewöhnt hat. Bei Lichte besehen, geben aber alle diese Ingredienzien, als: genereller Geschlechtstrieb, Phantasie, Achtung, Freundschaft, Pflichttreue u.s.w., soviel man sie auch mengt und schüttelt, immer noch keinen Funken von dem, was einzig und allein mit dem Namen Liebe bezeichnet werden kann und soll; und was an ihnen dennoch als solche erscheint, das ist meistens eine Täuschung anderer und bald auch ihrer selbst, da sie doch nach ihrem gegebenen Jawort schicklicherweise auch ein Herz voll Liebe verschenken müssen, und sie sich übrigens bei den bräutlichen Schäferstündchen ganz gut amüsiren. Der Bräutigam glaubt dem Betruge so gern, als die Braut ihn übt, denn was glaubte der Mensch nicht, wenn es nur stark genug seiner Eitelkeit schmeichelt. Nach der Hochzeit, wo beide Theile andere Dinge zu besorgen haben, hört die Comödie so wie so bald genug auf, mag sie nun im Ernste oder im Scherz gespielt sein.

Das Wesentliche von der Sache ist, dass die bewusste Erkenntniss geistiger Eigenschaften immer und ewig nur bewusste geistige Beziehungen, Achtung und Freundschaft zu Stande bringen können, und dass Freundschaft und Liebe himmelweit verschiedene Dinge sind. Die Freundschaft kann auch keine Liebe erwecken, denn wenn z.B. bei einer Freundschaft zwischen zwei jungen Leuten verschiedenen Geschlechts sich leicht ein wenig Liebe einschleicht, so ist dies nur ein Freiwerden des generellen Geschlechtstriebes in einer durch Vertraulichkeiten erleichterten Richtung, oder aber sie hätten sich auch ohne die Freundschaft in einander verliebt, und diese schlummernde potentielle Liebe ist nur durch die Gelegenheit wach gerufen worden. Es kann aber sehr wohl, wenigstens von männlicher Seite, eine reine Freundschaft ohne geschlechtliche Beimischung geben (besonders wenn die Geschlechtsliebe schon anderweitig gefesselt ist), und wenn dies von weiblicher Seite nicht möglich sein sollte, so läge das nur daran, dass die Frauen überhaupt keiner reinen und wahren Freundschaft fähig wären, so wenig mit Männern, wie sie es unter einander sind, weil die Freundschaft ein Product des bewussten Geistes ist, sie aber zu Grossem nur fähig sind, wo sie aus dem Quell des unbewussten Seelenlebens schöpfen. Dass die Freundschaft für das individuelle Wohl der Ehegatten eine viel unentbehrlichere und solidere Grundlage eines dauernden[197] guten Verhältnisses ist als die Liebe, ist gar keine Frage, und es ist ein glücklicher Zufall, dass dasselbe Verhältniss der Charaktere und geistigen Eigenschaften, welches die stärkste Liebe zu erwecken vermag, zugleich auch den besten Unterbau der Freundschaft bildet, das ist, wie wir später sehen werden, die polarische Ergänzung, welche die fundamentale Uebereinstimmnng ebensowohl wie den diametralen Gegensatz auf diesem gemeinsamen Boden in sich schliesst, nur ist zu bemerken, dass bei der Freundschaft die Betonung auf der Uebereinstimmung, bei der Liebe aber auf dem Gegensatz liegt, so dass hier doch noch eine weite Möglichkeit für Divergenz zwischen Liebe und Freundschaft bei denselben Personen bleibt. Jedenfalls ist die Freundschaft, welche in der Mehrzahl der Ehen die Liebe entweder von vorn herein ersetzen muss, oder aber in unvermerktem Uebergange mit der Zeit ablöst, etwas keineswegs Problematisches; das Problem, womit wir uns hier beschäftigen, ist eben jene Liebe, die der Geschlechtsverbindung vorhergeht, und zu ihr leidenschaftlich hindrängt.

