V. Das Unbewusste im ästhetischen Urtheil und in der künstlerischen Production

[233] In der Auffassung des Schönen haben sich von jeher zwei extreme Ansichten gegenüber gestanden, die in verschiedenen Vermittelungsversuchen verschiedenen Raum in Ansprach nehmen. Die Einen mit Plato anhebend, stützen sich darauf, dass die menschliche Seele in der Kunst über die von der Natur gegebene Schönheit hinausgeht, und halten dies für unmöglich, wenn nicht der Seele eine Idee des Schönen inne wohnt, welche, nach einer bestimmten Richtung hin aufgefasst, Ideal heisst, und deren Vergleich mit der vorhandenen Natur sogar erst bestimmt, was an jener schön sei, was nicht, so dass das ästhetische Urtheil ein apriorisch synthetisches ist. Die Anderen weisen nach, dass in den, den vorgeblichen Idealen am nächsten kommenden Kunstschöpfungen keine Elemente enthalten seien, welche die Natur nicht auch bietet, dass die idealisirende Thätigkeit des Künstlers nur in einem Ausmerzen des Hässlichen und Zusammentragen und Vereinigen desjenigen Schönen bestehe, welches die Natur getrennt darbietet, und dass die ästhetische Wissenschaft in ihrem Fortschritt mehr und mehr den psychischen Entstehungsprocess des ästhetischen Urtheils aus den gegebenen psychologischen und physiologischen Bedingungen demonstrirt habe, so dass eine vollständige Aufhellung dieses Gebietes und Reinigung von allen apriorischen Wunderbegriffen in Aussicht stände.

Ich glaube, dass beide Theile theils Recht, theils Unrecht haben. Die Empiriker haben Recht, dass sich jedes ästhetische Urtheil aus anderweitigen psychologischen und physiologischen Bedingungen begründen lassen muss, und darum sind sie es eigentlich nur, die die wissenschaftliche Aesthetik schaffen, während die Idealisten sich die Möglichkeit dieser Wissenschaft mit ihrer Hypothese abschneiden,[233] und streng genommen die Aesthetik nur insoweit gefördert haben, als sie zugleich mit mehr oder weniger Bewusstsein auch Empiriker waren, d.h. durch empirisches Aufnehmen des durch die Erfahrung inhaltlich Gegebenen die Wissenschaft substantiell bereicherten. Gesetzt aber, die Empiriker hätten ihren Zweck erreicht, und hätten das ästhetische Urtheil vollständig analysirt, so hätten sie doch dadurch nur seinen objectiven Zusammenhang mit anderen Gebieten, gleichsam sein Weltbürgerrecht im Geiste als einem Naturwesen nachgewiesen, aber die subjective Entstehung desselben im individuellen Bewusstsein hätten sie unberührt gelassen, oder hätten mit der ihrer Auffassung stillschweigend zu Grunde liegenden Behauptung, dass der objective Zusammenhang und der Entstehungsprocess im subjectiven Bewusstsein identisch sei, etwas geradezu Unwahres behauptet, dem jede unbefangene Selbstbeobachtung und das Zeugniss des einfachsten wie des gebildetsten Schönheitssinnes widersprechen. Die Idealisten werden vielmehr Recht behalten, dass dieser Process etwas jenseits des Bewusstseins vor dem bewussten ästhetischen Urtheil Liegendes, mithin für dieses etwas Apriorisches sei; sie werden aber wieder darin Unrecht bekommen müssen, wenn sie den Process in diesem Apriorischen durch ein, ein für allemal fertiges Ideal vernichten, das, weiss Gott woher, kommt, von dessen Existenz das Bewusstsein nichts weiss, dessen objectiver Zusammenhang mit anderen psychischen Gebieten ewig unbegreiflich bleiben muss, und dessen gegebene Starrheit sich schliesslich doch der unendlichen Mannigfaltigkeit der einzelnen Fälle gegenüber als unzureichend erweist. Sobald der ästhetische Idealismus mehr leisten will als die allgemeine Aufstellung seines Princips, sobald er auf den Reichthum des gegebenen Mannigfaltigen näher eingeht, sieht er sich gezwungen, die Unhaltbarkeit des abstracten Ideals, welches ein unbestimmtes Eines ist, zuzugestehn, und einzuräumen, dass das Schöne nur in der allerconcretesten Besonderung möglich, weil individuell anschaulich wird (z.B. das Menschenideal als männliches und weibliches, ersteres wieder als Ideal des Kindes, Knaben, Jünglings, Mannes, Greises, das Ideal des Mannes wieder als Ideal eines Herkules, Odysseus, Zeus u.s.w.), dass also das concrete Ideal nicht mehr ein unbestimmtes Eines, sondern eine unendliche Vielheit allerbestimmtester Typen sein muss. Die ewige Existenz dieser unendlich vielen concreten Ideale behaupten, hiesse an Stelle des Einen Wunders des abstracten Ideals die unendlich vielen Wunder setzen. Will man hingegen, um dieser Schwierigkeit[234] zu entgehen, das unbestimmte Ideal als ein flüssiges setzen, das sich selbst je nach dem vorliegenden Falle in die vielen besondert, so müsste doch zunächst dieser Concrescirungsprocess in einem Geiste vor sich gehen; alsdann aber würde die Unfähigkeit des absolut unbestimmten Einen Schönheitsideals anerkannt werden müssen, sich selbst aus eigner Macht zu concresciren, da aus dem völlig Inhaltsleeren von selbst kein Inhalt herauskommen kann. Der schöpferische Process im unbewussten Geiste, als dessen Resultat das concrete Ideal ins Bewusstsein springt, findet demnach an dem hypothetischen abstracten Ideal gar keine Hülfe; er bedarf aber auch keiner Hülfe mehr, denn er trägt das Formalprincip des ästhetischen Bildens in sich, und braucht es nicht erst in dem unmöglichen absoluten Schönheitsideal zu suchen. Nur in diesem Sinne des im concreten Falle unbewusst zu schaffenden concreten Ideals verstehen auch neuere ästhetische Idealisten (wie Schasler) das ästhetische Ideal, und der so verstandene ästhetische Idealismus ist reif zu seiner Versöhnung und Verschmelzung mit dem ästhetischen Empirismus, indem er anerkennt, dass er gerade durch sein richtiges Verständniss über den formalen Entstehungsprocess des concreten Ideals als eines apriorisch-unbewussten darauf hingewiesen ist, den ästhetischen Inhalt dieses unendlichen Reichthums concreter Ideale a posteriori aus dem Bewusstsein empirisch zu entnehmen, an welchen alsdann erst Analyse, Reflexion und Speculation anknüpft.A57

