1. Das Bewusstwerden der Vorstellung

[29] Das Bewusstsein ist nicht ein ruhender Zustand, sondern ein Process, ein stetiges Bewusstwerden. Dass dieser geistige Process, dem das Bewusstsein seine Entstehung verdankt, nicht unmittelbar vom Bewusstsein des Beobachters erfasst werden kann, versteht sich von selbst, denn das, was erst das Bewusstsein erzeugt, muss natürlich hinter dem Bewusstsein liegen, und der bewussten Selbstbeobachtung unzugänglich sein. Wir können also nur auf indirectem Wege zum Ziele zu gelangen hoffen.

Die erste Bedingung ist, dass wir den Begriff des Bewusstseins schärfer abgrenzen, als es bisher nöthig war. – Zunächst ist es vom Selbstbewusstsein zu unterscheiden. Mein Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein meiner selbst, d. i. das Bewusstsein des Subjectes meiner Geistesthätigkeit; unter Subject meiner Geistesthätigkeit verstehe ich aber denjenigen Theil der vollständigen Ursache meiner Geistesthätigkeit, welcher nicht äusserlich ist, also die innere Ursache derselben. Das Selbstbewusstsein ist also nur ein specieller Fall der Anwendung des Bewusstseins auf ein bestimmtes Object, nämlich auf die supponirte innere Ursache der Geistesthätigkeit, welche mit dem Namen Subject bezeichnet wird; nicht das thätige Subject selbst wird im Selbstbewusstseinsacte zum Bewusstseinsinhalt oder Bewusstseinsobject, sondern nur die vermittelst der Kategorie der Causalität aus der Thätigkeit des Subjects rückwärts erschlossene Vorstellung des Subjects wird zum Object des Bewusstseins. Das thätige Subject selbst bleibt dem Bewusstsein ebenso sehr directunerreichbar wie das äussere Ding an sich, dem es als inneres Ding an sich correspondirt; jeder Glaube an eine unmittelbare Selbsterfassung des Ich im Selbstbewusstseinsacte beruht auf der nämlichen Selbsttäuschung wie der naiv-realistische Glaube an unmittelbare[29] Bewusstseinserfassung des unabhängig vom Bewusstsein seienden Dinges an sich. Das Bewusstsein als solches ist mithin seinem Begriffe nach frei von der bewussten Beziehung auf das Subject, indem es an und für sich nur auf das Object (d.h. nicht auf das äussere Correlat des Vorstellungsobjects oder das Ding an sich, sondern bloss auf das aus dem Vorstellungsprocess resultirende und als Bewusstseinsinhalt sich darstellende Vorstellungsobject) geht, und wird nur dadurch Selbstbewusstsein, dass ihm zufällig die Vorstellung des Subjects zum Object wird. Hieraus folgt, dass kein Selbstbewusstsein ohne Bewusstsein, wohl aber Bewusstsein ohne Selbstbewusstsein gedacht werden kann. Nur für die bewusste Reflexion, wie sie im Kopfe des in Gedanken ausserhalb des Processes stehenden und denselben objectiv betrachtenden Philosophen stattfindet, nicht aber für das Subject des Processes selbst muss Object und Subject sich gleichzeitig und in gleichem Verhältnisse auslösen. Denn ihrer begrifflichen Natur nach fordern sich zwar Subject und Object als Correlativa, aber diese begriffliche Natur kommt eben nur dem Philosophen, nicht dem unreflectirten Empfinden des natürlichen Menschen zum Bewusstsein, und daher bleibt dem letzteren bei der intuitiven Auffassung des concreten Objects die Beziehung der begrifflichen Natur desselben auf den Begriff des Subjects und dieser selbst zunächst unbewusst. (Näheres siehe unten S. 56-58). – Noch weniger als mit dem Selbstbewusstsein hat das Bewusstsein mit dem Begriffe der Persönlichkeit oder der Identität aller Subjecte meiner verschiedenen Geistesthätigkeiten zu thun, ein Begriff, welcher meistens in das Wort Selbstbewusstsein mit einbegriffen wird, wie wir der Einfachheit halber künftig auch thun werden.

Was ist nun aber das Bewusstsein? Besteht es bloss in der Form der Sinnlichkeit, so dass beide Begriffe identisch sind? Nein, denn auch das Unbewusste muss die Form der Sinnlichkeit gedacht haben, sonst hätte es dieselbe nicht so zweckmässig schaffen können;A3 wir könnten uns aber auch ein Bewusstsein mit ganz anderen Formen als möglich denken, wenn eine Welt anders geschaffen wäre, oder wenn neben und jenseit unserer Raum-Zeit-Welt noch andere Welten in anderen Daseins- und Bewusstseinsformen existiren, was keinen Widerspruch in sich hat, da diese (meinetwegen beliebig vielen) Welten einander gar nicht stören oder berühren könnten, und das Eine von allen diesen Formen freie Unbewusste für alle dasselbe wäre. Die Form der Sinnlichkeit kann also für das Bewusstsein[30] nur als etwas Hinzukommendes, Accidentielles, nicht als etwas Wesentliches, Essentielles betrachtet werden. – Oder soll vielleicht das Bewusstsein in der Erinnerung bestehen? Die Erinnerung ist allerdings kein schlechtes Kriterien des Bewusstseins, denn je lebhafter das Bewusstsein ist, desto stärker müssen die Gehirnschwingungen sein, und je stärker diese sind, einen desto stärkeren bleibenden Eindruck im Gehirn müssen sie hinterlassen, d.h. um so leichter, und bei gleicher Anregung um so stärker, wird die Erinnerung. Man übersieht aber leicht, dass die Erinnerung nur eine mittelbare Folge aus dem Wesen des Bewusstseins ist, daher kann sie unmöglich sein Wesen selber ausmachen. – Ebenso wenig kann das Wesen des Bewusstseins in der Möglichkeit des Vergleichens von Vorstellungen bestehen, denn diese ist wieder nur eine Folge der Form der Sinnlichkeit, besonders der Zeit, ausserdem aber kann das Bewusstsein in grösster Schärfe vorhanden sein, wenn nur eine einzige Vorstellung ohne jedes Vergleichungsobject den Geist erfüllt.