Auch zwei wahrhafte Freunde können nicht ohne einander leben, und sind fähig, einander jedes Opfer zu bringen, wie zwei Liebende, aber welch' ein Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe! Die eine ein schöner, milder Herbstabend von gesättigtem Colorit, die andere ein schaurig entzückendes Frühlingsgewitter; die eine die leichthin lebenden Götter des Olymps, die andere die himmelstürmenden Titanen; die eine selbstgewiss und selbstzufrieden, die andere langend und bangend in schwebender Pein; die eine klar im Bewusstsein ihre Endlichkeit erkennend, die andere immer nur nach dem Unendlichen strebend in Sehnsucht, Lust und Leid, himmelhoch aufjauchzend, zum Tode betrübt; die eine eine klare und reine Harmonie, die andere das geisterhafte Klingen und Rauschen der Aeolsharfe, das ewig Unfassbare, Unsagbare, Unaussprechliche, weil nie mit dem Bewusstsein zu Fassende, der geheimnissvolle aus ferner, ferner Heimath herübertönende Klang; die eine ein lichter Tempel, die andere ein ewig verhülltes Mysterium. Es vergebt kein Jahr, wo nicht in Europa eine Menge von Selbstmorden, Doppelmorden und Wahnsinnigwerden aus unglücklicher Liebe vorkommen; aber ich weiss noch keinen Fall, dass sich einer aus unerwiderter Freundschaft getödtet oder den Verstand verloren hätte. Das und die vielen durch Liebe geknickten Existenzen (von Frauen hauptsächlich und wenn es nur auf Wochen oder Monate wäre) beweisen deutlich genug, dass man es bei der Liebe nicht mit einem Possenspiel,[198] einer romantischen Schnurre zu thun habe, sondern mit einer ganz realen Macht, einem Dämon, der immer auf's Neue sein Opfer fordert. Das geschlechtliche Treiben der Menschheit in allen seinen so offenkundig durchschaut werden sollenden Masken und Verhüllungen ist so wunderlich, so absurd, so komisch und lächerlich, und doch grossentheils so traurig, dass es nur ein Mittel giebt alle diese Schnurren zu übersehen, das ist: wenn man mitten drinsteckt, wo es Einem dann geht, wie einem Trunkenen unter einer Gesellschaft von Trunkenen: man findet Allee ganz natürlich und in der Ordnung. Der Unterschied ist nur der, dass jeder sich das belehrende Schauspiel einer trunkenen Gesellschaft als Nüchterner verschaffen kann, aber nicht so als Geschlechtsloser, oder man muss steinalt werden, oder man müsste (wie ich) dies Treiben schon beobachtet und überlegt haben, noch ehe man betheiligt war, und da gezweifelt haben (wie ich), ob man selber oder die ganze übrige Welt verrückt sei. Und das Alles bringt jener Dämon zu Stande, den schon die Alten so fürchteten.

Was ist denn nun aber jener Dämon, der sich so spreizt und in's Unendliche hinaus will, und die ganze Welt an seinem Narrenseile tanzen lässt, was ist er denn endlich? Sein Ziel ist die Geschlechtsbefriedigung, nicht etwa die Geschlechtsbefriedigung überhaupt, sondern nur die mit diesem bestimmten Individuum, – so viel er sich auch drehen und wenden mag, um es zu verhüllen und zu verleugnen, und so viel er sich mit hohlen Phrasen breit macht. Denn wenn es nicht dies wäre, was sollte es denn sein? Etwa die Gegenliebe? Nicht doch! Mit der heissesten Gegenliebe ist im Ernste Niemand zufrieden, selbst bei der Möglichkeit steten Verkehres, wenn die Unmöglichkeit des Besitzes unabänderlich ist, und schon Mancher hat sich in dieser Lage erschossen. Für den Besitz der Geliebten dagegen giebt der Liebende Alles hin; selbst wenn ihm auch die Gegenliebe völlig fehlt, weiss er sich mit dem Besitz zu trösten, wie die vielen Ehen durch schnöde Erkaufung der Braut oder der Eltern mit Bang, Reichthum, Geburt u.s.w. beweisen, letzten Endes auch die Fälle der Nothzucht bestätigen, wo sogar das Verbrechen dem Dämon zu Liebe nicht gescheut wird. Wo aber das Geschlechtsvermögen erlischt, da erlischt auch die Liebe; man lese nur die Briefe von Abälard und Heloise; sie noch ganz Feuer, Leben und Liebe; er kühle phrasenreiche Freundschaft. Ebenso nimmt aber auch sofort mit der Befriedigung die Leidenschaft um ein Merkliches ab, wenn sie auch noch nicht gleich ganz[199] verschwindet, was jedoch häufig auch nicht lange auf sich warten lässt, wobei immerhin Freundschaft und jene sogenannte Liebe aus Freundschaft bestehen bleiben kann. Sehr lange überdauert keine Liebesleidenschaft den Genuss, wenigstens nicht beim Manne, wie alle Erfahrungen zeigen, wenn sie auch zuerst noch kurze Zeit wachsen kann; denn was später noch von Liebe in diesem Sinne behauptet wird, ist meistens aus anderen Rücksichten erheuchelt. Die Liebe ist ein Gewitter, sie entlädt sich nicht in einem Blitze, aber nach und nach in mehreren ihrer electrischen Materie, und wenn sie sich entladen hat, dann kommt der kühle Wind und der Himmel des Bewusstseins wird wieder klar, und blickt staunend dem befruchtenden Regen am Boden und den abziehenden Wolken am fernen Horizonte nach.