Um ein recht einfaches Beispiel zu nehmen, müssten die abstracten Idealisten Ton, Harmonie und Klangfarbe nach einem idealen Ton, idealer Harmonie und idealer Klangfarbe beurtheilen, und je nach ihrer Annäherung an diese ihre Klangfarbe bestimmen, während Helmholtz (»Ueber Tonempfindungen«) nachweisst, dass in allen drei Fällen die Lust als Negation einer Unlust zu fassen ist, welche durch dem Flackern des Lichts ähnliche Störungen im Ohre bei Geräusch, Dissonanz und hässlicher Klangfarbe entsteht. Diese Unlust ist nicht mehr ästhetisch, sondern ebensogut ein schwacher physischer Schmerz, wie Bauchgrimmen, Zahnschmerz oder der Schmerz beim Quietschen eines Tafelsteins auf der Schiefertafel; es ist also die ästhetische Lust am sinnlichen Theile der Musik in ihrem objectiven Zusammenhange mit physischem Schmerz nachgewiesen, aber keineswegs ist von dem ästhetischen Urtheile: »dieser Ton, diese Harmonie, diese Klangfarbe ist schön« das die Entstehungsweiße, dass ich mir beim Anhören derselben bewusst werde: »ich empfinde jetzt keinen Schmerz durch Störungen und doch eine gelinde[235] Anregung der Function des Organs, ergo empfinde ich Lust«; von alledem oder ähnlichen Vorgängen findet sich nichts im Bewusstsein, sondern die Lust ist eo ipso mit dem Anhören im Bewusstsein, sie steht da wie hervorgezaubert, ohne dass die angespannteste Aufmerksamkeit im subjectiven Vorgange einen Fingerzeig über die Entstehungsweise zu finden im Stande wäre. Dies schliesst keineswegs aus, dass jener objectiv erkannte Zusammenhang sich im Unbewussten wirklich als Process vollzieht, dies ist sogar meiner Ansicht nach das allein Wahrscheinliche, aber das Resultat derselben ist das Einzige was in's Bewusstsein tritt und zwar erstens momentan nach der vollständigen Perception der sinnlichen Wahrnehmung, so dass sich auch hier wieder die Momentaneïtät des Processes im Unbewussten, seine Compression in den zeitlosen Augenblick, bewahrheitet, und zweitens nicht als ästhetisches Urtheil, sondern als Lust- oder Unlust- Empfindung.

Der letztere Punct ist noch näher zu betrachten und wird den besten Aufschluss über etwa noch bestehende Unklarheit gehen. – Wie schon Locke nachwies, haben die Worte, welche sinnliche Beschaffenheiten der Körper bezeichnen, wie »süss, roth, weich«, eine doppelte Bedeutung, welche vom gemeinen Menschenverstande ohne Nachtheil für die Praxis identificirt wird. Erstens bezeichnen sie den Selenzustand bei der Wahrnehmung und Empfindung, und zweitens diejenige Beschaffenheit der äusseren Objecte, welche als Ursache dieses Seelenzustandes supponirt wird. Jede Empfindung an sich ist ein Einzelnes, aber indem von verschiedenen Reihen ähnlicher Empfindungen die gemeinsamen Stücke abstrahirt werden, werden die Begriffe: »süss, roth, weich« gewonnen; indem nun die objectiven Ursachen dieser abstrahirten Empfindungen als eigenschaftliche Bestandtheile in Dinge verlegt werden, die schon aus anderweitigen Einwirkungen bekannt sind, so entstehen die Urtheile: »der Zucker ist süss, die Rose ist roth, der Pelz ist weich«.

Dieselbe Entwickelung liegt dem ästhetischen Urtheil zu Gründe. Die Seele findet in sich eine Menge von Empfindungen, welche, obschon mit individuellen Besonderheiten verknüpft, doch so viel Aehnlichkeit haben, dass sich ein gemeinsames begriffliches Trennstück ausscheiden lässt, dieses erhält den Namen schön. Indem nun die Ursache dieser Empfindung in äussere Objecte verlegt wird, welche aus den gleichzeitig auftretenden Wahrnehmungen construirt sind, so wird diese Ursache als Eigenschaft dieser Objecte gestempelt und erhält ebenfalls den Namen schön; so entsteht das Urtheil: »der[236] Baum ist schön.« Es darf uns nicht befremden, dass der gemeine Verstand den Begriff schön fast immer nur auf die Ursache, selten auf die Empfindung bezieht, denn dasselbe findet auch bei »süss, roth, weich« statt, und hat seinen guten Grund in der Praxis, da den practischen Menschen seine eigenen Empfindungen nur in so weit interessiren können, als sie ihn über die Aussenwelt unterrichten.

Wem das ästhetische Gefühl für das Schöne fehlt, wer keine Freude am Schönen hat, dem ist das ästhetische Urtheil entweder unmöglich, oder es ist eine empfindungslose Abstraction aus allgemeinen erlernten Regeln ohne subjective Wahrheit. Hieraus folgt, dass das ästhetische Urtheil nichts Apriorisches ist, sondern etwas Aposteriorisches oder Empirisches, denn sowohl das äussere Object, als die ästhetische Lust sind durch Erfahrung gegeben, und die äussere Ursache der Lust kann nur in jenem Objecte liegen, wie die Ursache der süssen Geschmacksempfindung nur in dem Zucker. Die ästhetische Lust selbst aber, welche als ein ebenso unerklärliches Factum im Bewusstsein gefunden wird, wie die Empfindung des Tones, Geschmackes, der Farbe u.s.w., und wie diese als etwas Fertiges, Gegebenes der inneren Erfahrung gegenüber tritt, kann ihre Entstehung nur einem Processe im Unbewussten verdanken; diese also könnte man so gut wie jede andere Empfindung etwas Apriorisches nennen, wenn nicht dieser Ausdruck bloss für Begriffe und Urtheile üblich wäre.

Die Fähigkeit, ästhetisch zu empfinden (analog der Fähigkeit, süss, sauer, bitter, herbe u.s.w. zu empfinden), Geschmack genannt, kann freilich, wie der Geschmack der Zunge und des Gaumens, gebildet und darin geübt werden, auf feine Unterschiede zu reagiren er kann auch durch gewaltsame Gewöhnung, diese zweite Natur, seiner ersten Natur, dem Instincte, abtrünnig gemacht und verdorben werden, aber in allen Fällen steht die Empfindung als eine gegebene, keiner Willkür unterworfene Thatsache da. Die ästhetische Empfindung unterscheidet sich nun aber von bloss sinnlichen Empfindungen dadurch, dass sie auf den Schultern jener steht, dass sie dieselben wohl als Material benutzt, auch als begleitende Vorstellungen, durch welche ihre besondere Qualität in jedem Falle bestimmt wird, dass sie aber als Empfindung über jenen steht und sich auf ihnen erbaut. Wenn daher der unbewusste Entstehungsprocess der sinnlichen Qualitäten eine unmittelbare Reaction der Seele auf den Nervenreiz ist, so ist der unbewusste Entstehungsprocess[237] der ästhetischen Empfindung vielmehr eine Reaction der Seele auf fertige sinnliche Empfindungen, gleichsam eine Reaction zweiter Ordnung. Dies ist der Grund, warum die Entstehung der sinnlichen Empfindung uns wohl ewig in undurchdringliches Dunkel gehüllt bleiben wird, während wir den Entstehungsprocess der ästhetischen Empfindung schon theilweise in der discursiven Form des bewussten Vorstellens reconstruirt und begriffen, d.h. in Begriff aufgelöst haben.

Um das Wesen des Schönen haben wir uns hier so wenig zu bekümmern, wie im vorigen Capitel um das Wesen des Sittlichen; wie uns dort das Resultat genügte, dass das Prädicat sittlich erst vom Standpuncte des Bewusstseins auf Handlungen angewandt werden könne, die Handlungen selbst aber, welchen dies Prädicat zu- oder abgesprochen wird, in letzter Instanz unberechenbare Reactionen des Unbewussten seien, so kommt es uns hier nur auf die Erkenntniss an, dass das ästhetische Urtheil ein empirisch begründetes Urtheil sei, seine Begründung aber in der ästhetischen Empfindung habe, deren Entstehungsprocess durchaus in's Unbewusste falle. –

