II. Wie kommen wir zur Annahme von Zwecken in der Natur?

[36] Eine der wichtigsten und bekanntesten Aeusserungsformen des Unbewussten ist der Instinct, und dieser ruht auf dem Zweckbegriff; deshalb ist eine Untersuchung des letzteren für unsere Aufgabe nicht zu vermeiden, und da dieselbe sich in den Abschnitt A nicht wohl einfügt, so habe ich sie hier in die Einleitung verwiesen. Zwar wird die hier folgende Behandlung des Gegenstandes leicht den Vorwarf der Trockenheit erfahren, und wer es scheut, sich durch Wahrscheinlichkeitsuntersuchungen durchzuwinden, der möge, wenn er ohnedies schon von der Berechtigung einer Annahme von Zwecken in der Natur überzeugt ist, dieses Capitel immerhin ungelesen lassen. Doch muss ich hinzufügen, dass die Art, in welcher die so wichtige Frage hier zur hypothetischen Entscheidung wenigstens nach ihrer formalen Seite gebracht wird, meines Wissens sowohl neu, als auch die einzig mögliche ist.

Bei vielen grossen Denkern hat der Zweckbegriff eine höchst wichtige Rolle gespielt, und die Grundlage eines grossen Theils des Systems ausgemacht, z.B. bei Aristoteles, Leibniz; Kant musste ihm natürlich die Realität ausserhalb des bewussten Denkens ab sprechen, da er sie für die Zeit nicht zugestand (vgl. Trendelenburg: logische Untersuchungen Cap. VIII. 5); der moderne Materialismus leugnet dieselbe ebenfalls, weil er den Geist ausserhalb des thierischen Hirns leugnet; bei der modernen Naturwissenschaft ist der Zweckbegriff durch Baco mit Recht in Misscredit gekommen, weil er so oft als bequemes Mittel der faulen Vernunft gedient hat, sich das Suchen nach den wirkenden Ursachen zu ersparen, und weil in dem blos mit der Materie beschäftigten Theil der Naturwissenschaft allerdings der Zweck, als eine geistige Ursache, ausgeschlossen bleiben muss; Spinoza verblendete sich vollständig gegen die Thatsache[36] der Naturzwecke, weil er die Finalität im Widerspruch mit der logischen Nothwendigkeit glaubte, – während sie doch mit ihr identisch ist (Cap. C. XV, 3), – und der Darwinismus leugnet die Naturzweckmässigkeit zwar nicht als Thatsache, aber als Princip, und glaubte die Thatsache als Resultat geistloser Causalität begreifen zu können, – als ob die Causalität selbst etwas anderes wäre als eine uns nur thatsächlich (nicht principiell von innen heraus) erkennbare logische Nothwendigkeit, und als ob die Zweckmässigkeit, die actuell erst nach längerer Vermittelung als Resultat zu Tage tritt, nicht schon von Anfang an das Prius dieser Vermittelungen als Anlage oder Princip hätte sein müssen! Wenn aber einerseits ein so grosser und so ehrlicher Geist wie Spinoza den Thatsachen in's Angesicht den Zweck zu leugnen im Stande ist, wenn dagegen bei anderen der Zweck eine so grosse Rolle spielt, und selbst der Freigeist Voltaire die Zwecke aus der Natur nicht wegzuleugnen wagt, wie unbequem und unvereinbar mit seiner sonstigen Ueberzeugung sie ihm auch seien, so muss es doch ein eigenes Ding damit sein.