Das Ziel des Dämons ist also wirklich und wahrhaft nichts als die Geschlechtsbefriedigung an und mit diesem bestimmten Individuum, und Alles, was drum und dran hängt, wie Seelenharmonie, Anbetung, Bewunderung, ist nur Maske und Blendwerk, oder es ist etwas Anderes als Liebe neben der Liebe; die Probe ist einfach die, ob es spurlos verschwunden ist, wenn der kühle Wind kommt; was dann noch übrig bleibt, ist nicht Liebe gewesen, sondern Freundschaft.A49Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass der von diesem Dämon Besessene das Ziel der Geschlechtsbefriedigung im Bewusstsein haben müsse; im Gegentheil will die höchste und reinste Liebe dieses Ziel nicht einmal eingestehen, und namentlich bei einer ersten Liebe liegt der Gedanke gewiss fern, dass dieses namenlose Sehnen bloss darauf hinauslaufen sollte. Selbst wenn der Gedanke an Geschlechtsvereinigung von aussen aufgedrängt wird, wird er in diesem Stadium noch als ein der Unendlichkeit des Sehnens und Hoffens unadäquater und der unnahbaren Erhabenheit des erträumten Ideale unwürdiger mit keuschem Widerwillen vom Bewusstsein verworfen, und erst in späteren Stadien gelangt der unbewusste Zweck dazu, als ein noch immerhin nebensächlicher in's Bewusstsein hineinzuscheinen, wenn der Himmelstraum sich so weit zur Erde herabgelassen hat, um in der geschlechtlichen Verbindung nicht mehr eine Entweihung seines Ideals zu erblicken, – ein Standpunct, für dessen baldige Herbeiführung die Natur dadurch Vorsorge getroffen hat, dass sie die Liebenden instinctiv nöthigt, von den zartesten Blicken Schritt vor Schritt zu immer intimerer körperlicher Berührung vorzugehen, deren jede mit immer stärkerer Reizung der Sinnlichkeit verbunden ist. Die Unendlichkeit des Sehnens und Strebens[200] entspringt also grade aus der Unsagbarkeit und Unfassbarkeit eines bewussten Zieles desselben, welche sinnlose Ziellosigkeit wäre, wenn nicht ein unbewusster Zweck die unsichtbare Triebfeder dieses gewaltigen Gefühlsapparates wäre, – ein unbewusster Zweck, von dem wir zunächst nur sagen können, dass die Geschlechtsverbindung dieser bestimmten Individuen das Mittel zu seiner Erfüllung sein muss. Nur wo dieses alleinige und ausschliessliche Ziel noch nicht als solches (sondern entweder gar nicht oder nur als nebensächliches Strebensziel) in's Bewusstsein getreten Ist, Ist die Liebe ein völlig gesunder Process, ein Process ohne inneren Widerspruch; nur da besitzt das Gefühl diejenige Unschuld, welche allein ihm wahren Adel und Reiz verleiht. Sowie hingegen die Begattung vom Bewusstsein als der einzige Zweck der Gefühlsüberschwenglichkeit der Liebe erkannt ist, hört die Liebe als solche auf, ein gesunder Process zu sein; denn von diesem Augenblick anerkennt das Bewusstsein auch die Absurdität der Ungeheuerlichkeit dieses Triebes, das Missverhältniss von Mittel und Zweck in Bezug auf das Individuum, und es geht nun in die Leidenschaft mit der Gewissheit hinein, für sein Theil eine Dummheit zu begehen, – ein unbehagliches Gefühl, von dem es ebensowenig sich jemals wieder völlig zu befreien vermag, wie von dem Egoismus selbst.

Nur da, wo der Zweck der Liebe noch nicht bewusst geworden, wo das betheiligte Individuum noch nicht weiss, dass die von der Mystik der Liebe in der Vereinigung mit dem Geliebten erhoffte und ersehnte Wesenverschmelzung eine realiter nur in einem Dritten (dem Erzeugten) sich vollziehende ist, nur da besitzt sie die Kraft, das Individuum sammt allen seinen egoistischen Interessen so scrupellos gefangen zu nehmen, dass selbst die höchsten Opfer dem erträumten Himmel gegenüber unbedeutend und nichtig erscheinen, und der hohe Zweck des Unbewussten mit vollkommener Rücksichtslosigkeit erfüllt wird. Wo dagegen ein Mensch noch einmal von verzehrender Leidenschaft erfasst wird, der die Illusion schon überwunden zu haben glaubte, da gestaltet sich die Liebe für sein eigenes Bewusstsein oft zu einer finsteren dämonischen Macht, dass er sich wie ein Wahnsinniger bei vollem Verstande vorkommt, der gepeitscht von den Furien der Leidenschaft selbst an das Glück nicht mehr glaubt, dem er gleichsam willenlos alles zum Opfer bringt, für das er wohl gar Verbrechen begehen muss. Ganz anders, wo die Unschuld der bewusstlosen Jugend zum ersten Mal die fata morgana erblickt, die ihr das Eden der Verheissung im verklärten Schimmer[201] erglühender Morgenröthe zeigt. Da dämmert ihr die mystische Ahnung von der ewigen Einheit alles unbewussten Seins und von der Unnatur des Getrenntseins von dem Geliebten, da blüht und glüht ihr die Sehnsucht auf, die vom Geliebten trennenden Schranken der Individualität zu vernichten, unterzugehen und zu versinken mit dem ganzen Selbst in dem Wesen, das ihr theurer ist als das eigne um wie ein Phönix verbrannt in den Flammen der Liebe nur im Geliebten als selbstloser Theil von ihm das bessere Sein wiederzufinden: und die Seelen, die Eins sind, ohne es zu wissen, und die sich durch keine noch so enge Umarmung näher kommen können, als sie ewig sind, verschmachten nach einer Verschmelzung, die ihnen nie werden kann, so lange sie getrennte Individuen bleiben, und das einzige Resultat, in dem sie wirklich eine reale Verschmelzung ihrer Eigenschaften, ihrer Tugenden und Fehler, zu Stande bringen (unbeschadet älterer, sich im Rückschlag documentirender Rechte der Ahnen), verkennen sie so sehr in der Hoheit seiner Bedeutung, dass sie es nachher wohl gar als unbewusstes Ziel ihrer Verschmelzungssehnsucht verleugnen zu müssen glauben. (Vgl. »Ges. phil. Abhandl.« S. 86 – 87.)A50