Gehen wir nun von der passiven Aufnahme des Schönen zu seiner activen Production über, so scheint eine kurze Betrachtung der schöpferischen Phantasie und somit der Phantasie oder Einbildungskraft überhaupt unerlässlich (vgl. auch oben Cap. A. VII, 1. b. S. 150-151). – Das sinnliche Vorstellungsvermögen, die Einbildungskraft oder Phantasie im weitesten Sinne, hat bei verschiedenen Personen sehr verschiedene Grade der Lebhaftigkeit. Nach Fechner's Angaben, die durch meine vielfachen Prüfungen Anderer bestätigt werden, haben die Frauen dies Vermögen in höherem Grade als Männer, und von letzteren die am wenigsten welche abstract zu denken und die Aussenwelt zu vernachlässigen gewohnt sind. Beim geringsten Grade können Farben gar nicht. Gestalten nur höchst undeutlich, ohne festzustehen, mit schwimmenden Conturen und nur für kurze Momente überhaupt erkennbar vorgestellt werden, bei höheren Graden einfache, nicht zu umfassende Bilder ohne Mühe deutlich, feststehend, in lebhaften Farben, bei Kopfdrehungen nach Willkür objectiv fixirt oder mitgehend. Bei den höchsten Graden giebt die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit dem Sinneseindrucke nichts nach, es können die Bilder sowohl in das schwarze Sehfeld des geschlossenen Auges, als in das von äusseren Sinneseindrücken erfüllte Sehfeld beliebig eingereiht werden (wie jener Maler, der seine Modelle nur 1/4 Stunde sitzen liess und dann sich[238] ihr Bild willkürlich als auf dem Stuhle sitzend vorstellte, und danach portraitirte, so dass er die Person, so oft er die Augen aufschlug, in voller Klarheit auf dem Stuhle sitzen sah); es können ferner ganze Compositionen, Aufzüge von vielen Figuren, oder im Detail ausgearbeitete Orchestercompositionen monatelang bloss in der Vorstellung herumgetragen werden, ohne an Schärfe zu verlieren, wie man von Mozart weiss, dass er immer erst dann seine Compositionen zu Papier gebracht hat, wenn ihm das Feuer auf die Nägel brannte, dann aber auch oft die einzelnen Orchesterstimmen ohne Partitur niedergeschrieben hat (z.B. bei der Don Juan-Ouvertüre) und ihm diese Arbeit doch noch so mechanisch gewesen ist, dass er dabei andere Compositionen concipirt haben soll.A58 Ich hielt diese Anführungen nicht für unnütz, um den Lesern, welchen diese Anschauungsgabe fehlt, einen Begriff von der Möglichkeit umfassender einheitlicher Conceptionen zu geben. Die Erfahrung bezeugt, dass es noch kein wahres Genie gegeben hat, welches diese Fähigkeit der sinnlichen Anschauung, wenigstens in seinem Fache, nicht in hohem Grade besessen hätte. Ueberdies ist es keine Frage, dass, wenn in unserem nüchternen Verstandeszeitalter noch solche Beispiele möglich sind, dass früher in Zeitaltern, wo die sinnliche Anschauung noch viel mehr geübt und gepflegt und wenig durch abstractes Denken unterdrückt wurde, wo der Mensch sich noch rückhaltloser den guten und bösen Einflüsterungen seines Genius oder Dämons hingab, es wohl denkbar ist, dass, wie in Heiligen. Märtyrern, Propheten und Mystikern, so auch in begeisterten Künstlern eine Verschmelzung von willkürlicher Sinnesanschauung und unwillkürlicher Hallucination stattgefunden habe, welche für diese mit ihrer hehren Mutter noch nicht entzweiten Kinder einer glücklicheren Natur nichts Auffallendes gehabt haben mag, vielmehr so sehr als Bedingung jedes Musenerzeugnisses angesehen wurde, dass der enthusiastische Plato uns den Ausspruch (Phädrus) hinterlassen hat: »Was ein trefflicher Mann im göttlichen Wahnsinn, der besser ist als nüchterne Besonnenheit, hervorbringt, nämlich das Göttliche, daran die Seele als an einem hellglänzenden Nachbilde dasjenige wieder erkennt, was sie in der Stunde der Entzückung schaute, Gott nachwandelnd, und welches schauend, sie nothwendig mit Lust und Liebe erfüllt.« – »Nicht ein Uebel schlechthin ist der Wahnsinn, sondern durch ihn kamen die grössten Güter über Hellas.« Und noch zu Cicero's Zeiten hiess dichterische Begeisterung: furor poeticus. In neuerer Zeit hat besonders Shaftesbury auf die grundlegende[239] Bedeutung des Enthusiasmus für die Entstehung alles Wahren, Grossen und Schönen mit Nachdruck hingewiesen. –

Betrachten wir nun aber die Gebilde der Phantasie selbst, so finden wir bei der Zergliederung in ihre Elemente, selbst wenn wir die wildesten Ausgeburten orientalischer Ueberschwenglichkeit vornehmen, nichts, was nicht durch sinnliche Wahrnehmung kennen gelernt und im Gedächtnisse aufbewahrt worden wäre. Keine neue einfache Farbe, keinen einfachen Geruch, Geschmack, Ton, Laut können wir entdecken; selbst im Gebiete des Raumes, der der Neugestaltung den grössten Spielraum lässt, finden wir in Arabesken nur die bekannten Elemente der geraden Linie, des Kreises, der Ellipse und anderer bekannten Krümmungen wieder, ja sogar man wird bei Phantasiethieren selten Stücke aus der anorganischen oder Pflanzenwelt finden und umgekehrt. Alles beschränkt sich auf Trennung bekannter Vorstellungen und Combination der Trennstücke in veränderter Weise. Hat nun Jemand ein lebhaftes Vorstellungsvermögen, zugleich einen feinen Sinn für das Schöne und ein reiches und willig sich darbietendes Gedächtnissmaterial, worin besonders die schönen Elemente reich vertreten sind, so wird es ihm nicht schwer werden, durch Anlehnung an die Natur, d.h. an gegebene Sinneswahrnehmungen, Ausscheidung hässlicher und Einfügung schöner und doch gegen die Wahrheit und Einheit der dargestellten Idee nicht verstossender Elemente, künstlerisch zu schaffen. Z.B.: Wenn Jemand ein Portrait malt, so ist zunächst die Wahrheit der Idee inne gehalten, wenn er die sich zufällig darbietende Ansicht der Person copirt. Dies wäre eine handwerksmässige, keine künstlerische Leistung. Wenn er aber die Person in solche Beleuchtung, Stellung, Richtung und Haltung bringt, dass sie sich möglichst vortheilhaft präsentirt, wenn er von den verschiedenen Stimmungen und Ausdrücken während der Sitzung denjenigen festhält, der am schönsten wirkt, und demnächst alle unvortheilhaften und unschönen Züge und Einzelheiten so sehr zurückdrängt oder fortlässt, alle vortheilhaften Züge und Einzelheiten dagegen so sehr hervorhebt und in günstiges Licht setzt, auch wohl neu hinzufügt, als es die Wahrheit der Idee, d.h. die Aehnlichkeit erlaubt, dann hat er eine künstlerische Production geliefert, denn er hat idealisirt.