Wir haben nach alledem nur Einen sicheren Anhalt, der uns auf den rechten Weg leiten muss, nämlich das Resultat des vorigen Capitels: die Gehirnschwingungen, allgemeiner die materielle Bewegung, als conditio sine qua non des Bewusstseins. Auch wenn wir beliebig viele Welten mit andern Formen als Raum und Zeit setzen, so muss doch, wenn der Parallelismus von Sein und Denken beibehalten ist, etwas der Materie entsprechendes in ihnen vorhanden sein, und eine der Bewegung entsprechende Thätigkeit dieses muss alsdann ebenfalls Bedingung des Bewusstseins sein. – Setzen wir somit das Wesen des Bewusstseins als in seiner materiellen Entstehung begründet, und erinnern wir uns zugleich, dass die unbewusste Geistesthätigkeit nothwendig als etwas Immaterielles angesehen werden muss, so bieten sich bei der näheren Betrachtung zwei Fälle dar: entweder wir halten »Wille und Vorstellung« als das unbewusster und bewusster Vorstellung Gemeinschaftliche fest, setzen die Form des Unbewussten als das Ursprüngliche, die des Bewusstseins aber als ein Product des unbewussten Geistes und der materiellen Einwirkung auf denselben; oder wir vertheilen das ganze Gebiet geistiger Thätigkeit unter Materialismus und Spiritualismus so, dass ersterem der bewusste, letzterem der unbewusste Geist zufällt; d.h. wir nehmen an, dass zwar der unbewusste Geist ein von der Materie unabhängiges selbstständiges Dasein habe, der bewusste Geist aber ein ausschliessliches Product materieller Vorgänge ohne jede Mitwirkung unbewussten Geistes sei. Die Alternative ist nach[31] unseren vorangegangenen Untersuchungen über die Mitwirkung des Unbewussten bei Entstehung all und jeden bewussten Geistesprocesses nicht schwer zu entscheiden; schon die Wesensgleichheit der bewussten und unbewussten Geistesthätigkeit lässt einen grundverschiedenen Ursprung beider als undenkbar erscheinen; mindestens würde diese Zerschneidung des geistigen Gebietes und die Vertheilung ihrer Trennstücke an verschiedene philosophische Grundanschauungen noch willkürlicher sein, als die Schopenhauer's in Bezug auf Wille und Intellect. Dazu kommt, dass wir im Cap. V die Materie selbst in Wille und Vorstellung auflösen und so die Wesensgleichheit von Geist und Materie darthun werden, dass uns also der Materialismus doch keinen endgültigen Halt gewähren könnte. Wir müssen also die erstere der beiden Annahmen zu der unsrigen machen.

Nun leuchtet aber sofort ein, dass wir wiederum das Wesen des Bewusstseins noch nicht ergriffen haben, denn wir kennen erst seine Factoren, auf der einen Seite den Geist in seinem ursprünglichen unbewussten Zustande, auf der anderen Seite die Bewegung der Materie, die auf ihn einwirkt. Jedenfalls kann die Entstehung des Bewusstseins nur in der Art und Weise gegeben sein, wie das Vorstellen zu seinem Gegenstande kommt. Von der Materie weiss das Bewusstsein nichts, als muss der bewusstseinerzeugende Process im Geiste selber liegen, wenn auch die Materie den ersten Anstoss dazu giebt. Die materielle Bewegung bestimmt den Inhalt der Vorstellung, aber in diesem Inhalte liegt die Eigenschaft des Bewusstseins nicht, denn derselbe Inhalt kann ja, abgesehen von der Form der Sinnlichkeit, auch unbewusst gedacht werden. Wenn nun aber das Bewusstsein weder im Inhalte, noch auch, wie wir früher gesehen, in der sinnlichen Form der Vorstellung liegen kann, so kann es überhaupt nicht in der Vorstellung als solchen liegen, sondern muss ein Accidens sein, das von anderswoher zur Vorstellung hinzukommt.

Dies ist das erste wichtige Resultat unserer Untersuchung, das zwar auf den ersten Anblick etwas den gewöhnlichen Anschauungen Widerstrebendes zu haben scheinen mag, aber bei schärferer Betrachtung bald seine Richtigkeit jedem Beschauer zeigen muss, und sogleich nähere Beleuchtung erhalten soll. Der gewöhnliche Irrthum schreibt sich daher, dass man an das Bewusstsein meistens als an etwas nur der Vorstellung Inhärirendes denkt, indem man das Bewusstwerden von Lust und Unlust vergisst; daher nimmt man[32] dasselbe ohne Untersuchung auf Treu und Glauben als etwas der Vorstellung Immanentes, besonders so lange man die unbewusste Vorstellung nicht genauer kennt, und kommt mithin gar nicht zu der Frage, wem denn die Vorstellung das Accidens des Bewusstseins verdankt, wer ihr gleichsam dies Prädicat beilegt, wo man denn bald merken würde, dass sie selber es sich nicht geben kann. Wenn aber dennoch der bewusstseinerzeugende Process trotz seines materiellen Anstosses schlechterdings geistiger Natur sein muss, so bleibt für jenes nichts übrig, als der Wille.