Wir sind nun so weit, dass wir die Liebe zu einem bestimmten Individuum als einen Instinct erkannt haben, denn wir haben in ihr eine stetige Reihe von Strebungen und Handlungen gefunden, die alle auf einen einzigen Zweck hinarbeiten, der jedoch als alleiniger Zweck alles dessen nicht in's Bewusstsein fällt. Die Frage ist schliesslich nur noch die: was soll jener unbewusste Zweck, was bedeutet ein solcher Instinct, der eine so eigensinnige Auswahl in der Geschlechtsbefriedigung hervorruft, und wie wird er durch den Anblick gerade dieses Individuums motivirt? Von dem, was den Haushalt der Natur interessiren und Instincte nöthig machen kann, wird doch durch die geschlechtliche Auswahl der Individuen offenbar nichts weiter verändert, als die körperliche und geistige Beschaffenheit des Kindes, es bleibt also nach der bisherigen Entwickelung die einzig mögliche Antwort die, welche Schopenhauer giebt (»Welt als Wille und Vorstellung« Bd. II. Cap. 44, Metaphysik der Geschlechtsliebe), nämlich, dass der Instinct der Liebe für eine der Idee der menschlichen Gattung möglichst entsprechende Zusammensetzung und Beschaffenheit der nachfolgenden Generation sorgt, und dass die geträumte Seligkeit in den Armen der Geliebten nichts als der trügerische Köder ist, vermittelst dessen das Unbewusste den bewussten Egoismus täuscht und zu Opfern seines Eigennutzes[202] zu Gunsten der nachfolgenden Generation bringt, welche die bewusste Ueberlegung für sich niemals leisten würde. Es ist dasselbe Princip in specieller Anwendung auf den Menschen, welches Darwin später in seiner Theorie der natürlichen Zuchtwahl als allgemeines Naturgesetz nachwies, dass nämlich die Veredelung der Species ausser durch das Unterliegen der untüchtigeren Exemplare der Gattung im Kampf ums Dasein auch noch durch einen natürlichen Instinct der Auswahl bei der Begattung hervorgebracht werde. Die Natur kennt keine höheren Interessen als die der Gattung denn die Gattung verhält sich zum Individuum, wie ein Unendliches zum Endlichen; sowie wir nun schon vom Einzelnen verlangen, dass er bewussterweise seinen Egoismus, ja sein Leben dem Wohle der Gesammtheit opfere, so opfert die Natur noch viel unbedenklicher den Egoismus, ja das Leben des Individuums dem Wohle der Gattung vermittelst des Instinctes (man denke an das Mutterthier, das zum Schutze der Jungen den Tod nicht scheut, und das brünstige Männchen, das um den Besitz des Weibes auf Tod und Leben kämpft), dies kann gewiss nur weise und mütterlich genannt werden. Wir erzwingen die bewussten Opfer des Einzelnen durch Furcht vor Strafe; die Natur ist gütiger, sie erzwingt sie durch Hoffnung auf Lohn; das ist doch wohl noch mütterlicher! Damm beklage sich Niemand über diese Hoffnungen und ihre Enttäuschung, wenn er sich nicht wie Schopenhauer über die Existenz der Natur und ihr Fortbestehen zu beklagen hat; im Uebrigen ist der gaukelnde Wahn so heilsam und so unentbehrlich, wie ein solcher, den die Eltern Kindern zu ihrem Besten vorzuspiegeln sich öfters genöthigt sehen. Denn von allen natürlichen Zwecken kann es offenbar keinen höheren geben, als das Wohl und die möglichst günstige Beschaffenheit der nächsten Generation, da von dieser nicht bloss sie selbst, sondern die ganze Zukunft der Gattung abhängt; also ist die Angelegenheit in der That höchst wichtig, und der Lärm, der in der Welt davon gemacht wird, keineswegs zu gross. Trotzdem aber bleibt das Verhältniss von Mittel und Zweck (Liebesleidenschaft und Beschaffenheit des Kindes) für das Bewusstsein des Einzelnen, wenn es einmal begriffen ist, ein absurdes, und der Process der Liebe für ihn mit einem inneren Widerspruch gegen seinen Egoismus behaftet, denn vom Standpuncte des Egoismus kann sich wohl das bewusste Denken in abstracto, aber schwerlich der bewusste Wille in concreto losreissen, höchstens kann er von der höheren Einsicht dazu gebracht[203] werden, seine Zurücksetzung gegen Naturzwecke geduldig über sich ergehen zu lassen.