So arbeitet das gewöhnliche Talent, es producirt künstlerisch durch verständige Auswahl und Combination, geleitet durch sein ästhetisches Urtheil. Auf diesem Standpuncte steht der gemeine Dilettantismus und der grösste Theil der Künstler von Fach;[240] sie alle können aus sich heraus nicht begreifen, dass diese Mittel, unterstützt durch technische Routine, wohl recht Tüchtiges leisten können, aber nie etwas Grosses zu erreichen, nie aus dem gebahnten Geleise der Nachahmung zu schreiten, nie ein Original zu schaffen im Stande sind; denn mit diesem Anerkenntnisse müssten sie sich ihren Beruf absprechen und ihr Leben für verfehlt erklären. Hier wird noch Alles mit bewusster Wahl gemacht, es fehlt der göttliche Wahnsinn, der belebende Hauch des Unbewussten, der dem Bewusstsein als höhere unerklärliche Eingebung erscheint, die es als Thatsache erkennen muss, ohne je ihr Wie enträthseln zu können: die bewusste Combination lässt sich durch Anstrengung des bewussten Willens, durch Fleiss und Ausdauer und dadurch gewonnene Uebung mit der Zeit erzwingen, die Conception des Genies ist eine willenlose leidende Empfängniss, sie kommt ihm beim angestrengtesten Suchen gerade nicht, sondern ganz unvermuthet wie vom Himmel gefallen, auf Reisen, im Theater, im Gespräch, überall wo es sie am wenigsten erwartet und immer plötzlich und momentan; – die bewusste Combination arbeitet mühsam aus den kleinsten Details heraus und erbaut sich qualvoll zweifelnd und kopfzerbrechend unter häufigem Verwerfen und Wiederaufnehmen des Einzelnen allmählich das Ganze; die geniale Conception empfängt als müheloses Geschenk der Götter das Ganze aus Einem GUSS, und gerade die Details sind es, die ihm noch fehlen, schon deshalb fehlen müssen, weil bei grösseren Compositionen (Gruppenbildern, Dichtwerken) der Menschengeist zu eng ist, um mehr als den allgemeinsten Totaleindruck mit Einem Blicke zu überschauen; – die Combination schafft sich die Einheit des Ganzen durch mühsames Anpassen und Experimentiren im Einzelnen, und kommt deshalb trotz aller Arbeit nie mit ihr ordentlich zu Stande, sondern lässt immer in ihrem Machwerke das Conglomerat der vielen Einzelheiten durcherkennen; das Genie hat vermöge der Conception aus dem Unbewussten eine in der Unentbehrlichkeit, Zweckmässigkeit und Wechselbeziehung aller einzelnen Theile so vollkommene Einheit, dass sie sich nur mit der ebenfalls aus dem Unbewussten stammenden Einheit der Organismen in der Natur vergleichen lässt.

Diese Erscheinungen werden von allen wahrhaften Genies die darüber Selbstbeobachtungen angestellt und mitgetheilt haben, bestätigt,14 und Jeder kann sie an sich selbst als richtig finden, der[241] jemals einen wahrhaft originalen Gedanken in irgend einer Richtung gehabt hat. Ich will hier nur eine Bemerkung des ebenso künstlerischen als philosophischen Schelling anfahren (transcend. Idealism. S. 459 – 60): »...so wieder Künstler unwillkürlich und selbst mit innerem Widerstreben zur Production getrieben wird (daher bei den[242] Alten die Ausspräche: pati Deum u.s.w., daher überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden Anhauch), ebenso kommt auch das Objective zu seiner Production gleichsam ohne sein Zuthun, d.h. selbst bloss objectiv hinzu. [S. 454 sagt er: ›Objectiv ist nur, was bewusstlos entsteht, das eigentlich Objective in jener Anschauung muss also auch nicht mit Bewusstsein hinzugebracht werden können.‹] Ebenso wie der verhängnissvolle Mensch nicht vollführt, was er will oder beabsichtigt, sondern was er durch ein unbegreifliches Schicksal, unter dessen Einwirkung er steht, vollführen muss, so scheint der Künstler, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich Objective in seiner Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn vor allen anderen Menschen absondert, und ihn Dinge auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist.« –

Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden, muss ich noch Folgendes hinzufügen. Erstens ist es keineswegs gleichgültig, welchen Boden das Genie in seinem Geiste bereitet hat, dass die Keime, die aus dem Unbewussten hineinfallen, in üppigen organischen Formen aufschiessen; denn wo sie auf Fels oder Sand fallen, da verkümmern sie. D.h. das Genie muss in seinem Fache geübt und gebildet sein, einen reichen Vorrath einschlagender Bilder in seinem Gedächtnisse aufgespeichert haben, und zwar in einer Auswahl des Schönen, die mit feinem Sinne vollzogen sein muss. Denn dieses Material ist der Stoff, in welchem sich die im Unbewussten noch formlose Idee gestalten will. Hat der Künstler sein ästhetisches Urtheil verdorben, und in Folge dessen unschönes Material in sich mit Liebe aufgenommen, so wird auch dieser schlechte Boden unpassende Bestandtheile in das Saamenkorn einführen, das aus ihm seine Nahrung saugt, und so wird die Pflanze nicht gedeihen.

Zweitens ist mit dem Gesagten nicht behauptet, dass jedes Kunstwerk aus einer einzigen Conception entspringe, schon die Episoden zeigen in einfachster Gestalt die Verbindung verschiedener Conceptionen. Meistentheils jedoch ist es eine einzige Conception, welche die Grundidee liefert, wo nicht, da leidet auch immer die Einheit des Kunstwerkes. Die Einheit der ursprünglichen Totalconception schliesst aber keineswegs aus, sie erfordert sogar bei grösseren Werken die Unterstützung durch Partialconceptionen, gleichsam Conceptionen zweiter Ordnung; denn wenn die verständige Arbeit allein das ganze Intervall zwischen der ersten Conception und dem vollendeten[243] Werk ausfüllen soll, so liegt bei dem in der ersten Conception grösserer Werke unvermeidlichen Fehlen aller Specialitäten die Gefahr nahe, dass in den verschiedenen Theilen des Werkes der Mangel an Conception, gerade wie in kleineren Werken bloss verständiger Combination, fühlbar wird, oder dass durch grössere Aenderungen in den Theilen die Einheit der ganzen Idee beeinträchtigt wird. Allemal aber bleibt der verständigen Arbeit ein grosses Feld übrig, und wenn dem Genie die hierzu nöthige Energie, Ausdauer, Fleiss und verständiges Urtheil fehlen, so wird die geniale Conception dem Künstler und der Menschheit keine Früchte tragen, denn das Werk bleibt entweder unbegonnen, oder unvollendet, oder doch skizzenhaft und unvollkommen ausgeführt (liederlich gearbeitet). Freilich muss die verständige Arbeit sich hierbei immer ihrer gleichsam dienenden Stellung bewusst bleiben; sie darf nicht superklug die einmal gefassten Conceptionen des Unbewussten kritisiren und meistern wollen, sonst verpfuscht sie das Werk, indem sie durch einseitige Verbesserung eine Verschlechterung in vielen anderen Beziehungen herbeiführt und die organische Einheit und Naturwüchsigkeit des Kunstwerkes zerstört oder doch stört. Wie weit aber die verständige Arbeit eingreifen darf, ohne die Conception des Unbewussten zu stören, dies vermag wiederum nicht sie selbst, sondern nur der ästhetische Geschmack oder Takt des Künstlers, d.h. sein unbewusst begründetes Schönheitsgefühl zu bestimmen, und deshalb muss während der ganzen Dauer der verständigen Arbeit doch wieder das Unbewusste als Grenzaufseher über dem bewussten Verstand Wache halten. Hierdurch wird es begründet, dass Schelling und nach ihm Carriere (vgl. oben S. 35) alle künstlerische Thätigkeit für ein beständiges Ineinander von unbewusster und bewusster Thätigkeit erklären konnten, bei welcher jede Seite der andern zum Zustandekommen eines Resultats gleich unentbehrlich ist.