Der Begriff des Zweckes bildet sich zunächst aus den Erfahrungen, die man an seiner eigenen bewussten Geistesthätigkeit macht. Ein Zweck ist für mich ein von mir vorgestellter und gewellter zukünftiger Vorgang, dessen Verwirklichung ich nicht direct, sondern nur durch causale Zwischenglieder (Mittel) herbeizuführen im Stande bin. Wenn ich den zukünftigen Vorgang nicht vorstelle, so existirt er für mich jetzt nicht; wenn ich ihn nicht will, bezwecke ich ihn nicht, sondern er ist mir gleichgültig oder zuwider; wenn ich ihn direct verwirklichen kann, so fällt das causale Zwischenglied, das Mittel fort, und damit verschwindet auch der Begriff Zweck, der nur in der Relation zum Begriff Mittel besteht, denn die Handlung folgt dann unmittelbar aus dem Willen. Indem ich einsehe, dass ich nicht im Stande bin, meinen Willen direct zu verwirklichen, und das Mittel als wirkende Ursache des Zweckes erkenne, wird mir das Wollen des Zweckes Motiv, d.i. wirkende Ursache für das Wollen des Mittels; dieses wird wirkende Ursache für die Verwirklichung des Mittels durch meine That, und das verwirklichte Mittel wird wirkende Ursache der Verwirklichung des Zweckes. So haben wir eine dreifache Causalität unter den vier Gliedern: Wollen des Zwecks, Wollen des Mittels, Verwirklichung des Mittels, Verwirklichung des Zwecks. Nur in seltenen Fällen wird alles dies auf rein subjectiv geistigem Gebiete bleiben, z.B. beim Verfassen eines Gedichts im Kopf, der gedanklichen Ausarbeitung einer anderweitigen künstlerischen Conception,[37] oder sonst einer Kopfarbeit; meistentheils dagegen finden wir von den vier verschiedenen Arten der Causalität drei unmittelbar dargestellt, nämlich Causalität zwischen geistigem und geistigem Vorgang (Wollen des Zwecks, Wollen des Mittels), geistigem und materiellem Vorgang (Wollen und Verwirklichung des Mittels), und zwischen materiellem und materiellem Vorgang (Mittel und Zweck). Auch die vierte Art Causalität: zwischen materiellem und geistigem Vorgang kommt öfters hierbei vor, sie liegt dann aber vor dem Beginn unserer Betrachtung in der Motivation des Wollens des Zwecks durch Sinneseindrücke. Man sieht hieraus, dass die Verbindung von gewolltem und verwirklichtem Zweck oder die Finalität, keineswegs etwas neben oder gar trotz der Causalität bestehendes ist, sondern dass sie nur eine bestimmte Verbindung der verschiedenen Arten von Causalität ist, derart, dass Anfangsglied und Endglied dasselbe sind, nur das eine ideal und das andere real, das eine in der gewollten Vorstellung, das andere in der Wirklichkeit. Weit entfernt, die Ausnahmslosigkeit des Causalitätsgesetzes zu vernichten, setzt sie dieselbe vielmehr voraus, und zwar nicht nur für Materie unter einander, sondern auch zwischen Geist und Materie, und Geist und Geist. Daraus geht hervor, dass sie die Freiheit im einzelnen empirischen Geistesacte negirt, und auch ihn unter die Notwendigkeit des Causalitätsgesetzes stellt. Dies möchte das erste Wort zur Verständigung mit den Gegnern der Finalität sein.