Den Nachweis im Einzelnen, wie die körperlichen und geistigen Eigenschaften auf das Unbewusste wirken, und den unbewussten Willen zur Zeugung dieses bestimmten neuen Menschen hervorrufen, welcher aus der Begattung dieser Individuen hervorgehen muss, hat Schopenhauer musterhaft geführt. Ich verweise auf das oben citirte Capitel und gebe hier der Vollständigkeit halber nur einen kurzen Auszug. Zwei Hauptmomente sind zu unterscheiden: 1) wirkt jedes Individuum um so mehr geschlechtlich reizend, je vollkommener es körperlich und geistig die Idee der Gattung repräsentirt, und je mehr es auf dem Gipfel der Zeugungskraft steht; 2) wirkt für jedes Individuum dasjenige Individuum am stärksten geschlechtlich reizend, welches seine Fehler durch entgegengesetzte Fehler möglichst paralysirt, also bei der Zeugung ein Kind verspricht, das die Idee der Gattung möglichst vollkommen repräsentirt. Man sieht, dass im ersten Puncte die körperliche und geistige Kraft, Ebenmaass, Schönheit, Adel und Grazie ihre Stelle findet, um auf die Entstehung geschlechtlicher Liebe zu wirken, aber man versteht nun, wie sie es anfängt, nämlich auf dem Umwege der unbewussten Zweckvorstellung, während vorher die Möglichkeit gar nicht einzusehen war, wie körperliche und geistige Vorzüge mit der Geschlechtsliebe etwas zu schaffen haben könnten. Ebenso ist der Einfluss des Alters durch den Gipfel der Zeugungskraft (18-28 Jahre beim Weibe, 24-36 beim Manne) erklärt; als ein anderes Beispiel führe ich noch den gewaltigen Reiz an, den ein üppiger weiblicher Busen auf den Mann übt; die Vermittelung ist die unbewusste Zweckvorstellung der reichlichen Ernährung des Neugeborenen; ferner dass kräftige Muskulatur (z.B. Waden) eine kräftige Bildung des Kindes verspricht und dadurch reizt. Alle solche Kleinigkeiten werden auf das Sorgfältigste durchgemustert, und die Leute sprechen darüber zu einander mit wichtiger Miene, Keiner aber überlegt sich, was denn ein unbedeutendes Mehr oder Weniger an Waden und Busen mit dem Geschlechtsgenuss zu schaffen haben.

Der erste Punct enthält den Grund dafür, dass die geistig und körperlich vollkommensten Individuen dem anderen Geschlechte im Allgemeinen genommen am meisten begehrenswerth erscheinen; der zweite Punct den Grund dafür, dass dieselben Wesen verschiedenen Individuen des anderen Geschlechtes ganz verschieden begehrenswerth und ganz verschiedene Jedem am begehrenswerthesten[204] erscheinen. Man kann beide Puncte überall auf die Probe ziehen, und wird sie in den kleinsten Details bestätigt finden, wenn man nur immer dasjenige in Abzug bringt, was nicht aus unmittelbarer instinctiver Geschlechtsneigung, sondern aus anderen verständigen oder unverständigen Rücksichten des Bewusstseins begehrt und gewünscht wird. Grosse Männer lieben kleine Frauen und umgekehrt, magere dicke, stumpfnäsige langnäsige, blonde brünette, geistreiche einfach – naive, wohlverstanden immer nur in geschlechtlicher Beziehung, in ästhetischer finden sie meistens nicht ihren polaren Gegensatz schön, sondern das, was ihnen ähnlich ist. Auch werden sich viele grosse Weiber aus Eitelkeit sperren, einen kleinen Mann zu heirathen. Man sieht, dass das geschlechtliche Wohlgefallen auf ganz anderen Voraussetzungen ruht, als das practische, moralische, ästhetische und gemüthliche; dadurch erklärt sich auch die leidenschaftliche Liebe zu Individuen, welche der Liebende im Uebrigen nicht umhin kann, zu hassen und zu verachten. Freilich thut die Leidenschaft in solchen Fällen alles Mögliche, um das ruhige Urtheil zu verblenden und zu ihren Gunsten zu stimmen, darum ist es entschieden richtig, dass es keine geschlechtliche Liebe ohne Blindheit giebt. Die bei Abnahme der Leidenschaft eintretende Enttäuschung trägt wesentlich dazu bei, den Umschlag der Liebe in Gleichgültigkeit oder Hass zu verstärken, wie wir sogar letzteren so häufig im Grunde des Herzens nicht nur bei Liebschaften, sondern auch bei Eheleuten finden.