Drittens ist die Bemerkung, dass der bewusste Wille auf das Zustandekommen der Conception keinen Einfluss habe, nicht misszuverstehen. Der bewusste Wille im Allgemeinen ist nämlich geradezu die unentbehrliche Bedingung desselben, denn nur, wenn die ganze Seele des Menschen in seiner Kunst lebt und webt, alle Fäden seines Interesses in ihr zusammenlaufen, und es keine Macht giebt, die im Stande wäre, den Willen von diesen seinem höchsten Streben dauernd abzuwenden, nur dann ist die Einwirkung des bewussten Geistes auf das Unbewusste kräftig genug, um wahrhaft grosse, edle und reine Eingebungen zu erzielen. Dagegen hat der bewusste Wille[244] auf den Moment der Conception keinen Einfluss, ja ein angestrengtes bewusstes Sachen danach, eine einseitige Concentration der Aufmerksamkeit nach dieser Richtung verhindert geradezu die Empfängniss der Idee aus dem Unbewussten, weil die causale Verbindung beider Glieder in Bezug auf solche aussergewöhnliche Inanspruchnahme des Unbewussten so subtil ist, dass jede Präoccupation des Bewusstseins in dieser Richtung störend wirken muss, jede schon vorhandene einseitige Spannung der betreffenden Gehirntheile das Aufnahmeterrain uneben macht. Darum das Eintreten der Conception, wenn ganz andere Hirntheile mit ganz anderen Gedanken beschäftigt sind, sobald nur durch eine noch so lockere Ideenassociation der Impuls zur Causalität des Unbewussten gegeben wird, – aber ein solcher Anstoss muss da sein, wenn er auch meistens gleich wieder vergessen wird, denn die allgemeinen Gesetze des Geistes können auch hier nicht übersprungen werden.A60

Viertens endlich ist zu berücksichtigen, dass auch bei dem verständigen Arbeiten des blossen Talents die befruchtende Conception niemals ganz fehlt, sondern sich bloss auf solche Minima beschränkt, dass sie der gewöhnlichen Selbstbeobachtung entgehen. Hat man aber einmal das Charakteristische dieses Vorganges beim extremen Genie begriffen, und bedenkt, dass unzählige Vermittelungen von hier durch das Talent zum talentlosen Herumquälen des nackten Verstandes mit Hülfe erlernter Regeln hinabführen, so wird sich bald eine Fülle von Beispielen darbieten, die mehr oder weniger den Charakter der Conception aus dem Unbewussten zeigen, wie einem bei dieser Arbeit plötzlich jene Verbesserung zu ganz anderer Stunde eingefallen u. dergl. Wer aber hieran zweifelt, dem will ich endlich beweisen, dass jede Combination sinnlicher Vorstellungen, wenn sie nicht rein dem Zufalle anheimgestellt wird, sondern zu einem bestimmten Ziele fahren soll, der Hülfe des Unbewussten bedarf. –

Die Gesetze der Ideenassociation oder Gedankenfolge enthalten drei wesentliche Momente: 1) die hervorrufende Vorstellung; 2) die hervorgerufene Vorstellung und 3) das Interesse an der Entstehung der letzteren. Was die Beziehungen der beiden ersten untereinander abgesehen vom dritten, und die Gesetze ihrer Verknüpfung betrifft, so müssen dieselben wesentlich auf die mechanische Causalität der molecularen Hirnschwingungen, auf die grössere oder geringere Verwandtschaft der der hervorrufenden Vorstellung entsprechenden Hirnschwingungen zu den verschiedenen im Hirn bereit liegenden latenten Dispositionen (mit einem uneigentlichen Ausdruck: »schlummernde[245] Gedächtnissvorstellungen« genannt) zurückgeführt werden (vgl. S. 28-29). Eine solche Einschränkung der Betrachtung auf die hervorrufende und die hervorgerufene Vorstellung wäre aber nur dann thatsächlich gerechtfertigt, wenn Zustände im menschlichen Leben vorkommen, in welchen der Mensch nicht nur von jedem bewussten Zweck, sondern auch von der Herrschaft oder Mitwirkung jedes unbewussten Interesses, jeder Stimmung, frei ist. Dies ist aber ein kaum jemals vorkommender Zustand; denn auch wenn man seine Gedankenfolge anscheinend völlig dem Zufall anheimgiebt, oder wenn man sich ganz den unwillkürlichen Träumen der Phantasie überlässt, so walten doch immer zu der einen Stunde andere Hauptinteressen, maassgebende Gefühle und Stimmungen im Gemüth als zu der andern, und diese werden allemal einen Einfluss auf die Ideenassociation üben. Von noch grösserem Einfluss aber muss natürlich ein vorhandenes Interesse an der Hinleitung der Gedankenreihe zu einem bestimmten Ziele sein, und dieser oben als Nr. 3 angeführte Punct ist es auch, mit dem wir uns hier hauptsächlich zu beschäftigen haben.

Wenn ich z.B. ein rechtwinkliges Dreieck ansehe, so können sich ohne ein besonderes Interesse alle möglichen Vorstellungen daran reihen, wenn ich aber nach dem Beweis eines Lehrsatzes über dasselbe gefragt bin, welchen nicht zu wissen ich mich schämen würde, so habe ich ein Interesse, an die Vorstellung des Dreiecks diejenigen Vorstellungen zu knüpfen, welche zu diesem Beweise dienen. Dieses Interesse am Ziele ist es also, was die Verschiedenheit der Ideenassociation in den verschiedenen Fällen bedingt. Denn wenn mir bei dem Dreieck sonst alle möglichen anderen Vorstellungen einfallen würden, nur nicht gerade die, welche ich brauche, und das Interesse am Finden des Beweises bewirkt, dass eine diesem Zwecke entsprechende Vorstellung auftaucht, welche sonst höchst wahrscheinlich nicht entstanden wäre, so muss doch das Interesse die Ursache davon sein. Wer ist nun aber der Verständige, der die zweckentsprechende Vorstellung auf Antrieb des Interesses unter den unzähligen möglichen heraussucht? Das Bewusstsein ist es wahrlich nicht; – denn bei halb unbewussten Träumen kommen zwar auch immer nur solche Vorstellungen, die dem augenblicklichen Hauptinteresse entsprechen, aber eben unbeabsichtigt; bei dem absichtlichen Suchen des Bewusstseins in den Schubfächern des Gedächtnisses wird man hingegen gerade von diesem sehr oft im Stiche gelassen; man kann wohl Hülfsmittel anwenden, wenn Einem das, was man braucht, nicht einfallen will, aber ertrotzen lässt es sich[246] nicht, und oft, wenn man durch solches Ausbleiben in Verlegenheit gesetzt ist, kommt die betreffende Vorstellung Stunden, ja Tage lang nachher plötzlich in's Bewusstsein hereingeschneit, wo man am wenigsten daran gedacht hatte. Man sieht also, dass nicht das Bewusstsein der Auswählende ist, da es sich völlig blind verhält, und jedes aus dem Gedächtnissschatze hervorgeholte Stück als Geschenk erhält.

Wäre das Bewusstsein der Auswählende, so müsste es ja das Auswählbare bei seinem eigenen Lichte besehen können, was es bekanntlich nicht kann, da nur das schon Ausgewählte aus der Nacht des Unbewusstseins hervortritt. Wenn also das Bewusstsein doch wählen sollte, so würde es im absolut Finstern tappen könnte also unmöglich zweckmässig wählen, sondern nur zufällig herausgreifen. Jener Unbekannte aber wählt in der That zweckmässig, nämlich den Zwecken des Interesses gemäss. Nach der Psychologie, die nur bewusste Seelenthätigkeit kennt, liegt hier ein offener Widersprach vor. Denn die Erfahrung bezeugt, dass eine zweckmässige Auswahl der Vorstellungen vor der Entstehung stattfindet, und leugnet, dass das Bewusstsein diese Auswahl vornimmt. Für uns, die wir die Zweckthätigkeit des Unbewussten schon vielseitig kennen gelernt haben, liegt hier nur eine neue Stütze unserer Auffassung vor; es ist eben eine Reaction des Unbewussten auf das Interesse des bewussten Willens, die durch die Form ihres Auftretens und durch ihr zeitweises Ausbleiben bei starker einseitiger Spannung des Hirns völlig mit der künstlerischen Conception übereinstimmt. Die eben angestellte Betrachtung gilt für die Ideenassociation sowohl beim abstracten Denken, als sinnlichen Vorstellen und künstlerischen Combiniren; wenn ein Erfolg erzielt werden soll, muss sich die rechte Vorstellung zur rechten Zeit aus dem Schatze des Gedächtnisses willig darbieten, und dass es eben die rechte Vorstellung sei, welche eintritt, dafür kann nur das Unbewusste sorgen; alle Hülfsmittel und Kniffe des Verstandes können dem Unbewussten nur sein Geschäft erleichtern, aber niemals es ihm abnehmen.