Nehmen wir nun an, es sei M als wirkende Ursache von Z beobachtet worden, und sämmtliche im Moment des Eintretens von M obwaltenden materiellen Umstände als n. n. constatirt worden. Ferner stehe der Satz fest, dass M eine zureichende wirkende Ursache haben müsse. Nun sind 3 Fälle möglich: entweder ist die zureichende Ursache von M in n. n. enthalten, oder sie erhält ihre Vervollständigung durch andere materielle Umstände, welche der Beobachtung entgangen sind, oder endlich die zureichende Ursache von M ist überhaupt nicht auf materiellem Gebiete zu finden, muss mithin auf geistigem gesucht werden. Der zweite Fall widerspricht der Annahme, dass sämmtliche materielle Umstände, die der Entstehung von M unmittelbar vorangehen, in n. n. enthalten seien. Wenn diese Bedingung auch in aller Strenge unerfüllbar ist, da die ganze Lage des Weltsystems darunter begriffen wäre, so ist doch leicht zu sehen, dass die Fälle sehr selten sind, wo ausserhalb eines engen örtlichen Umkreises für den Vorgang wesentliche Bedingungen liegen können, und alle unwesentlichen Umstände brauchen nicht berücksichtigt zu[38] werden. Z.B. die wesentlichen Umstände, warum die Spinne spinnt, wird niemand ausserhalb der Spinne suchen, etwa im Monde. Nehmen wir also die Wahrscheinlichkeit, dass irgend ein für den Vorgang wesentlicher materieller Umstand nicht berücksichtigt, und demnach in n. n. nicht enthalten sei, so gering an, dass sie vernachlässigt werden darf6, so bleiben nur die beiden Fälle, dass die zureichende Ursache in n. n. enthalten ist, oder geistiger Natur ist. Dass der eine oder der andere Fall statthaben muss, ist also nunmehr Gewissheit, d.h. die Summe ihrer Wahrscheinlichkeiten ist = 1 (welche Gewissheit bedeutet). Sei nun die Wahrscheinlichkeit, dass M durch n. n. verursacht ist = 1/x, so ist folglich die Wahrscheinlichkeit, dass es eine geistige Ursache habe = 1-1/x = (x-1)/x; je kleiner 1/x wird, desto grösser wird x, desto mehr nähert sich (x-1)/x der 1, d.h. der Gewissheit. Die Wahrscheinlichkeit 1/x würde = 0 werden, wenn man den directen Beweis in Händen hätte, dass M nicht durch n. n. verursacht ist; wenn man nämlich einen Fall constatiren könnte, wo n. n. vorhanden und M nicht eingetreten ist. Dies ist mit den ganzen n. n. freilich unmöglich, da jede geistige Ursache materielle Angriffspuncte braucht, aber es wird doch häufig gelingen, wenigstens einige oder mehrere der Umstände n. n. zu eliminiren, und je weniger von den Umständen n. n. als solche betrachtet werden müssen, bei deren Vorhandensein der Vorgang M jedesmal eintritt, desto leichter wild die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, dass sie die zureichende Ursache von M nicht enthalten.

Betrachten wir zur Verdeutlichung ein Beispiel. Dass das Bebrüten des Ei's die Ursache vom Auskommen des jungen Vogels ist, ist eine beobachtete Thatsache. Die dem Bebrüten (M) unmittelbar vorhergehenden materiellen Umstände (n. n.) sind das Vorhandensein[39] und die Beschaffenheit des Ei's, das Vorhandensein und die Körperconstitution des Vogels, und die Temperatur an dem Ort, wo das Ei hegt; anderweitige wesentliche Umstände sind undenkbar. Die Wahrscheinlichkeit ist höchst gering, dass diese Umstände ausreichen, um den munteren, bewegungsfrohen Vogel zum Verlassen seiner gewohnten und instinctiv gebotenen Lebensweise und zum langweiligen Stillsitzen über den Eiern zu veranlassen; denn wenn auch der vermehrte Blutandrang im Unterleibe ein erhöhtes Wärmegefühl herbeiführen mag, so wird dieses doch durch das Stillsitzen im warmen Nest auf den blutwarmen Eiern nicht vermindert, sondern erhöht. Hiermit ist schon die Wahrscheinlichkeit 1/x als sehr klein, also (x-1)/x als nahe an 1 bestimmt. Denken wir aber an die andere Frage, ob uns ein Fall bekannt sei, wo Vogel und Eier dieselben sind, und doch das Bebrüten nicht statt findet, so begegnen uns zunächst Vögel, die in heissen Treibhäusern genistet haben, und das Brüten unterlassen, ebenso bebrütet der Strauss seine Eier nur in der Nacht, im heissen Nigritien gar nicht. Hiermit sind von den Umständen n. n. Vogel und Eier als nicht zureichende Ursache für das Bebrüten (M) erkannt und es bleibt als einziger materieller Umstand, der die Ursache zureichend oder vollständig machen könnte, die Temperatur im Neste übrig. Niemand wird für wahrscheinlich halten, dass die niedrigere Temperatur die directe Veranlassung für den Vorgang des Bebrütens sei, mithin ist für den Vorgang des Bebrütens das Vorhandensein einer geistigen Ursache, durch welche erst der constatirte Einfluss der Temperatur auf den Vorgang vermittelt gedacht werden muss, so gut wie Gewissheit geworden, wenngleich die Frage nach der näheren Beschaffenheit dieser geistigen Ursache hiermit noch völlig offen bleibt.