Die stärksten Leidenschaften werden bekanntlich nicht durch die schönsten Individuen erweckt, sondern im Gegentheil häufiger gerade durch hässliche; dies liegt darin, dass die stärkste Leidenschaft nur in der concentrirtesten Individualisirung des Geschlechtstriebes besteht, und diese nur durch den Zusammenstoss polar entgegengesetzter Eigenschaften entsteht. In Nationen, wo das Leben überhaupt weniger geistig als sinnlich ist, werden die körperlichen Eigenschaften fast ausschliesslich den Ausschlag geben, daher auch bei diesen die momentane Entstehungsweise gerade der heftigsten Leidenschaften, dagegen überwiegen bei den gebildeten Schichten der Nationen von höherer geistiger Entwickelung auch bei dem Einfluss auf die unbewusste geschlechtliche Wahl die geistigen Eigenschaften über die körperlichen; daher ist hier zum Entstehen der Liebe meist eine nähere Bekanntschaft nöthig, es sei denn, dass ein Hellsehen des Unbewussten, durch die physionomische Erscheinung veranlasst, vicarirend eintrete, welcher Fall sich besonders[205] bei Frauen öfters ereignet, welche eben dem Quell des Unbewussten näher stehen. Doch auch an Männern vom hohen geistigen Standpunct giebt es Erfahrungen genug, dass das erste Zusammensein mit einem seltenen weiblichen Wesen sie über und über in einen unzerreissbaren Zauber verstrickte, über dessen Ursache sich Rechenschaft zu geben, jede Geistesanstrengung vergeblich war. Ihr, die Ihr noch zweifelt an der Magie, an Wirkungen von Seele auf Seele ohne die gewöhnlichen Mittel geistigen Verständnisses, auf den Flügeln des Symbols, das nur vom Unbewussten verstanden wird, – wollt Ihr auch die Liebe leugnen?

Das Resultat dieses Capitels ist folgendes: Instinctiv sucht der Mensch zur Befriedigung seines physischen Triebes ein Individuum des anderen Geschlechtes auf, in dem Wahn, dadurch einen höheren Genuss zu haben, als bei irgend einer anderen Art von Befriedigung; sein unbewusster Zweck dabei ist Zeugung überhaupt. Instinctiv sucht der Mensch dasjenige Individuum des anderen Geschlechtes auf, welches mit ihm zusammengeschmolzen die Gattungsidee auf das möglichst Vollkommenste repräsentirt, in dem Wahne, in der Geschlechtsverbindung mit diesem Individuum einen ungleich höheren Genuss als mit allen anderen Individuen zu haben, ja absolut genommen der überschwenglichsten Seligkeit theilhaftig zu werden; sein unbewusster Zweck dabei ist Zeugung eines solchen Individuums, welches die Idee der Gattung möglichst vollkommen repräsentirt. Dieses unbewusste Streben nach möglichst reiner Verwirklichung der Gattungsidee ist durchaus nicht etwas Neues, sondern dasselbe Princip, welches das organische Bilden im weiteren Sinne beherrschte, auf die Zeugung angewandt (welche ja auch nur eine besondere Form des organischen Bildens ist, wie die Physiologie nachweist), und durch die Masse und Feinheit der Differenzen im menschlichen Geschlecht zu einem hohen Grade der Subtilität hinaufgeschraubt. – Bei den Thieren fehlt dieses Moment der geschlechtlichen Auswahl keineswegs, es stellt sich nur wegen der geringeren Differenzen in einfacherer Gestalt dar, und betrifft wesentlich nur den ersten Punct, die Auswahl solcher Individuen, welche selbst schon den Gattungstypus möglichst vollkommen repräsentiren. So kämpfen bei vielen Thieren (Hühnern, Robben, Maulwürfen, gewissen Affen) die Männchen um den Besitz der Weibchen, welche besonders begehrenswerth erscheinen; diese besonders begehrenswerthen sind bei vielen bunten Thieren die mit den schönsten Farben, bei verschiedenen Racen oder Varietäten innerhalb[206] einer Gattung die Individuen derselben Race, z.B. bei Menschen, Hunden. Köter bringen oft die grössten Opfer, um mit einer Hündin ihrer Race zusammen zu kommen, in die sie sich verliebt haben. Sie laufen nicht nur viele Meilen weit, sondern ich weiss auch einen Fall, wo ein Hund jede Nacht trotz seines Kreuzknüppels über eine Meile weit seine Geliebte besuchte und erschöpft und durchschunden alle Morgen wieder ankam; da der Knüppel nicht half, legte man ihn an die Kette; hier wurde er aber so ungeberdig, dass man ihn wieder ganz frei liess, weil man befürchten musste, er würde toll werden. Dabei waren auf seinem Hofe Hündinnen genug. Auch edle Hengste sollen für gewöhnlich die Begattung mit gemeinen abgetriebenen Stuten verschmähen.