Ein passendes und doch einfaches Beispiel ist der Witz, der zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Production die Mitte hält, da er Kunstzwecke mit meist abstractem Materiale verfolgt. Jeder Witz ist nach dem Sprachgebrauche ein Einfall; der Verstand kann wohl Hülfsmittel dazu aufwenden, um den Einfall zu erleichtern, die Uebung kann namentlich im Gebiete der Wortspiele[247] das Material dem Gedächtnisse lebhafter einprägen und das Wortgedächtniss überhaupt stärken, das Talent kann gewisse Persönlichkeiten mit einem immer sprudelnden Witze ausstatten, trotz alledem bleibt jeder einzelne Witz ein Geschenk von oben, und selbst die, welche als Bevorzugte in dieser Hinsicht den Witz völlig in ihrer Gewalt zu haben glauben, müssen erfahren, dass gerade, wenn sie ihn recht erzwingen wollen, ihr Talent ihnen den Dienst versagt, dass dann nichts als fade Albernheiten oder auswendig gelernte Witze aus ihrem Hirn heraus wollen. Diese Leute wissen auch sehr wohl, dass eine Flasche Wein ein viel besseres Mittel ist, um ihren Witz in Bewegung zu setzen, als die absichtliche Anspannung des Geistes. –

Wenn wir nach alledem verstanden haben, dass alle künstlerische Production des Menschen in einem Eingreifen des Unbewussten wurzelt, so wird es nunmehr nicht Wunder nehmen können, in den Organismen der Natur, welche wir als die unmittelbarste Erscheinung des Unbewussten erkannt haben, die Gesetze der Schönheit so sehr als möglich inne gehalten zu finden. Dieser Punct konnte nicht früher als hier seine Erwähnung finden, er ist aber ein gewichtiger Grund mehr für die planmässige Entstehung der Organismen nach vorherexistirenden Ideen. Man betrachte nur eine Pfauenfeder. Jede Wimper der Feder erhält ihre Nahrung aus dem Kiel; die Nahrung für alle Wimpern ist dieselbe; die Farbenstoffe sind im Kiel meist noch nicht vorhanden, sondern werden erst in den Wimpern selbst auf der gemeinschaftlichen Nährflüssigkeit ausgeschieden. Jede Wimper lagert auf verschiedenen Entfernungen vom Kiele verschiedene Farbstoffe ab, die sich scharf von einander abgrenzen; die Entfernungen dieser Farbengrenzen vom Kiele sind auf jeder Wimper andere, und wodurch werden sie bestimmt? Durch den Zweck, in der Nebeneinanderlagerung der Wimpern geschlossene Figuren, Pfauenaugen zu geben, und wodurch kann dieser Zweck gesetzt sein? Nur durch die Schönheit der Zeichnung und Farbenpracht.

Wie unzulänglich erscheint vom ästhetischen Standpuncte aus die Darwin'sche Theorie! Sie zeigt, dass unter der Voraussetzung, dass die Fähigkeit, Farbenzeichnungen im Gefieder zu erzeugen, erblich sei, der ästhetische Geschmack der Thiere bei der geschlechtlichen Auswahl durch überwiegende Fortpflanzung schöngezeichneter Individuen die Schönheit des Gefieders generationenweise erhöhen müsse. Unzweifelhaft! So kann sich aus dem Weniger ein Mehr[248] entwickeln, aber wo kommt das Weniger her? Wenn nicht schon Farbenzeichnung im Gefieder vorhanden ist, wie soll dann eine geschlechtliche Auswahl nach der Farbenzeichnung möglich sein? Also muss doch das, was erklärt werden soll, schon da sein, wenn auch in geringerem Grade. Die Darwin'sche Theorie beruht auf der Voraussetzung, dass solche Fähigkeit, wie hier die der Farbenzeichnungserzeugung, erblich sei; die Vererbung einer Fähigkeit auf die Nachkommen setzt doch aber ihr Vorhandensein in den Vorfahren voraus! Und gesetzt, der Begriff der Vererbung wäre etwas Klares, was er keineswegs ist (am wenigsten, wenn man die gesonderte Vererbung verschiedener Eigenschaften in den verschiedenen Geschlechtern derselben Art berücksichtigt), so erklärt er doch in dem Nachkommen keineswegs die Fähigkeit selbst, sondern nur, wie dieses Individuum zum Besitz dieser Fähigkeit gelangt sei; die Fähigkeit selbst bleibt auch bei Darwin die qualitas occulta, er macht gar keinen Versuch, in ihr Wesen zu dringen, es kommt ihm ja nur auf den Nachweis an, dass die Vererbung in Verbindung mit der geschlechtlichen Auswahl im Stande sei, eine solche in einzelnen Exemplaren vorhandene Fähigkeit theils intensiv zu erhöben, theils ihr extensiv weitere Verbreitung zu verschaffen. Zur Erklärung ihres Wesens und ihrer ersten Entstehung leistet sie gar nichts; sie kann z.B. nie zeigen, wie der einzelne Vogel es anfängt, die Farbenablagerungen auf seinen Federn so zu vertheilen, dass sie, auf den einzelnen Federn und Wimpern scheinbar unregelmässig in ihrer Nebeneinanderlagerung regelmässige und schöne Zeichnungen hervorbringen. Wenn aber endlich für die intensive und extensive Steigerung solcher Fähigkeit die geschlechtliche Auswahl mit Recht als Grund angeführt wird, so ist doch die nächste Frage die: wie kommt das Individuum zu einer geschlechtlichen Auswahl nach Schönheitsrücksichten? Können wir diese Frage, namentlich bei tiefstehenden Seethieren, denen wahrlich nicht viel bewusste Aesthetik zuzutrauen ist, nur durch einen Instinct beantworten, dessen unbewusster Zweck in Verschönerung der Gattung liegt, so dreht sich Darwin offenbar im Kreise herum; wir aber werden in diesem Instincte ein Mittel erkennen, dessen sich die Natur bedient, um mit leichterer Mühe zu ihrem Zwecke zu kommen, als wenn sie, ohne die Hülfe der Steigerung der körperlichen Disposition durch Vererbung in Generationen, auf einmal die grösstmögliche Schönheit in allen Individuen einzeln erzeugen wollte, d.h. wir bewundern statt schwerer directer eine mühelosere indirecte Erreichung des Zieles, wie schon[249] früher in den Mechanismen des einzelnen Organismus, – und diesen Mechanismus in seiner Allgemeinheit aufgedeckt zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst Darwin's; nur darf man nicht, wie der Materialismus, glauben, damit das letzte Wort gesprochen zu haben,

Auf ähnliche Weise kann man an der Veredelung der Blüthen sehen, wie in dem geheimnissvollen Leben und Weben der Pflanze selbst der Trieb zur Schönheit liegt, der im wilden Zustande nur zu sehr im Kampfe um's Dasein erdrückt und erstickt wird. So wie man die Pflanzen von diesem Kampfe einigermassen befreit, so bricht das Schönheitsbestreben durch, und aus den unscheinbarsten Blüthen wilder Gewächse werden unter unseren Augen die prachtvollsten Blumen. Und wohlgemerkt kann hier nicht etwa die Anlockung der die Befruchtung vermittelnden Insecten durch die lebhafter gefärbten Blüthen für diese Verschönerung verantwortlich gemacht werden, da ja unsre schönsten Gartenblumen gefüllte, d.h. unfruchtbare Blüthen tragen, und nur auf ungeschlechtlichem Wege vermehrt werden können. Hier hat man den Beweis, dass der Trieb zur schönen Entfaltung in der Pflanze selbst liegt, und bei wildwachsenden Blumen durch die Bevorzugung der sie besuchenden Insecten nur unterstützt, aber nichts weniger als hervorgebracht wird. Nie hat Darwin den Erklärungsversuch gemacht, wie der Pflanze jene Spielarten oder Abweichungen vom Normaltypus möglich sind, welche diesen an Schönheit übertreffen, und welche der Mensch nur vor ihrem Wiederuntergang im Kampfe um's Dasein zu schützen braucht, um sie sich zu erhalten.