Nicht immer ist die Wahrscheinlichkeitsbestimmung so leicht wie hier, und in seltenen Fällen wird sie bei einem einfachen M so nahe an Gewissheit grenzen. Dafür kommt uns aber zur Hülfe, dass das M, die beobachtete Ursache von Z, meistens nicht einfach, sondern aus verschiedenen, von einander unabhängigen7 Vorgängen,[40] P1, P2, P3, P4 etc. besteht. Wenn wir nun zunächst wieder das Uebersehen wesentlicher, materieller Umstände ausschliessen, so haben wir dann zu ermitteln: Die Wahrscheinlichkeit,


dass P1 durch n. n. zureichend verursacht ist =1/p1

dass P2 durch n. n. zureichend verursacht ist =1/p2

dass P3 durch n. n. zureichend verursacht ist =1/p3

dass P4 durch n. n. zureichend verursacht ist =1/p4


Hieraus folgt die Wahrscheinlichkeit, dass M durch n. n. zureichend verursacht ist 1/(p1·p2·p3·p4) Denn M ist die Summe der Vorgänge P1, P2, P3, P4, also wenn M durch n. n. verursacht sein soll, muss sowohl P1, als auch P2, als auch P3, als auch P4, gleichzeitig durch n. n. verursacht sein; diese Wahrscheinlichkeit ist aber das Product der einzelnen Wahrscheinlichkeiten. (Wenn z.B. beim ersten Würfel die Wahrscheinlichkeit, die 2 zu werfen = 1/6 ist, beim zweiten ebenfalls = 1/6, so ist die Wahrscheinlichkeit, mit beiden Würfeln zugleich die 2 zu werfen =1/6 · 1/6). Mithin ist die Wahrscheinlichkeit, dass M nicht zureichend durch n. n. verursacht sei, dass es also noch einer geistigen Ursache bedürfe = 1 – 1/(p1·p2·p3·p4) = (p1·p2·p3·p4-1)/(p1·p2·p3·p4).

Hier ist also p1·p2·p3·p4, was vorher x war, und man sieht daraus, dass p1, p2, p3 und p4 einzeln nur wenig grösser als 4√2 = 1,189, also 1/p1, 1/p2, 1/p3, und 1/p4 jedes wenig kleiner als 0,84 zu sein brauchen, so wird p1·p2·p3·p4 als Product der 4 Factoren schon grösser als 2, und (p1·p2·p3·p4-1)/(p1·p2·p3·p4) grösser als 1/2; d.h. mit andern Worten, wenn für die einzelnen Vorgänge P1, P2, P3, P4, die Wahrscheinlichkeit einer geistigen Ursache (1-1/p etc.) nur gering (< 0,16) ist, so wird sie doch für ihre Summe M um so bedeutender, je mehr einzelne Vorgänge zu M gehören. Sei z.B. die Wahrscheinlichkeit[41] einer geistigen Ursache im Durchschnitt für jeden nur 1/5 = (1 – 1/p) so ist 1/p1 = 1/p2 = 1/p3 = 1/p4 = 4/5 = 0,8 also 1/(p1·p2·p3·p4) = 0,4096 und 1-(1/p1·p2·p3·p4) = 0,5904, eine ganz respectable Wahrscheinlichkeit von ungefähr 3/5. Man sieht leicht ein, dass diejenigen Theile von M, welche ganz sicher blos aus n. n. resultiren, sich von selbst aus der Rechnung eliminiren, da ihre Wahrscheinlichkeit als 1 in das Product der übrigen eingeht, d.h. dieses unverändert lässt. –