Schopenhauer bemerkt sehr richtig, dass wir von dem Instinct der Geschlechtsliebe, den wir an uns erfahren, auf die Thierinstincte zurückschliessen dürfen, und annehmen, dass auch bei jenen das Bewusstsein durch die Erwartung eines besonderen Genusses getäuscht würde. Dieser Wahn entspringt aber nur aus dem Triebe, ist der Stärke des Triebes proportional, und ist nichts Anderes, als der Trieb selbst in Verbindung mit Anwendung der bewussten Erfahrung, dass die Lust bei Befriedigung des Triebes im Allgemeinen der Stärke des Triebes proportional sei, eine Voraussetzung, die sich eben bei den Trieben, deren hauptsächliches Gewicht und Bedeutung in's Unbewusste fällt, nicht bestätigt (siebe Cap. C. III.) und darum zum täuschenden Wahn wird. Es ist daher diese Bemerkung auf jene Thiere einzuschränken, deren Bewusstsein zu solchen Generalisationen fähig ist, bei den tiefer stehenden hat es eben bei dem zwingenden Triebe sein Bewenden, ohne dass es zur Erwartung des Genusses kommt. – Wie nützlich übrigens auch für die Individuen der höheren Thierarten jener Wahn ist, sieht man daran, dass gerade dieser geschlechtliche Wahn das erste und wichtigste Mittel in der Natur ist, um den Individuen dasjenige Interesse für einander einzuflössen, welches erforderlich ist, um die Seele in genügendem Grade für das Mitgefühl empfänglich zu machen. Die Bande der Ehe und Familie sind daher auch bei Thieren, wie bei rohen Menschen die ersten Stufen, auf denen der Weg zur bewussten Freundschaft und zur Sittlichkeit betreten wird, sie sind das erste Morgenroth aufdämmernder Cultur, schönerer und edlerer Gefühle und reinerer Opferfreudigkeit.

Man wird vielleicht einwenden wollen, dass nach der Theorie der polarischen Ergänzung keine unglückliche Liebe vorkommen[207] könne, doch ist dies offenbar ein übereilter und falscher Einwurf. Denn: wenn A sich in B verliebt, so heisst das: B ist für A eine geeignete Ergänzung, oder A wird mit B vollkommenere Kinder zeugen als mit Anderen. Nun braucht aber keineswegs auch A für B eine geeignete Ergänzung zu sein, sondern B kann vielleicht mit vielen Anderen vollkommenere Kinder zeugen als mit A, wenn z.B. A eine ziemlich unvollkommene Darstellung der Gattungsidee ist; folglich braucht keineswegs B sich in A zu verlieben. Nur dann, wenn Beides hochstehende Individuen sind, wird auch B schwerlich ein Individuum finden, mit dem es vollkommenere Kinder zeugen könnte als mit A, und dann werden Beide gleichzeitig von der Leidenschaft ergriffen, dann sind sie wie die sich wiederfindenden Hälften des getheilten Urmenschen im Platonischen Mythus. Dazu kommt in einem solchen Falle noch, dass nicht bloss den Kindern diese polarische Uebereinstimmung zu Gute kommt, sondern in einer anderen Beziehung, als die Liebesleidenschaft wähnt, auch den Eltern; weil nämlich, wie oben bemerkt, auch für die höchste Freundschaft die polarische Uebereinstimmung der Seelen die günstige Bedingung ist.

Zur Verständigung für Diejenigen, denen das Resultat des letzten Capitels neu und abstossend erscheinen möchte, mache ich schliesslich noch einmal darauf aufmerksam: 1) dass, so lange die Illusion des unbewussten Triebes unangetastet Bestand hat, diese Illusion für das Gefühl genau denselben Werth wie Wahrheit hat; 2) dass selbst nach Aufdeckung der Illusion und vor völliger Resignation auf Egoismus, also im Zustande des schärfsten ungebrochensten Widerspruches zwischen dem selbstsüchtigen bewussten, und dem selbstlosen, bloss für's Allgemeine wirkenden unbewussten Willen, dass selbst in diesem Zustande, sage ich, das Unbewusste sich stets zugleich als das Höhere und als das Stärkere des Bewusstseins erweist, also die Befriedigung des bewussten Willens auf Kosten der Nichtbefriedigung des unbewussten mehr Schmerz verursacht als das Umgekehrte; 3) endlich, dass diese Entzweiung des allgemeinen unbewussten mit dem egoistischen bewussten Willen ihre positive Versöhnung in dem (erst in Cap. C. XIV. darzulegenden) wahrhaft philosophischen Standpunct findet, wo die Selbstverläugnung, d.h. Verzichtleistung auf individuelles Wohl, und völlige Hingebung an den Process und das Wohl des Allgemeinen als Princip der practischen Philosophie sich darstellt, also auch alle für[208] den bewussten Egoismus absurden, aber für das Allgemeine wohlthätigen Instincte in integrum restituirt werden.