Dasselbe gilt aber für alle Schönheit im Pflanzen- und Thierreiche, auch die der allgemeinen Form. Ich spreche es als Grundsatz aus, dass jedes Wesen so schön ist, als es in Rücksicht auf seine Lebens- und Fortpflanzungsweise sein kann. So wie wir früher gesehen haben, dass die absolute Zweckmässigkeit jeder einzelnen Einrichtung beschränkt wird; einerseits durch andere Zwecke, deren Erfüllung sie widersprechen würde, andererseits durch den Widerstand des starren Materials, dessen Gesetzen das organisirende Princip sich beugen und anbequemen muss, gerade so wird die Schönheit jedes Theiles beschränkt durch seine Zweckmässigkeit nach allen den Richtungen hin, wo er für das Wesen praktisch in Betracht kommt, und zweitens durch den Widerstand des spröden Materials, dessen Gesetze respectirt werden müssen. So ist z.B. die Tendenz zur Entfaltung einer möglichst glänzenden Farbenpracht bei den schwächeren Thieren (kleinen Vögeln, Käfern, Schmetterlingen,[250] Motten u.s.w.) beschränkt durch ihr Bedürfniss, sich durch Aehnlichkeit mit der Farbe der Umgebung ihren Verfolgern zu verbergen, es sei denn, dass sie durch widrigen Geruch oder Geschmack (z.B. Heliconiden) oder durch eine undurchdringlich harte Schale (Hartkäfer) ohnehin vor ihren eventuellen Feinden sicher sind. Wo immer die höhere Anforderung der Existenzfähigkeit der Art und ihrer Concurrenzfähigkeit im Kampf um's Dasein die Entfaltung einer gewissen Schönheit in Form und Farbe gestattet, da bricht dieselbe unaufhaltsam durch, auch da, wo sie für die Concurrenzfähigkeit der Art im Kampf um's Dasein völlig zwecklos und werthlos erscheint (man denke an die Farbenpracht niederer Seethiere oder die Schönheit gewisser Raupen, welche sich als solche nicht einmal fortpflanzen, bei denen also auch keine geschlechtliche Auswahl nach ihrer Schönheit als Raupe stattfinden kann). Bei schnellen zur Flucht geschickten Thieren spricht das Bedürfniss sich zu verbergen weniger mit, kommt aber sofort zur Geltung, wo die Flucht ausgeschlossen bleibt, z.B. bei brütenden Vögeln. Hier sehen wir an allen im offenen Neste brütenden Vögeln, dass dasjenige Geschlecht, dem das Brütgeschäft ausschliesslich obliegt, ein unscheinbareres Kleid trägt, als das andere. Beide Geschlechter kleinerer Vögel können nur bei solchen Gattungen einen reicheren Farbenschmuck tragen, die im geschlossenen, den Brütvogel verbergenden Neste brüten, während eine Theilung des offenen Brutgeschäftes unter beide Geschlechter ein lebhaft gefärbtes Gefieder bei beiden ausschliesst. In ähnlicher Weise sind fast alle nicht ohnehin schon durch einen widerlichen Geruch oder Geschmack geschützte Schmetterlingsarten mehr oder minder polymorph; d.h. während die Männchen schön gefärbt und gezeichnet sind, sehen die Weibchen, die nach der Begattung noch bis zur Reife und Ablegung der Eier fortleben müssen, unscheinbarer aus, oder sie ahmen auch wohl fernstehende Gattungen, die einen besonderen Schutz geniessen, in ihrer äusseren Erscheinung täuschend nach. – Wo ein farbenprächtiges Gefieder für das ganze Leben ein unheilvolles Geschenk wäre, da sucht doch häufig die Natur durch ein nach kurzer Frist wieder mit einem unscheinbaren Gewände vertauschtes glänzendes Hochzeitskleid der Schönheit ihren Tribut zu zollen, gleichsam als ob sie das Leben des gefiederten Luftbewohners für seinen glücklichen Liebeslenz durch einen flüchtigen Lichtstrahl der Schönheit mit einem Schimmer von Poesie verklären wollte.

So interessant auch eine Betrachtung der organischen Natur vom[251] ästhetischen Standpuncte aus ist, so können wir doch hier des Raumes wegen nicht darauf eingehen und müssen uns mit diesen Andeutungen begnügen, deren Ausführung wir dem Leser anheimstellen. – Nehmen wir indessen unsere Behauptungen als zugegeben an, so beruht der Unterschied der künstlerischen Production des Menschen und der Natur letzten Endes nicht im Wesen und Ursprung der Conception der Idee, sondern nur in der Art ihrer Verwirklichung. In der Naturschönheit wird die Idee vor der Ausführung nirgends einem Bewusstsein präsentirt, sondern das Individuum, das Marmor und Bildhauer zugleich ist, verwirklicht die Idee völlig unbewusst; in der künstlerischen Production des Menschen dagegen wird die Instanz des Bewusstseins eingeschoben; die Idee verwirklicht sich nicht unmittelbar als Naturwesen, sondern als Hirnschwingungen, die dem Bewusstsein des Künstlers als Phantasiegebilde gegenüber treten, dessen Uebertragung in äussere Realität von dem bewussten Willen des Künstlers abhängt. –