Wir haben im Cap. I dieses Abschnittes gesehen, wie Wille und Vorstellung im Unbewussten zu untrennbarer Einheit verbunden sind, und werden ferner in den letzten Capiteln sehen, wie das Heil der Welt auf der Emancipation des Intellectes vom Willen beruht, deren Möglichkeit im Bewusstsein gegeben ist und wie der ganze Weltprocess einzig auf dieses Ziel hinarbeitet. Das Bewusstsein einerseits und die Emancipation der Vorstellung vom Willen andererseits haben wir also bereits als im engsten Zusammenhange stehend kennen gelernt; wir brauchen nur einen Schritt weiter zu gehen und die Identität beider auszusprechen, so haben wir das Wort des Räthsels übereinstimmend mit dem soeben erhaltenen Resultate gefunden. Das Wesen des Bewusstseins der Vorstellung ist die Losreissung derselben von ihrem Mutterboden, dem Willen zu ihrer Verwirklichung1, und die Opposition des Willens gegen diese Emancipation. Vorhin hatten wir gefunden, dass das Bewusstsein ein Prädicat sein muss, welches der Wille der Vorstellung ertheilt, jetzt können wir auch den Inhalt dieses Prädicates angeben, es ist die Stupefaction des Willens über die von ihm nicht gewollte und doch empfindlich vorhandene Existenz der Vorstellung.[33] Die Vorstellung hat nämlich, wie wir gesehen haben, in sich selber kein Interesse an ihrer Existenz, kein Streben nach dem Sein, sie wird daher, so lange es kein Bewusstsein giebt, immer nur durch den Willen hervorgerufen, also kann der Geist vor der Entstehung des Bewusstseins seiner Natur nach keine anderen Vorstellungen haben, als die, welche, durch den Willen zum Sein gerufen, den Inhalt des Willens bilden. Da greift plötzlich die organisirte Materie in diesen Frieden des Unbewussten mit sich selber ein, und zwingt dem erstaunten Individualgeist in der nach gesetzmässiger Nothwendigkeit eintretenden Reaction der Empfindung eine Vorstellung auf, die ihm wie vom Himmel fällt, denn er findet in sich keinen Willen zu dieser Vorstellung; zum ersten Male ist ihm »der Inhalt der Anschauung von Aussen gegeben.« Die grosse Revolution ist geschehen, der erste Schritt zur Welterlösung gethan, die Vorstellung ist von dem Willen losgerissen, um ihm in Zukunft als selbstständige Macht gegenüber zu treten, um ihn sich zu unterwerfen, dessen Sclave sie bisher war. Dieses Stutzen des Willens über die Auflehnung gegen seine bisher anerkannte Herrschaft, dieses Aufsehen, den der Eindringling von Vorstellung im Unbewussten macht, dies ist das Bewusstsein.

Um weniger bildlich zu sprechen, denke ich mir den Vorgang folgendermaassen: Es entsteht die von aussen imprägnirte Vorstellung. Der unbewusste Individualgeist stutzt über das Ungewohnte, dass eine Vorstellung existirt, ohne gewollt zu sein. Dieses Stutzen kann nicht von dem Willen allein ausgehen, denn der Wille ist ja das absolut Verstandlose, also auch zu blind zum Wundern und Stutzen; es kann aber auch nicht von der Vorstellung allein ausgehen, denn die von aussen imprägnirte Vorstellung ist wie sie ist, und hat keinen Grund sich über sich selber zu wundern, alles Andere von Vorstellung aber ausser dieser Einen ist ja, wie wir wissen, im Unbewussten in unzertrennlicher Einheit mit dem Willen verknüpft. Es kann folglich erstens das Stutzen nur von beiden Seiten des Unbewussten, Wille und Vorstellung im Verein, d.h. von einem erfüllten Willen, oder einer gewollten Vorstellung, vollzogen werden, und kann zweitens das, was an dem Stutzen Vorstellung ist, nur durch einen Willen existiren, dessen Inhalt es bildet. Mithin ist die Sache nur so zu denken, dass die von aussen imprägnirte Vorstellung als Motiv auf den Willen wirkt, und zwar einen solchen Willen hervorruft, dessen Inhalt es ist, sie zu negiren; denn würde der nun erregte Wille sich affirmativ zu ihr verhalten, so gäbe es wieder keine[34] Opposition und kein Bewusstsein; der erregte Wille muss sich also negirend zu ihr verhalten, und das Stutzen ist der Entstehungsmoment dieses negirenden Willens, das plötzliche, momentane Eintreten der Opposition des Willens.A4 Weiter aber bedeutet das Wort Stutzen auch in der gewöhnlichen Sprache nichts, nur dass der Process in unserer menschlichen Erfahrung eine zwischen bewussten Momenten plötzlich eintretende Opposition ist, hier aber zwischen unbewussten Momenten stattfindet.

Es ist endlich zu erwähnen, dass der opponirende Wille der von aussen imprägnirten Vorstellung gegenüber zu schwach ist, um seine negirende Intention durchzusetzen, er ist also ein ohnmächtiger Wille, dem Befriedigung versagt bleibt, der folglich mit Unlust verküpft ist. Also jeder Process des Bewusstwerdens ist eo ipso mit einer gewissen Unlust verknüpft, es ist dies gleichsam der Aerger des unbewussten Individualgeistes über den Eindringling von Vorstellung, den es dulden muss und nicht beseitigen kann; es ist die bittere Arznei, ohne welche es keine Genesung giebt, freilich eine Arznei, die jeden Moment in solchen Minimaldosen verschluckt wird, dass ihre Bitterkeit der Selbstwahrnehmung entgeht. –

Es scheint zunächst bei dieser Darlegung die Schwierigkeit obzuwalten, wie es möglich sei, dass die Materie in Gestalt der schwingenden Hirnmolecule im Stande sein solle, in den Frieden des unbewussten Geistes mit sich selber einzugreifen, und zwar in dem doppelten Sinne, wie sie als Materie den Geist zu afficiren vermöge, und wie der Geist überhaupt mit irgend etwas Aeusserem in Communication zu treten im Stande sei. Diese Schwierigkeit betrifft also wesentlich das alte Problem der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, dem wir uns hier weder wie Kant und Fichte durch Verwandlung des Leibes in einen subjectivistischen Schein des Geistes, noch wie der Materialismus durch Verwandlung des Geistes in einen äusserlichen, aus objectiven materiellen Processen resultirenden Schein entziehen können, sondern dem wir fest in's Auge sehen müssen, da uns der (unbewusste) Geist und die Materie beide als real gelten. Schon zu Anfang des Cap. A. VII. trat uns dieses Problem entgegen in Bezug auf die Vermittlung, durch welche der Wille sich im Körper, speciell in den Muskelbewegungen, realisirt; hier ist es die Kehrseite der Frage, vor welcher wir angelangt sind, nämlich wie die geistige Vorstellung durch den Organismus bedingt sein kann. Dort reducirte sich die frage darauf, wie der Wille auf die Bewegungen der centralen Nervenmolecule influiren kann, hier darauf,[35] wie die Bewegungen der centralen Nervenmolecule auf die Vorstellung influiren können. Dort mussten wir die Verwirklichung des bewussten Willens durch einen unbewussten vermittelt annehmen (Cap. A. II), hier müssen wir die Entstehung der bewussten Vorstellung als durch unbewusste Geistesreactionen herbeigeführt betrachten. Dort war der unmittelbar auf die Molecule influirende (unbewusste) Wille mit unbewusster Vorstellung verbunden zu denken, hier müssen wir behufs zu Standekommen der Empfindung einen unbewussten Willen als wesentlichen Factor betheiligt voraussetzen. Die unmittelbare Wechselwirkung besteht also in beiden Fällen zwischen gewissen Bewegungsformen centraler Nervenmolecule einerseits und unbewusst-geistigen Functionen andrerseits, bei denen, wie wir aus Cap. A. IV. ganz allgemein wissen, stets eine Verbindung von unbewusstem Willen und unbewusster Vorstellung Statt hat.