Betrachten wir auch hierzu ein Beispiel, Als Ursache des Sehens (Z) ist ein Complex (M) von Bedingungen (P1, P2, P3, P4)beobachtet worden, deren wichtigste folgende sind: 1) besondere Nervenstränge gehen vom Gehirn aus, welche so beschaffen sind, dass jeder sie treffende Reiz im Gehirn als Lichtempfindung percipirt wird; 2) sie endigen in einer eigenthümlich gebauten, sehr empfindlichen Nervenhaut (Retina); 3) vor derselben steht eine Camera obscura; 4) die Brennweite dieser Camera ist im Allgemeinen für das Berechnungsverhältniss von Luft und Augenkörper passend (ausser bei Wasserthieren); 5) die Brennweite ist durch verschiedenartige Contractionen für Sehweiten von einigen Zollen bis unendlich zu ändern; 6) die einzulassende Lichtquantität wird durch Verengerung und Erweiterung der Iris regulirt und dadurch zugleich bei deutlichem Sehen im Hellen die peripherischen Strahlen abgeblendet; 7) die Endglieder der an die Nervenendigungen sich anschliessenden Stäbchen oder Zapfen haben eine derartige geschichtete Construction, dass jedes solches Endglied Lichtwellen von bestimmter Wellenlänge (Farbe) in stehende Wellen verwandelt, und so in der zugehörigen Nervenprimitivfaser die physiologischen Farbenschwingungen erzeugt; 8) die Duplicität der Augen veranlasst das stereoskopische Sehen mit der dritten Dimension; 9) beide Augen können durch besondere Nervenstränge und Muskeln zugleich nur nach derselben Seite, also unsymmetrisch in Bezug auf die Muskeln bewegt werden; 10) die von der Peripherie nach dem Centrum zunehmende Deutlichkeit des Gesichtsbildes verhindert die sonst unvermeidliche Zerstreuung der Aufmerksamkeit; 11) das reflectorische Hinwenden des deutlichen Sehpuncts nach dem hellsten Puncte des Gesichtsfeldes erleichtert das Sehenlernen und das Entstehen der Raumvorstellungen in Verbindung mit dem vorigen; 12) die stets herabrinnende Thränenfeuchtigkeit erhält die Oberfläche der Hornhaut[42] durchsichtig und führt den Staub ab; 13) die hinter Knochen zurückgezogene Lage, die reflectorisch bei jeder Gefahr sich schliessenden Lider, die Wimpern und Brauen schützen vor schnellem Unbrauchbarwerden der Organe durch äussere Einwirkungen.

Alle diese 13 Bedingungen sind nöthig zum normalen Sehen und dessen Bestand; sie alle sind bei der Gebart des Kindes bereits vorhanden, wenn auch ihre Anwendung noch nicht geübt ist; die ihrer Entstehung vorangehenden und sie begleitenden Umstände (n. n.) sind also in der Begattung und dem Fötusleben zu suchen. Das wird aber wohl den Physiologen niemals gelingen, in der Keimscheibe des befruchteten Eies und den zuströmenden Muttersäften die zureichende Ursache für die Entstehung aller dieser Bedingungen mit nur einiger Wahrscheinlichkeit aufzuzeigen; es ist nicht abzusehen, warum das Kind sich nicht auch ohne Sehnerven oder ohne Augen entwickeln soll. Gesetzt nun aber, man stützte sich dabei auf unsere Unkenntniss, obwohl dies ein schlechter Grund für positive Wahrscheinlichkeiten ist, und nähme für jede der 13 Bedingungen eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit an, dass sie sich aus den materiellen Bedingungen des Embryolebens entwickeln müsse, meinetwegen im Durchschnitt 9/10 (was schon eine Wahrscheinlichkeit ist, die wenige unserer sichersten Erkenntnisse besitzen), so ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass alle diese Bedingungen aus den materiellen Verhältnissen des Embryolebens folgen, 0,913= 0,254, also die Wahrscheinlichkeit, dass für diesen Complex eine geistige Ursache in Anspruch genommen werden müsse = 0,746, d.i. fast 3/4; in Wahrheit sind aber die einzelnen Wahrscheinlichkeiten vielleicht = 0,25, oder höchstens 0,5, und demnach die Wahrscheinlichkeit einer geistigen Ursache für das Ganze = 0,9999985, respective 0,99988, d.h. Gewissheit.