Fassen wir zum Schlüsse das Resultat dieses Capitels zusammen, so ist es folgendes: Das Schönfinden und das Schönschaffen des Menschen gehen aus unbewussten Processen hervor, als deren Resultate die Empfindung des Schönen und die Erfindung des Schönen (Conception) sich dem Bewusstsein darstellen. Diese Momente bilden die Ausgangspuncte der weiteren bewussten Arbeit, welche aber in jedem Augenblicke mehr oder weniger der Unterstützung des Unbewussten bedarf. Der zu Grunde liegende unbewusste Process entzieht sich durchaus der Selbstbeobachtung, doch vereinigt er unzweifelhaft in jedem einzelnen Falle dieselben Glieder, welche eine absolut richtige Aesthetik in discursiver Reihenfolge als Begründung der Schönheit geben würde. Dass eine solche Umwandlung und Zerlegung in Begriffe und discursives Denken überhaupt möglich ist, giebt nämlich den Beweis dafür, dass wir es in dem unbewussten Processe nicht mit etwas wesentlich Fremdem zu thun haben, sondern dass nur die Form in diesem und dem ästhetisch wissenschaftlichen Auflösungsprocesse sich unterscheiden wie intuitives und discursives Denken überhaupt, dass aber in beiden das Denken an sich, oder das Logische, und die Momente, aus deren intuitiv-logischer Verknüpfung die Schönheit resultirt, gemeinsam und gleich sind. Dies gilt ebenso zweifellos für die Elementarurtheile der sogenannten formalen Schönheit, als für die inhaltliche Schönheit der in adäquater sinnlicher Erscheinung sich darstellenden höchsten Ideen. (Schon Leibniz nannte das Schönfinden der musikalischen[252] Verhältnisse eine unbewusste Arithmetik, und die Schönheit der geometrischen Figuren steht in geradem Verhältnisse zu dem Reichthum mathematischer Ideen und logisch-analytischer Beziehungen, der bei der ästhetischen Intuition derselben als unbewusst implicirter Anschauungsgehalt das Urtheil bestimmt.) Wäre der Begriff des Schönen nicht logisch auflösbar, wäre das Schöne nicht bloss eine besondere Erscheinungsform des Logischen, so müssten wir allerdings in dem schöpferischen Unbewussten neben dem Logischen, das wir bisher allein thätig gefunden, noch etwas Anderes, Heterogenes, was jeder Vermittelung mit diesem entbehrt, anerkennen. Aber die Geschichte der Aesthetik zeigt das Ziel dieser Wissenschaft, die Herleitung aller und jeder Schönheit aus logischen Momenten (allerdings in Anwendung auf reale Data), zu unverkennbar an, als dass man sich durch die gegenwärtige Unvollkommenheit dieser Versuche von dem Glauben an dieses Endziel abwendig machen lassen sollte.A61[253]

A57

S. 235 Z. 18 v. u. Diesen Standpunkt eines von der Erfahrung ausgehenden concreten Idealismus, der die Versöhnung des abstracten Idealismus und ideenlosen Empirismus bildet, habe ich in meiner »Aesthetik« sowohl historisch-kritisch als auch systematisch durchzuführen versucht (vgl. in beiden Theilen das alphabetische Register unter »Idealismus, abstracter und concreter«). Es sei hier nur noch bemerkt, dass der Empirismus in der Aesthetik, wo es sich nur um innere, subjective, psychologische Erfahrungsthatsachen handeln kann, in der Regel als Formalismus auftritt.

A58

S. 239 Z. 12. Im Traum ist uns allen diese schöpferische Thätigkeit der unbewussten Phantasie wohl bekannt; wir besitzen sie alle, wie unsre Träume beweisen, und nur ihr Grad reicht bei den meisten Personen nicht aus, um im wachen Zustande sich gegen die doppelte Concurrenz der Wahrnehmungseindrücke und der abstracten Gedankenassociationen zu behaupten. Zum Verständniss der Schöpfungen der künstlerischen Phantasie bietet demnach das Studium der Schöpfungen der Traumphantasien eine dienliche Vorbereitung und gute Beihilfe, wenngleich der Unterschied einer gedankenlos träumenden und einer besonnen schaffenden Phantasie nicht übersehen werden darf. Ich verweise für diese Dinge auf die Schrift von Johannes Volkelt »Die Traum-Phantasie« (Stuttgart 1875), welche ein gleiches Maass von kritischer Besonnenheit und speculativer Durchdringung in sich vereinigt, und alles bisher auf diesem Gebiete Geleistete in sich verarbeitet. (Vgl. insbesondere Nr. 15 »Das Unbewusste in der Traumphantasie«.)

14

Eines der reinsten, d.h. möglichst wenig durch Reflexion beeinflussten Genies, und zugleich eine grundehrliche kindliche Natur war Mozart, welcher sich in einem Briefe (8. Jahn's Mozart Bd. III. S. 423-425) in folgender denkwürdigen Art über sein künstlerisches Produciren äussert: »Und nun komme ich auf den allerschwersten Punct in Ihrem Briefe, und den ich lieber gar fallen liess, weil mir die Feder für so was nicht zu Willen ist. Aber ich will es doch versuchen, und sollten Sie nur etwas zu lachen drinnen finden. Wie nämlich meine Art ist beim Schreiben und Ausarbeiten von grossen und derben Sachen nämlich? – Ich kann darüber wahrlich nicht mehr sagen als das; denn ich weiss selbst nicht mehr und kann auf weiter nichts kommen. Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beim Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie – das weiss ich nicht, kann auch nichts dazu. Die mir nun gefallen, behalte ich im Kopfe und summe sie wohl auch vor mich hin, wie mir Andre wenigstens gesagt haben. Halt ich das nun fest, so kommt mir bald Eins nach dem Andern bei, wozu so ein Brocken zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu machen, nach Contrapunct, nach Klang der verschiedenen Instrumente etc. etc. Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer grösser, und ich breite es immer weiter und heller aus, und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so dass ich's hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es hernach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich Alles zusammen. Das ist nun ein Schmaus! Alles das Finden und Machen geht in mir nur wie in einem schönstarken Traum vor; aber das Ueberhören – so Alles zusammen, ist doch das Beate. Was nun so geworden ist, das vergesse ich nicht leicht wieder, und das ist vielleicht die beste Gabe, die mir unser Herr Gott geschenkt hat. Wenn ich nun hernach einmal zum Schreiben komme, so nehme ich aus dem Sack meines Gehirns, was vorher, wie gesagt, hinein gesammelt ist. Darum kommt es hernach auch ziemlich schnell auf's Papier; denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon fertig, und wird auch selten viel anders, als es vorher im Kopfe gewesen ist. Darum kann ich mich auch beim Schreiben stören lassen, und mag um mich herum mancherlei vorgehen, ich schreibe doch; kann auch dabei plaudern, nämlich von Hühnern und Gänsen, oder von Gretel und Bärbel u. dergl. Wie nun aber über dem Arbeiten meine Sachen überhaupt eben die Gestalt oder Manier annehmen, dass sie mozartisch sind, und nicht in der Manier irgend eines Anderen, das wird halt eben so zugehen, wie dass meine Nase ebenso gross und herausgebogen, dass sie mozartisch und nicht wie bei anderen Leuten geworden ist. Denn ich lege es nicht auf Besonderheit an, wüsste die meine auch nicht einmal naher zu beschreiben. Es ist ja aber wohl bloss natürlich, dass die Leute, die wirklich ein Aussehen haben, auch verschieden von einander aussehen, wie von Ausgen, so von Innen. Wenigstens weiss ich, dass ich mir das Eine so wenig als das Andere gegeben habe. Damit lassen Sie mich aus, für immer und ewig, bester Freund, und glauben Sie ja nicht, dass ich aus anderen Ursachen abbreche, als weil ich weiter nichts weiss. Sie, ein Gelehrter, bilden sich nicht ein, wie sauer mir schon das geworden ist.« – Vgl. als Bestätigung hierzu Schillers Ansichten, wie er sie in dem merkwürdigen Gedichte »Das Glück« ausgesprochen, aller Wahrscheinlichkeit nach angeregt durch den ihm nahe liegenden Vergleich zwischen der genialen Leichtigkeit des Göthe'schen Schaffens mit seiner eigenen reflectirenden Arbeit. – Vgl. ferner meinen Aufsatz über Otto Ludwig: »Aus einer Dichterwerkstatt« in der Oestreichischen Wochenschrift für Wiss. u. Kunst 1872 Nr. 41.

A60

S. 245 Z. 15. Die hier gegebenen Andeutungen sind im Zusammenhang ausgeführt in meiner »Aesthetik« Theil II, Buch II, Cap. VIII »Die Entstehung des Kunstschönen«. Vgl. insbesondre 3e »Die Phantasie« S. 568-586. Ueber das »Unbewusste« in der ästhetischen Auffassung und Production vgl. die im alphabetischen Register beider Bände angeführten Stellen.

A61

S. 253 Z. 16. (Vgl. »Aesthetik« Theil II, S. 463-471.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 233-254.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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