Wären nun Materie und unbewusster Geist wirklich heterogene Wesensgebiete, wie es die seit Descartes in dem Bewusstsein der europäischen Bildung herrschende dualistische Ansicht annimmt, so wäre in der That nicht einzusehn, wie der bei jenen Processen vorausgesetzte influxus physicus möglich sein sollte. Glücklicher Weise wird sich aber im Cap. C. V. herausstellen, dass die Materie selbst ihrem Wesen nach gar nichts anderes ist als unbewusster Geist, dessen Vorstellungen sich nur auf räumliche Anziehung und Abstossung von gesetzmässig wechselnder Intensität beschränken, und dessen Willensäusserungen in der Realisirung dieses beschränkten Vorstellungsgebiets bestehen. Anticipiren wir an dieser Stelle diese später zu beweisende Identität des Wesens, so begreift sich sofort, dass die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele nicht mehr wie früher an der Unüberbrückbarkeit der zwischen heterogenen Substanzen bestehenden Kluft scheitern kann. Der psychische Wille kann in den Vorstellungen, die seinen Inhalt bilden, ebensowohl räumliche Beziehungen und Veränderung bestehender räumlicher Beziehungen in sich schliessen, als es der Atomwille eines Hirnatoms kann; beide können demnach ganz ebensogut mit einander collidiren und ihre Collision durch einen Compromiss abschliessen, wie es zwei auf einander wirkende Atomwillen thun; in beiden Fällen wird der schwächere Wille bei dem Compromiss um so viel mehr nachgeben müssen, als er schwächer ist als sein Gegner. Wo z.B. der Wille zu einer speciellen Körperbewegung besteht, wird derselbe den einzelnen Hirnatomwillen, die für sich nur ihren eignen[36] mechanischen Gesetzen folgen wollen, an Intensität meistens erheblich überlegen sein, und sich deshalb in der Regel hinlänglich durchsetzen; wo hingegen ein solcher Specialwille nicht excitirt und concentrirt ist, da werden die durch fortgepflanzten Reiz von den Sinnesorganen her excitirten Hirnatomwillen auf den auf den Organismus gerichteten psychischen Willen einen relativ erheblichen Effect hervorbringen, d.h. er wird in dem aus diesem Willensconflict hervorgehenden Compromiss nun auch seinerseits einen relativ erheblichen Antheil am Nachgeben und Accommodiren haben, nur dass sich dieser Antheil auf seiner Seite nicht wie auf Seiten der Materie räumlich als objective Erscheinung darstellt (was bloss von dem später in Cap. C. XI. zu besprechenden Unterschiede herrührt, dass die räumlichen Wirkungsrichtungen des Willens sich ausschliesslich bei den Atomwillen rückwärts verlängert in Einem Puncte schneiden, und dadurch den Schein einer Localisirung des Sitzes der Kraft hervorrufen).

Wie die Materie als objective reale (d.h. von jedem sie anschauenden Intellect unabhängige) Erscheinung gar nicht zu Stande kommen könnte, ohne dass zwei und mehr Atomwillen bei ihren Willensäusserungen sich kreuzten und in Conflict geriethen, ebenso wird auch die primitive bewusste Vorstellung der Empfindung als subjective ideale Erscheinung erst durch eben denselben Conflict möglich. Ein einsam und allein in der Welt existirender Atomwille hätte gar keine objective Existenz, weil ihm die Möglichkeit sich zu objectiviren, d.h. sein Wesen zur äusseren Erscheinung zu bringen, fehlte; ein einsam und allein in der Welt existirender leibfreier Individualgeist (per impossibile angenommen) würde, auch wenn er noch soviel unbewussten Willen und Vorstellung entfalten sollte, doch niemals zur subjectiven Erscheinung des Bewusstseins gelangen können. Eine beliebige Menge von Atomwillen oder von Individualgeistern, die aber von einander isolirt und unfähig wären, auf einander zu stossen und mit ihrem Wollen zu collidiren, wären in ganz derselben Lage wie ein allein und einsam existirender. Erst indem der hinausstrahlende Wille einen Widerstand findet, an dem er sich staut oder bricht, kann er zur objectiven Erscheinung des Daseins, zur subjectiven Erscheinung des Bewusstseins führen; einen solchen Widerstand kann er aber nur an seines Gleichen finden, an einem andern Willen, mit dem ihm eine gewisse Wirkens-Sphäre gemeinsam ist, während dessen Wirkens-Richtung und Ziel dem seinigen in gewissem Sinne entgegengesetzt[37] ist. Die gemeinsame Wirkens-Sphäre ermöglicht das berührende Zusammentreffen, die entgegengesetzte Wirkens-Richtung und Ziel bedingen die Collision beim Zusammentreffen, welche in dem durch beider Inhalt bestimmten Compromiss ihre Lösung findet. Das Zurückweichen jedes der collidiren den Willen ist nun aber kein von ihm gewelltes mehr, sondern ein durch den andern Willen, der für ihn zunächst nur Widerstand ist, erzwungenes, aufgenöthigtes, und der Compromiss als Resultat entspricht nicht dem Ziel des Wollens auf jeder Seite, so dass ein Contrast zwischen dem Gewollten und Erreichten entsteht, ebenso wie zwischen der gleichsam centrifugalen Function des Wollens selbst und dem centripetalen Rückstoss bei der Collision. Das sich Brechen des Willens am Widerstande eines fremden ihn kreuzenden Willens, oder der centripetale Rückstoss ist nun die Empfindung, und zwar als Nichtbefriedigung des Willens Unlustempfindung; als Nichtbefriedigung eines bestimmten, d.h. mit bestimmten Vorstellungsinhalt erfüllten Willens ist auch die Empfindung qualitativ bestimmte, d.h. durch einen (hier unbewussten) Vorstellungsinhalt charakterisirte Empfindung (vgl. Cap. B. III.); als qualitativ bestimmte Empfindung aber ist sie Element der bewussten Vorstellung, und insofern kann man sie selbst schon als elementare bewusste Vorstellung bezeichnen. Das Prädicat des Bewusstseins kommt eben durch den aufgezeigten Contrast in die Empfindung hinein, und dieser Widerspruch zwischen Wollen und Impression des Widerstandes entspricht dem, was ich oben mit einem aus dem bewussten Geistesleben auf das unbewusste übertragenen Ausdruck das Stutzen des Willens über den nicht selbstgewollten Eindringling von Vorstellung nannte. Vielleicht trägt der hier eingeschlagene allgemeinere Weg der Behandlung zum Verständniss der Sache bei und lässt deutlicher erkennen, dass die dort gebrauchten Bilder in der That nur als Bilder gebraucht waren.A5

Die Schwierigkeit, welche uns zu dieser Abschweifung veranlasste, ist aber durch das Bisherige noch nicht erschöpft; es bleibt auch trotz der zugestandenen Wesensidentität von Geist und Materie noch immer die zweite Frage offen, wie überhaupt der psychische Individualwillen mit irgend einem andern Willen, also thatsächlich mit den Atomwillen des Hirns in Berührung kommen könne, da er doch z.B. nicht im Stande ist, sich mit anderen psychischen Individualwillen direct zu berühren und zu collidiren. Wir müssen auch hier dem künftigen Gang der Untersuchung vorgreifen und anerkennen,[38] dass die Möglichkeit einer solchen Berührung und Collision nicht ersichtlich wäre, wenn die Individualgeister einerseits und die Atome der Materie andrerseits getrennte Substanzen wären; sie wird nur durch die Annahme begreiflich, dass dieselben bloss verschiedene Functionen eines und desselben Wesens sind, und zwar eines unbewussten Wesens, – denn wäre es bewusst, so wäre das gemeinsame Bewusstsein in allen Functionen und es könnte durch den vom gemeinsamen Bewusstsein anticipirten und in ihm gleichsam ausgeglichenen Conflict nicht mehr zu Specialbewusstseinen kommen, während in der Wurzel Eines unbewussten Wesens die getrennten Functionen eben gerade nur das nothwendige gemeinsame Band für die Wechselwirkung, aber doch noch Platz genug zur Etablirung getrennter Bewusstseine gleichsam an ihren gebrochenen Spitzen oder gestauchten peripherischen Enden haben. Nun wird zwar eine Wechselwirkung überhaupt durch die gemeinsame metaphysische Wurzel der Substanz ermöglicht, aber letztere genügt doch noch nicht für sich allein, um das Zusammentreffen gewisser Functionen an deren getrennten peripherischen Enden herbeizuführen. Dazu gehört noch als zweite Bedingung, dass die Vorstellungsinhalte dieser Willen die gemeinsame Sphäre ihrer Berührung ebensowohl wie die entgegengesetzte Strebensrichtung in sich tragen, und diese zweite Bedingung ist eben bei den verschiedenen Individualgeistern unter einander nicht erfüllt, wohl aber bei den Atomwillen unter einander, welche in ihrem Vorstellungsinhalt auch die (bei der Realisirung den Einen objectiven Raumschaffende) Räumlichkeit ihrer Beziehungen enthalten. Diess ist der metaphysische Grund, weshalb die Geister nur durch ihre Leiber communiciren: die Leiber wandeln und wirken in dem Einen objectiven Raum als in ihrer gemeinsamen Sphäre, in der sie collidiren können, die Geister aber haben weder zu diesem allgemeinen Raum der Materie eine directe Beziehung (denn der subjective Bewusstseinsraum ist für jeden Geist ein andrer, unnahbar in sich abgeschlossener), noch besitzen sie eine andere analoge Sphäre des unmittelbaren geistigen Zusammentreffens, wie die Leiber (oder vielmehr deren Atome) sie am Raum besitzen.

Die Bedingungen einer gemeinsamen Sphäre für die Berührung verschiedener Willen sind aber auch zwischen dem Geist und dem mit ihm zusammengehörigen Leibe gegeben. In Cap. C. IX. werden wir nämlich seilen, dass der Individualgeist oder die Seele eines Leibes nichts weiter ist als die Summe der auf diesen leiblichen Organismus[39] gerichteten Functionen des All-Einen Unbewussten. Dieser Organismus, d.h. dieses so und so geordnete Aggregat von Atomen, ist also das ausdrücklich in den unbewussten Vorstellungsinhalt der gesammten Willensfunctionen dieses Individualgeistes eingeschlossene Ziel. Es kann in diesem Individualgeist auch nicht eine einzige Function geben, welche sich nicht unbewusst auf diesen Organismus bezöge, und welche nicht sogar ganz bestimmte Theile dieses Organismus oder ganz bestimmte räumliche Lagenveränderungen solcher Theile in ihren Vorstellungsinhalt einschlösse (z.B. etwa die Erregung gewisser Hirnschwingungen eines metaphysischen Gedankens). Jeder Individualgeist besitzt daher die Möglichkeit, mit den Atomwillen seines Organismus zu collidiren, aber nur mit denen des seinigen, nicht mit denen irgend eines andern, weil nur sein Organismus nach seinen räumlichen Beziehungen in den (unbewussten) Vorstellungsinhalt seiner Functionen eingeschlossen ist, nicht aber irgend ein andrer. Jede Function des All-Einen Unbewussten nämlich, welche sich auf einen andern Organismus bezieht, gehört eben zu der Summe der auf diesen andern Organismus gerichteten Functionen, d.h. zu dessen Seele oder Individualgeist2. – Wir brauchen wohl kaum noch daran zu erinnern, dass die Möglichkeit einer Collision der Willen für beide Arten der Wechselwirkung zwischen Leib und Seele gilt, nicht bloss für diejenige, wo die Seele der überwiegend bestimmende Theil des Compromisses, sondern auch wo sie der überwiegend nachgebende oder empfangende ist, d.h. nicht bloss für den Einfluss des Willens auf den Körper, sondern auch für die Vorstellungserregungen durch Sinnes- und Gehirn-Eindrücke; trifft die Function des Individualgeistes richtig auf die Atomwillen des Gehirns, so müssen selbstverständlich auch umgekehrt die Atomwillen des Gehirns ebenso richtig auf diesen selben Individualgeist treffen.

Nach diesen zum Theil in den Inhalt späterer Kapitel vorgreifenden Erläuterungen dürften unsre Aufstellungen über die Entstehung des Bewusstseins eine erhellende Beleuchtung erhalten haben, und diess möge für das Verlassen des regelrechten Ganges der Untersuchung zur Entschuldigung dienen. Einigermaassen verständliche Andeutungen einer solchen Entstehung des Bewusstseins aus einer Opposition verschiedener Momente im Unbewussten habe ich nur bei Jacob Böhme und Schelling gefunden. Ersterer sagt (von der göttlichen[40] Beschaulichkeit C. I, 8): »Kein Ding ohne Widerwärtigkeit mag ihm selber offenbar werden. Denn so es nichts hat, das ihm widerstehet, so geht's immerdar für sich aus, und gehet nicht wieder in sich ein: So es aber nicht wieder in sich eingehet, als in das, daraus es ist ursprünglich gegangen, so weiss es nichts von seinem Urstande.« – Aehnlich sagt Schelling (Werke I. 3, S. 576): »Soll aber das Absolute sich selbst erscheinen, so muss es seinem Objectiven nach von etwas Anderem, von etwas Fremdartigem abhängig erscheinen. Aber diese Abhängigkeit gehört doch nicht zum Absoluten selbst, sondern bloss zu seiner Erscheinung.« –

Der Gegensatz zwischen Wille und Vorstellung wird noch dadurch erhöht, dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die materielle Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetzmässige Reaction des unbewusst-Psychischen auf diese Einwirkung; es tritt also noch hinzu, dass der unbewusste Individualgeist mit einer Thätigkeit (der Empfindung) antworten muss, welche ihm durch die von einer fremden Willensäusserung auf sein Wollen hervorgebrachte Impression gleichsam peripherisch aufgenöthigt wird. Auf diese Weise entstehen zunächst die einfachen Qualitäten der Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u.s.w., aus deren Beziehungen zu einander sich dann die ganze sinnliche Wahrnehmung aufbaut, aus welcher wieder durch Reproduction der Gehirnschwingungen die Erinnerungen und durch theilweises Fallenlassen des Inhaltes der letzteren die abstracten Begriffe entstehen. In allen Fällen des bewussten Denkens haben wir es mit Gehirnschwingungen zu thun, welche den unbewussten Individualgeist afficiren und zur gesetzmässigen Reaction nöthigen; in allen Fällen sind die sinnlichen Qualitäten die Resultate dieser Reaction und aus diesen Elementen setzt sich die gesammte bewusste Vorstellungswelt zusammen. Wenn nun diese Elemente allemal den Bewusstsein erzeugenden Process erregen, und dadurch bewusst werden so darf es uns nicht Wunder nehmen, dass auch die Combinationen dieser Elemente an dem Bewusstsein Theil haben, wenn gleich die Art der Combination oft durch den Willen selbst herbeigeführt ist.

Hieraus erklärt sich der scheinbare Widerspruch, dass Vorstellungen, die vom Willen hervorgerufen sind, also mit diesem Willen doch nicht in Opposition sind, dennoch bewusstsein können, weil sie eben aus Elementen bestehen, welche durch abgenöthigte Reactionen des Unbewussten zu Vorstellungen geworden sind. Der Wille kann[41] nämlich eine bewusste Vorstellung nur dadurch hervorrufen, dass die betreffende Erinnerung geweckt wird, d.h. dass frühere Hirnschwingungen reproducirt werden; ehe die bewusste Vorstellung da ist, muss sie im unbewussten Willen, freilich in unsinnlicher Form als Inhalt enthalten sein, sonst würde ja der Wille nicht diese Vorstellung zu erregen im Stande sein; als Mittel zu diesem Zweck muss ferner der Angriffspunct im Gehirn unbewusst vorgestellt werden, von wo aus die betreffenden Erinnerungsschwingungen erregt werden können und die Anregung desselben gewollt werden; weiter geht aber auch der unbewusste Wille nicht, denn die Vorstellung in der sinnlichen Form kann er erst als Reaction auf diese Schwingungen hervorbringen; nun treten die Schwingungen ein und die Reaction des Unbewussten geschieht wie immer durch die gesetzmässige Reaction erzwangen, und damit ist auch das Bewusstsein der Vorstellung da. Dasselbe gilt auch von der Mitwirkung des Unbewussten am Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie früher betrachtet ist; es gilt auch dann, wenn die bewusste Vorstellung Inhalt eines Willens wird, der alsdann bewusster Wille heisst, denn die bewusste Vorstellung muss vorher in bewusster Form da sein, ehe der Wille sie in dieser Form erfassen und zu seinem Inhalte machen kann; wenn aber die Vorstellung einmal die bewusste Form besitzt, so verliert sie dieselbe dadurch, dass Wille sich mit ihr vereinigt, nicht wieder, weil ihre Elemente, die sich, so lange sie besteht, fort und fort neu reproduciren müssen, dies stets in bewusster Form thun.A6

A3

S. 30 Z. 9 v. u. Das Unbewusste muss die Form der Sinnlichkeit gedacht haben, ohne dass dieses Denken sich in der Form der Sinnlichkeit vollzogen hat. Es muss die Form der Sinnlichkeit gleichsam von aussen, von ihrer convexen Seite, nicht von innen, von ihrer concaven Seite sehen; d.h. es muss sie bloss als den Complex logischer und ontologischer Bedingungen sehen, welcher aus dem Process des Bewusstwerdens für die Innenansicht des Bewusstseins die innere, concave Seite dieser Form der Sinnlichkeit, und zwar allemal als eine an bestimmtem Inhalt sinnlicher Empfindungsqualitäten haftende, hervorspringen lässt. Von innen bekommt das Unbewusste die Form der Sinnlichkeit nur insofern zu sehen, als es eben zum Subject des Bewusstseins wird (vgl. S. 43 Mitte).

1

Diese Emancipation darf nicht etwa so verstanden werden, als ob die bewusste Vorstellung ausser aller Beziehung zum Willen gleichsam im reinen Aether des Idealen schwebte; diess wird schon durch die vorangegangenen Darlegungen dieses Buches hinreichend widerlegt, und wird sogleich noch schärfer einleuchten, wenn sich ergiebt, dass das vom Willen selbst ausgehende Prädicat des Bewusstseins zugleich Nichtbefriedigung des Willens d.h. Unlustempfindung ist, dass die bewusste Vorstellung aus sinnlichen Elementarempfindungen besteht, und jede solche sinnliche Elementarempfindung zugleich Nichtbefriedigung eines bestimmten Wollens ist. Nur das soll mit der hier ausgesprochenen Emancipation der Vorstellung vom Willen gesagt sein, dass die bewusste Vorstellung im Unterschiede von der nur als Inhalt eines sie realisirenden Willens möglichen unbewussten Vorstellung (vgl. oben S. 13) bestehen kann und besteht, ohne dass sie direct durch einen Willen hervorgerufen ist, der sie als zu realisirenden Inhalt besitzt, dass sie Vorstellung ist, zunächst frei von jedem Streben sich zu verwirklichen, aber unbeschadet aller übrigen möglichen Beziehungen zum Willen, ja sogar unbeschadet der Möglichkeit, hinterdrein selbst wieder Willensinhalt zu werden.

A4

S. 35 Z. 4. (Vgl. den obigen Zusatz zu S. 6 Z. II.)

A5

S. 38 Z. 10 V. unten. Gehen wir noch näher auf die physiologische Seite der Frage ein, so ist an Stelle des Atoms die Ganglienzelle als einheitliches Nervenelement mit einheitlichem Bewusstsein die zunächst in Betracht kommende Ordnung von Individuen, Die Ganglienzelle hat eine gewisse individuelle Kraft oder individuellen Willen in sich, der durch den Individualcharakter (oder physiologisch gesprochen durch ihre ererbten oder erworbenen specifischen Energien) auf gewisse bevorzugte Richtungen seiner Aeusserung angewiesen ist. Die Befriedigung dieses Individualwillens kann, wie wir bald sehen werden, erst durch vergleichende Reflexion mit der Unlust der Nichtbefriedigung als Lust empfunden werden; das Zurückdrängen desselben, oder die Unterdrückung und erzwungene Hemmung seiner Aeusserung macht sich hingegen unmittelbar als eine (durch unbewusste Vorstellungen qualitativ gefärbte) Unlustempfindung bemerklich. Nun wissen wir aus dem Anhang des ersten Bandes, dass die Befriedigung des Individualwillens einer Ganglienzelle, oder physiologisch gesprochen die Actualisirung ihrer Prädispositionen in specifische Energien, in chemischer Hinsicht in einer Decomposition besteht, d.h. dass die Kraftentladung oder Umwandlung von Spannkraft in lebendige Kraft durch eine Zersetzung complexer chemischer Verbindungen in einfachere bewirkt wird. Die chemische Zusammensetzung, durch welche die Spannkraft oder der Arbeitsvorrath aufgesammelt wird, geht im Zustande der Ruhe als normaler Ernährungsprocess im Vergleich zu der Plötzlichkeit der Entladung so langsam vor sich, dass in jedem einzelnen Augenblick sicherlich die Bewusstseinsschwelle (wenigstens für das Gesammtbewusstsein der Ganglienzelle) nicht überschritten wird. Anders, wenn der Zelle ein äusserer Reiz durch die einmündenden Nervenfasern zugeführt wird. In diesem Falle wird der Reiz durch die hemmenden Einflüsse zunächst ausgelöscht, und erst in zweiter Reihe nach einem Zeitraum, während dessen der Reiz latent geworden ist, antwortet die Zelle durch eine active Kraftentladung. Der Reiz besteht in einem Innervationsstrom, d.h. in einer Serie von Impulsen lebendiger Kraft; dass diese lebendige Kraft durch die hemmenden Einflüsse der Zelle ausgelöscht oder absorbirt wird, ist physikalisch nur so zu verstehen, dass sie in Spannkraft umgewandelt wird, und diese Umwandlung ist eine auf einen hinlänglich engen Zeitraum zusammengedrängte Grösse, um als Gegensatz zu der natürlichen Richtung des Individualwillens, d.h. als Unlust empfunden zu werden. Die so empfundene qualitativ gefärbte Unlust wirkt nun als Motiv zur Willensäusserung, und die Willensreaction ist gleichsam der Versuch, sich von der Unlust des auferlegten Zwanges zu befreien. In's Bewusstsein tritt diese zweite Phase des Reflexvorganges in der Ganglienzelle zunächst nicht für sich, sondern nur insofern, als durch die Genugthuung der Willensäusserung oder Kraftentladung die durch den auferlegten Zwang hervorgerufene Unlustempfindung paralysirt wird und aus dem Bewusstsein verschwindet. Der Bewusstseinsinhalt setzt sich also wesentlich aus den Empfindungen zusammen, die durch die Auslöschung zuströmender Reize in Ganglienzellen vermittelst deren hemmender Einflüsse bestehen.

Dagegen kann der blosse Vorgang der Leitung, insofern dieselbe als mechanisches Weitergeben des empfangenen Reizes ohne Absorption und active Wiedererzeugung lebendiger Kraft verstanden wird, nicht zur Entstehung von Empfindungen führen, wenigstens nicht von Empfindung in Nervenelementen, sondern höchstens in den sie constituirenden Atomen (wo die Absorption und Wiedererzeugung von lebendiger Kraft bei jeder einzelnen Schwingung zu verfolgen ist). Hiernach könnte es scheinen, als ob die Nervenfaser als solche der Empfindung unfähig wäre, weil sie die peripherischen oder centralen Reizenergien nur mechanisch fortleite. Aber wir haben bereits im Anhang des ersten Bandes gesehen, dass auch die Nervenfaser eigenen Kraftvorrath besitzt, den sie auf eintretenden Reiz entbindet, und dass auch bei ihr ein Theil des Reizes absorbirt wird. Nur ist die Neigung zur Decomposition in der Faser weit grösser als in der Zelle, und zugleich der active Kraftvorrath und die hemmenden Einflüsse weit geringer, als in jener. Auf der andern Seite wäre es eine übertriebene Vorstellung, wenn man glaubte, dass in der Ganglienzelle die ganze lebendige Kraft jedes Reizes vernichtet und die reactive Innervation ausschliesslich aus dem vorhandenen Krafvorrath neu erzeugt werde; vielmehr ist dies nur ein extremer Fall bei einer ganz allein für centrale Functionen prädisponirten Zelle. Deneben sind aber alle Ganglienzellen auch mehr oder weniger für directe Leitung prädisponirt (z.B. werden alle Körperschmerzen durch die grauen Stränge des Rückenmarkes dem Gehirn zugeleitet, während die weissen Stränge nur die schmerzlosen Empfindungen des Tast- und Muskelsinnes zuführen). Je öfter eine Ganglienzelle einen Reiz in bestimmter Richtung geleitet hat, desto mehr übt sie sich auf diese Leitung ein, mit desto geringerer Anstrengung ihrer eigenen Kraft vollzieht sie dieselbe, d.h. einen desto grösseren Theil der empfangenen Reizenergie giebt sie unabsorbirt weiter, und einen desto kleineren Theil der Reizenergie absorbirt sie, um ihn aus eignen Mitteln zu ersetzen. Je kleiner aber der absorbirte Theil der Reizenergie wird, desto schwächer wird die Empfindung; d.h. die Empfindung bei dem Durchgang des Reizes durch eine Zelle schwächt sich um so mehr ab, je mehr die Zelle sich auf die Leitung in dieser bestimmten Richtung einübt, und sinkt bei einem gewissen Grade der Uebung unter die Bewusstseinsschwelle. Diese Uebung bezieht sich aber immer nur auf eine bestimmte Art und Weise (Schwingungsform) des Reizes, und muss für eine neu auftretende ungewöhnte Art von Reizen neu erworben werden. So ist es denn auch wohl möglich, dass der absorbirte Theil der Reizenergie in den Nervenfasern für die gewöhnlichen Arten der Reize unter normalen Verhältnissen unterhalb der Schwelle bleibt, während die Nervenfaser ihre Fähigkeit, zu empfinden, wieder in Anwendung bringen kann, wenn ihr entweder ungewohnte Reize zugeführt werden, oder wenn sie (z.B. durch Steigerung ihrer Reizbarkeit in Folge der Abtrennung von ihrem Centrum) unter abnorme Verhältnisse versetzt wird.

Die physiologische Betrachtungsweise bestätigt also durchweg die obige Annahme, dass es die Collision zweier inhaltlich entgegengesetzter Willen ist, aus der das Bewusstsein entspringt. Der Individualwille des Nervenelements wird in seinem Gleichgewicht durch den sich in seine Ruhe eindrängenden Willen des Reizes gestört; das elastische Auffangen dieser Störung ist die Resorption des Reizes durch Umwandlung seiner lebendigen Kraft in Spannkraft, ein Selbsterhaltungsprocess der Zelle, der ihrer Tendenz zur Willensäusserung, d.h. zur Entladung ihrer Spannkraft in lebendige Kraft diametral entgegengesetzt ist. Der Widerstreit mit dem eigenen Individualwillen, das Zurückdrängen desselben aus seiner Gleichgewichtslage in der seiner Tendenz entgegengesetzten Richtung wird als Unlust empfunden, und die Restitution, oder der zweite Act des Selbsterhaltungsprocesses des Nervenelementes ist die Entladung der Reaction, welche zunächst nur die Wiederherstellung des Gleichgewichtszustandes bezweckt, aber bei der einmal gegebenen Gelegenheit zur Willensäusserung über den Zustand bei Eintritt des Reizes hinausführt, nämlich einen durch die Nutrition aufgehäuften Ueberschuss von Spannkraft mit entladet.

* Mandsley sagt a. a. O. S. 124-125: »Wenn die ganze Energie einer Vorstellung unmittelbar nach aussen in ideomotorisohe Thätigkeit übergeht, so kann die Vorstellung nicht zum Bewusstsein gelangen. Damit dies der Fall sei, muss nicht nur der Reiz einen gehörigen Intensitätsgrad erreichen, es darf vielmehr auch nicht seine ganze Kraft unmittelbar bei der Reaction nach aussen verbraucht werden. Es dürfte wohl sicher als Bedingung zur Erweckung des Bewusstseins erforderlich sein, dass ein gewisser Intensitätsgrad der Energie für eine gewisse Zeit in den Vorstellungszellen persistire.« (Dies ist aber nur möglich, wenn die Energie des Reizes von der Zelle absorbirt, d. h, in Spannkraft umgesetzt wird.)

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Durch diese Consequenz der Lehre vom Unbewussten erhält zum ersten Male Spinoza's Satz, dass die Seele die Idee oder Vorstellung des Leibes sei, einen verständlichen Sinn.

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S. 42 Z. 25. (Vgl. zu diesem Abschnitt meine Schrift »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« 2. Aufl. S. 291-298.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 29-42.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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