Wir haben auf diese Weise erkannt, wie man aus materiellen Vorgängen auf das Mitwirken geistiger Ursachen zurückschliessen kann, ohne dass letztere der unmittelbaren Erkenntniss offen liegen. Von hier zur Erkenntniss der Finalität ist nur noch Ein Schritt. Eine geistige Ursache für materielle Vorgänge kann nur in geistiger Thätigkeit bestehen, und zwar muss, wo der Geist nach aussen wirken soll, Wille vorhanden sein, und kann die Vorstellung dessen, was der Wille will, nicht fehlen, wie dies in Cap. A. IV. zur näheren Erörterung kommt. Die geistige Ursache ist also Wille in Verbindung mit Vorstellung, und zwar der Vorstellung des materiellen Vorganges, der bewirkt[43] werden soll (M). Wir nehmen hier der Kürze halber an, dass M direct aus einer geistigen Ursache hervorgeht, was keineswegs nöthig ist. Fragen wir weiter: was kann die Ursache davon sein, dass M gewollt wird. Hier reisst uns jeder causale Faden ab, wenn wir nicht zu der ganz einfachen und natürlichen Annahme greifen: das Wollen von Z. Dass Z nicht als reale Existenz, sondern nur idealiter, d.h. als Vorstellung den Vorgang beeinflussen kann, versteht sich von selbst nach dem Satze, dass die Ursache früher als die Wirkung sein muss. Dass aber Z-wollen ein hinreichendes Motiv für M-wollen ist, ist ebenfalls ein selbstverständlicher Satz, denn wer die Wirkung vollbringen will, muss auch die Ursache vollbringen wollen. Freilich haben wir an dieser Annahme nur dann eine eigentliche Erklärung, wenn uns das Z-wollen begreiflicher ist, als das M-wollen an sich ist. Das Z-wollen muss also entweder in der Verwirklichung von selbst sein genügendes Motiv haben, oder an einem Wollen von Z1, welches Z1 als Wirkung auf Z folgt; bei diesem wiederholt sich dann dieselbe Betrachtung. Je evidenter das letzte Motiv ist, bei dem wir stehen bleiben, um so wahrscheinlicher wird es, dass das Z-wollen Ursache des M-wollens sei. – Dass dies in der That der Gang unserer Betrachtung den Naturzwecken gegenüber sei, ist leicht zu sehen. Wir haben z.B. gesehen, der Vogel brütet deshalb, weil er brüten will. Mit diesem dürftigen Resultat müssen wir uns entweder begnügen, und auf alle Erklärung verzichten, oder wir müssen fragen, warum wird das Brüten gewollt? Antwort : weil die Entwickelung und das Auskriechen des jungen Vogels gewollt wird. Hier sind wir in demselben Falle; wir fragen also weiter: warum wird die Entwickelung des jungen Vogels gewollt? Antwort: weil die Fortpflanzung gewollt wird; diese, weil das längere Bestehen der Gattung trotz des kurzen Lebens der Individuen gewollt wird, und hiermit haben wir ein Motiv, das uns vorläufig befriedigen kann. Wir werden demnach zu der Annahme berechtigt sein, dass das Wollen der Entwickelung des jungen Vogels, die (gleichviel, ob directe oder indirecte) Ursache zum Wollen des Bebrütens ist, d.h. dass ersteres durch das Mittel des Bebrütens bezweckt sei. (Hier handelt es sich nicht darum, ob dieser Zweck dem Vogel bewusst ist oder nicht, obwohl dies bei einem einsam erzogenen jungen Vogel unmöglich angenommen werden kann, denn woher sollte er die bewusste Kenntniss der Wirkung des Bebrütens erhalten haben?) Freilich bleibt immer noch die Möglichkeit übrig, dass eine geistige Ursache dem Vorgang M zu Grunde liege, ohne[44] dass dieselbe durch das Wollen von Z motivirt sei, mithin wird die Wahrscheinlichkeit, dass Z bezweckt ist, ein Product sein aus der