Man würde völlig fehlgreifen, wenn man glaubte, die Erklärung der Liebe durch unbewusste Zweckbeziehung auf das zu zeugende Kind vermaterialisire den ewigen Frühling des Menschenherzens oder raube den noch unschuldigen Gefühlen ihren zarten idealistischen Schmelz. Nichts weniger als das! Was könnte wohl sicherer die Liebe über die Gemeinheit der Sinnlichkeit erheben und endgültiger vor jedem Rückfall in dieselbe schützen, als die Ableitung derselben aus einem unbewussten Zwecke, welcher nur mit der Zeugung etwas zu thun hat, aber die Sinnlichkeit und Wollust von den Ursachen der individualisirten Liebe ausschliesst und nur als nebensächliches Vehikel stehen lässt, welches das unendliche Sehnen besser davor schützen soll, seinen unbewussten Zweck gänzlich zu verfehlen? Die philosophische Betrachtung thut nichts weiter, als dass sie die Illusion enthüllt, in welcher der natürliche Mensch befangen ist, die Illusion, dass jene mystischen Gefühle in sich selbst einen vernünftigen Boden, eine Begründung oder Berechtigung haben könnten. Zugleich aber ersetzt sie diese Illusion durch die wissenschaftliche Einsicht, dass diese Gefühle die allergrösste Berechtigung von der Welt haben, und auf dem allertiefsten und edelsten Boden ruhen, und dass sie thatsächlich unendlich viel wichtiger für die Entwickelung des Menschengeschlechts und seiner Geschichte sind, als die Phantasie sich träumen liess (vgl. später Cap. B. X und auch den Schluss von Cap. B. XI). Sie giebt also dem ewigen Gegenstande der Dichtung, der bisher als bodenlose Illusion dastand, nunmehr dadurch, dass sie seinen erträumten Werth für den Egoismus kritisch vernichtet, und ihm zum Ersatz eine ganz ungeahnte Bedeutung für das Wohl der Menschheit verleiht, eine derartige philosophische Begründung, dass selbst des trockensten Philisters Spott verstummen und vor der unermesslichen practischen Wichtigkeit der Sache sich beugen muss.A51[209]

A49

S. 200 Z. 21. Es kann ohne Frage sehr anziehend sein, alle die zahlreichen Verhüllungen und Verkleidungen, in welche die Sehnsucht nach geschlechtlicher Vereinigung sich je nach den Charakteren und Verhältnissen versteckt, psychologisch zu analysiren, zu classificiren und in ihren causalen Beziehungen zu untersuchen (wie dies auch mehrfach, namentlich von Franzosen und Italienern, versucht worden ist); aber selbst wenn es solch' einer Psychologie der Liebe gelänge, die ganze unerschöpfliche Mannichfaltigkeit der Gestaltungen, welche die Liebe annehmen kann, begreifend zu umspannen, so würde doch damit für das Verständniss der Liebe noch gar nichts gewonnen sein, so lange nicht das Grundproblem derselben in voller Schärfe präcisirt und befriedigend gelöst wäre. Dieses Grundproblem der Liebe muss sich aber natürlich um dasjenige drehen, was an den zahllosen empirischen Erscheinungsformen der Liebe nicht Verschiedenes, sondern Gemeinsames ist, und dieses Gemeinsame an den anscheinend so ganz heterogenen Ausprägungen der Einen Leidenschaft ist offenbar nichts anderes als die Sehnsucht nach geschlechtlicher Vereinigung. Das Problematische an diesem Punkte ist aber das, wie das leibliche oder geistige, ästhetische oder gemüthliche Gefallen, das man an einer Person findet, zu dem ganz heterogenen Wunsch einer geschlechtlichen Vereinigung mit derselben führen und diesen Wunsch zur Leidenschaft steigern kann. Dies und nichts anderes ist das Grundproblem der Liebe, und wer dieses Problem nicht erkennt, oder wer gar nichts Wunderbares oder Problematisches daran findet, der wird am allerwenigsten dazu befähigt sein es zu lösen, und alle psychologischen Studien eines solchen über die Liebe können nur ein mehr oder minder geistreiches Geschwätz über Nebensachen sein. Auf eine Lösung des Problems darf man nur hoffen, wenn man das Wesen der Geschlechtsliebe richtig erkannt hat als die von mehr oder minder Beiwerk umhüllte Sehnsucht nach Geschlechtsbefriedigung mit einem bestimmten Individuum.

A50

S. 202 Z. 19. (»Ges. Stud. u. Aufs.« S. 161-163; ferner »Phil. Fragen der Gegenwart« S. 166-167, und »Die deutsche Aesthetik seit Kant« S. 146-148).

A51

S. 209 letzte Z. Die ethische Bedeutung der Liebe wird durch die Ergründung der metaphysischen Wurzeln der natürlichen Seite der Geschlechtsliebe in keiner Weise zurückgesetzt, doch gehört die Erörterung derselben in einen andern Zusammenhang, nämlich dahin, wo überhaupt von den Triebfedern der Sittlichkeit und den moralischen Instincten des Menschen die Rede ist (»Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. A II 9, »Das Moralprincip der Liebe« S. 223-247). In Betreff der Wiedereinsetzung der Instincte aus teleologischem Gesichtspunkt, welche aus egoistischem Gesichtspunkt betrachtet illusorisch sind, vgl. »Phil. Fragen der Gegenwart« S. 161-163 und zu dem ganzen Capitel A. Taubert, »Der Pessimismus und seine Gegner«, Berlin bei C. Duncker, 1873, Nr. IV. »Die Liebe«.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 190-210.
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