Wahrscheinlichkeit, dass M eine geistige Ursache habe (1 – 1/x), und aus der, dass diese geistige Ursache das Z wollen zur Ursache habe 1/y; das Product (1 – 1/x)·(1/y) muss aber natürlich kleiner sein, als jeder der Factoren, da jede Wahrscheinlichkeit kleiner als 1 ist. Auch hier kann die Wahrscheinlichkeit erheblich vergrössert werden, wenn man die einzelnen Bedingungen (P1, P2, P3, P4) betrachtet, aus denen M sich gewöhnlich zusammensetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Z durch P1 bezweckt sei, ist nach obigem (1 – 1/p1)·(1/q1) wenn 1/q1, die Wahrscheinlichkeit ist, dass die geistige Ursache das Z-wollen zur Ursache hat; demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass P nicht auf Z abzwecke = 1 – (1 – 1/p1)·(1/q1); folglich ist die Wahrscheinlichkeit, dass weder P1, noch P2, noch P3, noch P4, Z zum Zweck habe, d.h. dass Z auf keine Weise durch M bezweckt sei = dem Product der einzelnen Wahrscheinlichkeiten = (1-(1-1/p1)·(1/q1)) · (1-(1-1/p2)·(1/q2)) · etc., oder = Π[i=1..n](1-(1-1/pi)·(1/qi)), folglich ist die Wahrscheinlichkeit, dass M mit irgend einem seiner Theile Z bezwecke, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass Z überhaupt Zweck von M ist, gleich dem Supplement dieser Grösse zu 1, = 1 – Π[i=1..n](1-(1-1/pi)·(1/qi)); 1/p1, 1/p2 etc. sind echte Brüche, ebenso 1/q1, 1/q2 etc. folglich auch 1 – 1/p1, und (1-1/p1)·(1/q1), und 1 – (1 – 1/p1)·(1/q1) und alle entsprechenden, folglich auch ihr Product Π[i=1..n](1-(1-1/pi)·(1/qi)); daraus folgt, dass dies Product um so kleiner wird, je grösser die Anzahl n wird; denn wenn n um 1 wächst, so ist der neu hinzukommende Factor 1 – (1-1/p[n+1])·(1/q[n+1]); dieser Factor ist ebenso wie das Product ein echter Bruch, also muss das Product aus beiden ein echter Bruch sein, der kleiner ist, als jeder von beiden Factoren, q. e. d. – Daraus nun, dass Π[i=1..n] mit wachsendem n kleiner wird, folgt,[45] dass 1 – Π[i=1..n] mit wachsendem n grösser wird; also wächst auch diese Wahrscheinlichkeit mit der Anzahl der Bedingungen, aus denen M sich zusammensetzt. Es sei (1-1/p1)·(1/q1), (1-1/p2)·(1/q2) etc. im Durchschnitt = 1/4 d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass jede einzelne der Bedingungen von Z dieses bezwecke, sei im Durchschnitt = 1/4, also schon sehr unwahrscheinlich. Dann ist 1 – (1 – 1/p)·(1/q) durchschnittlich = 3/4, dies bloss zur vierten Potenz giebt 81/256, also 1-(1-(1-1/p)·(1/q))4 = 175/256 = über 2/3; d.h. es resultirt im Ganzen schon eine recht hübsche Wahrscheinlichkeit, denn man gewinnt noch, wenn man 2 gegen 1 auf das Bestehen des Zweckes wettet. Die Anwendung auf das Beispiel vom Sehen liegt auf der Hand.

Wir haben hieraus gelernt, dass ganz besonders solche Wirkungen mit Sicherheit als Zwecke erkannt werden können, welche einen grösseren Complex von Ursachen zu ihrem Zustandekommen brauchen, deren jede eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, Mittel zu diesem Zweck zu sein. Es ist daher kein Wunder, dass gerade die allgemeinsten Naturerscheinungen von jeher die ungetheilteste Anerkennung als Zweck gefunden haben. Z.B. die Existenz und der Bestand der organischen Natur als Zweck ihrer eigenen Einrichtungen, sowie derer der unorganischen Natur. Hier wirken geradezu eine unendliche Menge Ursachen zusammen, um diese Gesammtwirkung, das Bestehen der Organismen, zu sichern. Soweit diese Ursachen in den Organismen selbst liegen, theilen sie sich in solche, die die Erhaltung des Individuums, und solche, die die Erhaltung der Gattung herbeiführen. Auch diese beiden Puncte sind wohl selten als Naturzwecke verkannt worden. Wenn wir nun einen solchen mit möglichster Gewissheit erkannten Zweck Z nennen, so wissen wir, dass keine seiner vielen Ursachen fehlen darf, wenn er erreicht werden soll, also auch z.B. M nicht. Da ich nun weiss, dass Z und M beide vor ihrer realen Existenz gewollt und vorgestellt waren, und ich sehe, dass zum Zustandekommen von M unter andern die äussere Ursache M1 erforderlich ist, so er hält die Annahme, dass auch M1 vor seiner realen Existenz gewollt und vorgestellt war, durch diesen Rückschluss eine gewisse Wahrscheinlichkeit.[46] Mag nämlich M durch unmittelbare Einwirkung einer geistigen Ursache verwirklicht sein, oder mittelbar, indem es aus materiellen Ursachen folgt, deren einige oder mehrere geistig verursacht sind, in beiden Fällen kann M1 vor seiner realen Existenz als Mittel für den Zweck M gewollt und vorgestellt sein. Im letzteren Falle ist dies ohne weiteres klar, aber auch im ersteren Falle schliesst die unmittelbare Einwirkung einer geistigen Ursache bei der Verwirklichung von M nicht aus, dass auch die materiellen Ursachen von M, also auch M1, zum grösseren oder kleineren Theil wieder aus geistigen Ursachen entsprungen sind, die M und Z bezweckten; dies ist sogar in der organischen Natur der normale Sachverhalt. Mithin resultirt aus diesem Rückschluss jedenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass auch M1 bezweckt worden sei, und wenn dieselbe auch an sich nicht gross sein mag, so ist sie doch immerhin eine nicht zu vernachlässigende Vermehrung der direct gewonnenen Wahrscheinlichkeitsgrösse, da diese Unterstützung nicht nur allen folgenden Stufen zu Gute kommt, sondern sich bei einer jeden wiederholt.

Man sieht nach diesen Betrachtungen, dass die Wege, auf welchen man Zwecke in der Natur erkennt, sich mannigfach combiniren. Es kann von Benutzung solcher Rechnungen in Wirklichkeit freilich keine Rede sein, aber sie dienen dazu, die Principien aufzuklären, nach welchen sich der logische Process über diesen Gegenstand mehr oder minder unbewusst in jedem vollzieht, der hierüber richtig nachdenkt, und nicht von erhabenen Systemstandpuncten von vornherein abspricht. Die in diesem Capitel angeführten Beispiele sollen nicht etwa zum Beweis der Wahrheit der Teleologie dienen, sondern nur zur Erläuterung und Veranschaulichung der abstracten Darlegungen, welche ebenfalls sicherlich keinen Gegner zu der Annahme von Naturzwecken bekehren werden, denn dies können nur Beispiele in Masse; aber sie werden vielleicht manchen, der über die Annahme von Naturzwecken weit erhaben zu sein glaubte, vermögen, Beispiele darauf hin genauer und unbefangener zu erwägen; und in diesem Sinne eine Vorbereitung für den Abschnitt A. der Untersuchungen zu schaffen, war auch der alleinige Zweck dieses Capitels.[47]

6

Man hat sich hierbei stets gegenwärtig zu halten, dass es für einen Allwissenden in den Ereignissen überhaupt keine Wahrscheinlichkeit, sondern blosse Nothwendigkeit giebt, und dass nur unsre Unwissenheit die Ungewissheit ermöglicht, welche die Bedingung jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung ist. Nur wenn unsre Unwissenheit relativ all zu gross wird im Verhältniss zu dem Wissen, das wir zum Rechnungsansatz verwerthen, nur dann wird der wahrscheinliche Fehler, den jeder Wahrscheinlichkeitscoëfficient an sich hat, so gross, dass er den Werth desselben illusorisch macht. Andernfalls wenn die wahrscheinlichen Fehler im Ansatz sich in bescheidenen Grenzen halten, wird der wahrscheinliche Fehler im Resultat in unsern Exempeln unerheblich klein.

7

Die wirkliche Unabhängigkeit der zusammenwirkenden Bedingungen von einander in einem bestimmten gegebenen Falle zu constatiren, kann oft sehr schwer und eine Hauptquelle des Irrthums sein; diese materielle Schwierigkeit in der praktischen Anwendung geht uns aber hier nichts an, wo es sich nur am die Feststellung der formalen Seite des zweckerkennenden Denkprocesses handelt.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 1, Leipzig 10[o.J.], S. 36-49.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1-4

Schwarzwälder Dorfgeschichten. Band 1-4

Die zentralen Themen des zwischen 1842 und 1861 entstandenen Erzählzyklus sind auf anschauliche Konstellationen zugespitze Konflikte in der idyllischen Harmonie des einfachen Landlebens. Auerbachs Dorfgeschichten sind schon bei Erscheinen ein großer Erfolg und finden zahlreiche Nachahmungen.

640 Seiten, 29.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon