VI. Der Begriff der Individualität

[124] Individuum heisst ein Untheilbares (ebenso wie Atom), doch weiss Jeder, dass Individuen zerschnitten und getheilt werden können. Man darf also bei Individuum nur an Etwas denken, was seiner Natur nach nicht getheilt werden darf, wenn es das bleiben soll, was es ist; dies ist aber der Begriff der Einheit, griechisch Monas (nicht zu verwechseln mit dem Zahlbegriff der Eins, griechisch hen). Hiernach würden die Begriffe Einheit oder Monas und Individuum zusammenfallen, doch sieht man sehr bald, dass Einheit ein weiterer Begriff ist als Individuum, d.h. jedes Individuum ist eine Einheit, aber nicht jede Einheit ist ein Individuum. So ist z.B. jede zusammenhängende Gestalt vermöge der Continuität des Raumes eine Einheit, ich kann dieselbe nicht theilen, ohne sie zu vernichten, dennoch werde ich nicht die zufällige Gestalteinheit, wie eine Erdscholle, ein Individuum nennen. Ferner hat jede Bewegung oder jeder Vorgang vermöge der Continuität der Zeit eine Einheit, z.B. ein Ton, auch diese Einheit ist kein Individuum. (Vgl. v. Kirchmann, Philosophie des Wissens, Bd. I, S. 131-141, 285-307.) Die Einheit des Ineinanderseins oder der gegenseitigen Durchdringung, wie sie z.B. bei Farben, Geschmacks- oder Geruchsmischungen und bei verschiedenen Eigenschaften in demselben Dinge vorkommt, reducirt sich theils auf das an derselben Stelle Sein, theils auf das zeitliche Zugleichsein der verschiedenen Eigenschaften, theils auf die nun folgende causale Einheit, kann also nicht als besondere Art der Einheit betrachtet werden. Die causale Beziehungseinheit ist die stärkste, welche es giebt; wir haben von ihr drei Arten zu unterscheiden: 1) die Einheit durch Einerleiheit der Ursache (wie bei den verschiedenen Wahrnehmungen eines[124] Dinges), 2) die Einheit durch Einerleiheit des Zweckes (wie bei den vielen Einrichtungen des Auges zum Sehen), 3) die Einheit durch Wechselwirkung der Theile, so dass die Function jedes Theiles Ursache für das Fortbestehen des anderen ist. – Auch diese Einheiten genügen nicht für den Begriff der Individualität. Ein Beispiel der ersten ist die Einheit der vielen Wahrnehmungen eines Dinges, insofern dieselben die Identität des Ortes und der Zeit nicht unmittelbar in sich enthalten, sondern nur auf das Ding als identische Ursache bezogen werden; Niemand wird behaupten, dass die Einheit der Wahrnehmungen eines Dinges ein Individuum sei. Wenn zweitens die Einheit des Zweckes in einem auszuführenden Bau besteht, so wird man die Summe der Arbeiter, welche diesen Zweck haben, nicht ein Individuum nennen: wenn drittens ein Land von den Naturproducten seiner Colonien lebt, und die Colonien nur durch den Import der Kunstproducte aus dem Mutterlande existiren, so ist eine vollkommene Wechselwirkung da, und doch wird Niemand die Summe von Colonien und Mutterland ein Individuum nennen.

Jede dieser Einheiten erweist sich also als ungenügend, um den Begriff des Individuums zu fixiren. Ebenso unzureichend sind die äusserlichen Kennzeichen, welche man hier und da als Merkmal aufgestellt findet, z.B. die Entstehung aus einem Samenkeim oder Einem Ei (Gallesio und Huxley). Danach müssten alle Trauerweiden Europa's ein Individuum sein, da sie historisch nachweislich von einem einzigen aus Asien nach England eingeführten Baume durch Ableger gezogen sind, also alle aus Einem Samenkeim stammen; danach müssten ferner alle die Blattläuse (vielleicht mehrere Millionen), welche von einer geschlechtlich erzeugten Amme durch ungeschlechtliche Zeugung in zehn oder noch mehr Generationen im Laufe eines Sommers hervorgebracht sind, insgesammt ein einziges Individuum darstellen. – Ebenso wenig, wie die Abstammung aus Einem Ei kann die typische Idee der Gattung als Merkmal des Individuums gelten; denn die typische Gattungsidee ist die Idee eines Normalindividuums, welches die Gattung repräsentirt, weil es frei von zufälligen Besonderheiten ist, und man gewinnt diese Idee des Normalindivi duums, indem man von allen Individuen einer Gattung die zufälligen Besonderheiten fallen lässt, und nur das gesetzmässig Gemeinsame in der Abstraction festhält. Man sieht hier sofort, dass man das Merkmal des Individuums schon haben muss, um die vielen Individuen vergleichen und den normalen Typus aussondern zu können, dass also unmöglich dieser Typus rückwärts als[125] Merkmal des Individuums gelten darf, da man sich dabei bloss im Kreise drehen würde. Ausserdem aber haben wir ja unzweifelhafte Individuen, auch wo dieselben die Gattungsidee nicht oder unvollständig repräsentiren. So gehört zur Idee der Pflanze die Wurzel, zur Idee der Polypen die Fangarme; wenn ich aber einen Pflanzenzweig oder ein Stück der Polypenröhre abschneide, so haben diese keine Wurzeln, resp. Fangarme und führen dennoch ein selbstständiges Leben weiter, da sie alle Bedingungen der Fortexistenz in sich tragen; man kann ihnen unmöglich die Individualität absprechen. Die Abstammung von Einem Ei und die typische Gattungsidee erweisen sich also als ganz unbrauchbar zu Merkmalen des Individuums; kehren wir deshalb zu dem Begriff der Einheit, wie wir ihn vorhin fassten, zurück.

Zwar waren die einzelnen betrachteten Arten der Einheit ebenfalls unzureichend, aber wenn jede einzelne für die Begrenzung des Begriffes Individuum zu weit ist, so kann doch die Verbindung aller dieser Arten von Einheit in Einem Dinge die nöthigen Beschränkungen gewähren. Wir hatten nämlich für das Individuum deshalb die Einheit gefordert, weil es seiner Natur nach nicht getheilt werden können sollte; nun ist aber klar, dass diese Anforderung nur dann erfüllt ist, wenn es nicht bloss in dieser oder jener Beziehung, sondern in allen möglichen Beziehungen wesentlich untheilbar ist, d.h. wenn es alle möglichen Arten der Einheit in sich vereinigt. Dass die fünf oben besprochenen Arten der Einheit in der That alle möglichen und die einzig möglichen sind, ist unschwer zu sehen, denn sie erschöpfen die drei subjectiv-objectiven Formen: Raum, Zeit und Causalität.

Damit haben wir also eine genügende Definition des Individuums gewonnen; das Individuum ist ein Ding, welches alle fünf möglichen Arten von Einheiten in sich verbindet: 1) räumliche Einheit (der Gestalt), 2) zeitliche Einheit (Continuität des Wirkens), 3) Einheit der (inneren) Ursache, 4) Einheit des Zweckes, 5) Einheit der Wechselwirkung der Theile unter einander (sofern welche vorhanden sind; sonst fällt natürlich die letzte fort).A16 – Wo die Einheit der Gestalt fehlt, wie beim Bienenschwarm, spricht man trotzdem, dass alle übrigen Einheiten auf das Schlagendste vorhanden sind, nicht von Individuum.A17 Wo die Continuität des Wirkens fehlt, wie bei erfrorenen und wieder aufgethauten Fischen, bei eingetrockneten und wieder aufgeweichten Räderthierchen, ist zwar eine Einheit des Dinges vorhanden, doch würde ich es für falsch[126] halten, von Einheit des Individuums zu sprechen; man hat dann eben zwei Individuen, die durch die Pause in der Lebensthätigkeit geschieden sind, so wie ich von einem vor 1000 Jahren lebenden Menschen geschieden bin. Dass von den drei causalen Einheiten dem Individuum keine fehlen darf, ist wohl selbstredend.

Es ist von entscheidender Wichtigkeit für den Begriff des Individuums, dass keine dieser Einheiten etwas absolut Starres, nach aussen Abgeschlossenes ist, sondern jede niedere Einheiten derselben Art in sich befassen und mit mehreren ihres gleichen von einer höheren Einheit gemeinschaftlich umfasst sein kann. Es ist ein ganz vergebliches Bemühen, für irgend welche Art der Einheit einen Abschluss zu suchen, es sind immer wieder höhere Einheiten denkbar, welche sie mit einschliessen, sowie Alles zuletzt in der Einheit der Welt aufgehoben ist und diese wieder von einer metaphysischen Einheit verschiedener, uns unerkennbarer, coordinirter Welten überragt sein kann. Wenn dies für den Begriff der Einheit gilt, so zeigt es schon an, dass es auch für den Begriff des Individuums gelten wird, und dass auch für dieses die Abschliessung nach aussen und die starre Besonderung nur Schein ist. Dieser Schein für die oberflächliche Betrachtung entspringt nämlich daraus, dass das Individuum erst durch Zusammensetzung aller oben genannten Einheiten entsteht; sollen nun mehrere Individuen in einem Individuum höherer Ordnung enthalten sein, so gehört dazu sowohl in den Individuen der niederen als in dem der höheren Ordnung ein Zusammentreffen aller dieser Arten von Einheiten; wenn dagegen in ersteren oder letzteren irgend eine Art der Einheit fehlt, so bleibt zwar die Unterordnung der übrigen Einheiten unter die höheren bestehen, aber es ist dann nicht mehr ein Umfasstsein mehrerer Individuen durch ein höheres vorhanden. Selbst Spinoza, der Monist vom reinsten Wasser, sagt (Eth. Th. 2, Satz 7, Post. 1): »Der menschliche Körper besteht aus vielen Individuen von verschiedener Natur, von denen jedes sehr zusammengesetzt ist«, und Leibniz führt diese Idee in seiner Monadologie weiter aus.

Betrachten wir die Sache zunächst an geistigen Individuen, wo die Verhältnisse viel einfacher liegen. So weit wir nämlich bisher von Individuen gesprochen haben, war nur von materiellen Individuen die Rede; etwas ganz Anderes als diese und keineswegs mit ihnen zusammenfallend sind die geistigen Individuen, welche daher eine ganz besondere Untersuchung verlangen. Hätte man sich schon früher zur Trennung der Untersuchung für geistige und materielle[127] Individuen entschlossen, so würde in dem Gebiete dieses Begriffes bei Weitem nicht die jetzt erschreckende Verwirrung herrschen.

Wir haben hier wieder bewusst-geistige und unbewusst-geistige Individuen zu unterscheiden, und sprechen vorläufig nur von ersteren. Schon Locke hat es ausgesprochen, dass die Identität der Person ausschliesslich auf der Identität des Bewusstseins beruhe, und diese Wahrheit ist von allen späteren Philosophen bereitwillig anerkannt worden. Die nicht getheilt werden dürfende Einheit, in welcher das Individuum seinen Bestand hat, ist also hier die Einheit des Bewusstseins, welche wir im Cap. C. III. S. 426-430 betrachtet haben. Denn erst dadurch, dass die zeitlich oder räumlich im Gehirn getrennten Bewusstseine zweier Vorstellungen unter das gemeinsame Bewusstsein des Vergleiches aufgehoben werden, d.h. in diesem ihre höhere Einheit finden, erst dadurch wird es möglich, dass das Subject oder die instinctiv supponirte Ursache der einen und der anderen Vorstellung als ein und dasselbe erkannt und somit beide auf eine gemeinschaftliche innere Ursache (Ich) bezogen werden. Nur so weit die Einheit des Bewusstseins reicht, reicht die Einheit der Seelenvorgänge durch causale Beziehung auf ein gemeinschaftliches Subject, nur so weit reicht das bewusst-geistige Individuum.

Nun wissen wir, dass in den untergeordneten Nervencentren der Menschen und Thiere bewusste geistige Processe vor sich gehen, welche innerhalb eines jeden Centrums vermöge der Güte der Leitung zu einer innigen Einheit verbunden sind; wir werden also in diesen Einheiten nothwendig geistige Individuen anerkennen müssen. Man darf hiergegen nicht einwenden, dass diese anderen Centra geistig zu tief stehen, um zum Selbstbewusstsein, zum Ich zu kommen; dieses Ich wird eben instinctiv supponirt, d.h. es braucht gar nicht als Selbstbewusstsein aufzutreten, es wird doch so gehandelt, als wenn das Selbstbewusstsein vorhanden wäre, und alle Handlungen auf das Ich bezöge. Dies sehen wir ja noch bei den niedrigsten Thieren und Pflanzen, und nennen es zoopsychologisch Selbstgefühl. Es steht also Nichts im Wege, die niederen Nervencentra als Träger bewusst-geistiger Individuen aufzufassen; wenn wir aber weiter sehen, dass Empfindungen verschiedener Nervencentra unter besonderen Umständen in Ein Bewusstsein aufgehoben werden können, was mehr oder weniger im Gemeingefühle fortwährend stattfindet, so kann man nicht umhin, diese Bewusstseinseinheit als ein höheres geistiges Individuum anzuerkennen,[128] welches die niederen Individuen in sich befasst. Wenn wir ferner erwägen, dass die eigentlich thätigen Theile der bloss zur Leitung bestimmten weissen Nervenfasern, nämlich ihre Axencylinder, ganz dasselbe wie die graue Masse sind, und dass das weisse Ansehen bloss durch die zur Isolirung der Fasern bestimmte, zwischen Axencylinder und Fasermembran abgelagerte Markmasse hervorgerufen wird, so kann man sich dem Schlüsse nicht entziehen, dass die thätigen Theile auch der weissen Nervenmasse ein eigenes Bewusstsein irgend einer Art von den Schwingungen haben, welche sie freilich in der Oekonomie des Ganzen nur fortzuleiten bestimmt sind. Ebenso haben die sich contrahirenden Muskelfasern oder die auf Nervenanregungen sich verändernden secernirenden Häute ganz sicher eine gewisse Empfindung von diesen Vorgängen, da sie ja geeignet sind, die sie anregenden Nervenschwingungen über die Grenzen der Nervenfasern hinaus zu den benachbarten Theilen fortzupflanzen. (So sind nach Engelmann die peristaltischen Bewegungen des Harnleiters spontane Functionen seiner ungestreiften Muskelwände.)

Erinnert man sich ferner der Resultate des Cap C. IV., wonach wir auf ein Zellenbewusstsein in den Pflanzen gekommen sind, so liegt die Annahme sehr nahe, dass auch die theilweise noch höher als die Pflanzenzellen organisirten thierischen Zellen ihr Sonderbewusstsein haben, eine Annahme, die später in diesem Capitel noch weitere Bestätigungen finden wird. So viel ist gewiss, dass die thierischen Zellen zum grossen Theile ebenso selbstständig leben, wachsen, sich vermehren, und ihren specifischen Beitrag zur Erhaltung des Ganzen liefern, als die Pflanzenzellen; warum sollen sie, wenn sie ein ebenso selbstständiges Leben führen, nicht ebenso selbstständige Empfindung haben? Virchow sagt (Cellularpathologie 3. Aufl. S. 105): »Erst wenn man die Aufnahme des Ernährungsmaterials als eine Folge der Thätigkeit (Anziehung) der Gewebselemente selbst auffasst, begreift man, dass die einzelnen Bezirke nicht jeden Augenblick der Ueberschwemmung vom Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das dargebotene Material nur nach dem wirklichen Bedarfe in die Theile aufgenommen und den einzelnen Bezirken in einem solchen Maasse zugeführt wird, dass im Allgemeinen wenigstens, so lange irgend eine Möglichkeit der Erhaltung besteht, der eine Theil nicht durch die anderen wesentlich benachtheiligt werden kannWenn diese selbsteigene Thätigkeit der Zelle schon für die Aufnahme der Ernährungsstoffe gilt, um wie viel mehr für ihre chemische und formale Umwandlung; giebt es[129] doch grosse Gebiete im thierischen Körper, die der Nerven und Gefässe völlig entbehren, z.B. die Substanz der Oberhaut, Sehnen, Knochen, Zähne, Faserknorpel, und doch findet eine Saftcirculation durch die Zellen wie bei Pflanzen statt, und ein Leben und eine Vermehrung der Zellen ohne Anregung von Nerven. Wenn die thierischen Zellen so individueller Leistungen fähig sind, gerade wie in der Pflanze, sollten sie da nicht auch wie jene Träger eines individuellen Bewusstseins sein? Der Unterschied ist nur der: im Thiere verschwindet die Bedeutung der Bewusstseinsindividuen der Zellen gegen die Bewusstseinsindividuen höherer Ordnungen, in der Pflanze aber sind die Zellenbewusstseine die Hauptsache, weil es überhaupt nur in gewissen empfindlichen und bevorzugten Theilen, wie Blüthen u.s.w., zu der Rede werthen Bewusstseinsindividuen höherer Ordnung kommt.

Würde endlich jemals die Frage nach dem Bewusstsein der Atome bejahend zu entscheiden sein, so würden die Atome schliesslich die Bewusstseinsindividuen unterster Ordnung sein. So haben wir für bewusst-geistige Individuen die Ineinanderschachtelung der Individuen höherer und niederer Ordnungen als richtig befunden, wir haben sie jetzt bei materiellen Individuen zu betrachten.

Kehren wir nun zu den organischen Individuen zurück, so leuchtet die Schwierigkeit der Entscheidung über die Frage, was das Individuum sei, zunächst noch mehr bei den Pflanzen als bei den Thieren ein. An den höheren Pflanzen bezeichnet der Laie zunächst das als das Individuum, was der Botaniker den Stock (Cormus) nennt; Linné, Göthe, Erasmus Darwin, Alexander Braun u. v. a. suchten das Individuum in dem Spross, welcher einer einzelnen Axe der Pflanze entspricht; Ernst Meyer u. A. erklärten das Blatt in seinen verschiedenen (von Göthe entdeckten) Gestaltungen für das wahre Individuum und das Stengelglied als unteren Theil des Blattes; Gaudichaud, Agardh, Engelmann, Steinheil u. A. glaubten dasselbe in dem Stengelglied gefunden zu haben, als dessen oberen Auswuchs sie das Blatt oder den Blattkreis ansahen; Schulz-Schultzenstein wollte es hingegen in den von ihm Anaphyten genannten Zellengruppen finden, wie sie sich als Brutknospen darstellen; Schleiden und Schwann thaten den nächsten Schritt, die Zelle als das alleinige Individuum im Pflanzenleben aufzustellen. Jede dieser Ansichten hat gewichtige Gründe für sich, und in der That hat jede derselben darin Recht, dass sie dies oder jenes als Individuum[130] behauptet, Unrecht aber, dass sie die andern Ansichten bestreitet, denn es handelt sich hier nicht um ein entweder, oder, sondern um ein sowohl, als auch. Sowohl die ganze Pflanze, als auch jeder Ast und Spross, als auch jedes Blatt, als auch jede Zelle verbindet in sich alle Einheiten, welche zur Individualität nöthig sind. Diese Einsicht hat sich denn auch bereits mehr und mehr Bahn gebrochen: so unterscheidet Decandolle fünf Ordnungen von Individuen (Zelle, Knospe, Ableger, Stock, Embryo), Schieiden drei (Zelle, Knospe, Stock), Häckel8 sechs (Zelle, Organ, Gegenstück, Folgestück, Spross, Stock).

Ganz falsch wäre es, und völlig unhaltbar, wenn man räumliche Besonderung und Abschliessung als Bedingung der Individualität behaupten wollte, denn dann würden die nur äusserlich an irgend einer Hautstelle verwachsenen Zwillingsgeburten (man denke an die jetzt über 60 Jahre alten Siamesen) stets als nur Ein Individuum zu betrachten sein, was doch gar zu widersinnig wäre. Ebenso gewiss ist es falsch, von einem Individuum Selbstständigkeit9 der Existenz ohne die Unterstützung anderer Individuen zu fordern; man denke nur, was aus dem Säugling würde, wenn die Mutter ihm nicht die Brust reichte, oder aus jungen Raubthieren, wenn die Eltern sie nicht mit auf die Jagd nähmen, und doch wird Niemand[131] den Kindern und jungen Thieren die Individualität absprechen wollen.

Bei niederen Organismen kommt jene Verwachsung, die bei höheren nur als Abnormität des fötalen Lebens erscheint, als typisches Gesetz vor. Eine einzellige Alge, Pediastrum Rotula, kommt im ausgewachsenen Zustande nur als Zellencomplex oder Zellencolonie von 1 Mittelzelle und 7 peripherisch herumgelagerten Randzellen vor. Der grüne protoplasmatische Inhalt jeder dieser Zellen zerfällt behufs der Fortpflanzung in 4, 8, 16, 32 oder 64 kugelartige Tochterzellen, welche ausgetreten eine selbstständige, längere Zeit andauernde Bewegung besitzen, dann aber sich zu je 8 in eine Fläche nebeneinanderlagern, um mit einander verwachsend eine neue rosettenförmige Colonie zu bilden, die sich, obwohl aus 8 einzelligen Algen bestehend, doch ganz wie ein Individuum verhält. Aehnliche Vorgänge finden sich noch bei einigen andern Algen, z.B. dem Wassernetze (Hydrodictyon). – An einem Polypenstock ist so gewiss jedes einzelne Thier ein Individuum, als der ganze Stock ein Individuum ist, da seine Theile, wie die Glieder eines sogenannten einfachen Thieres, durch die Gemeinschaft des Ernährungsprocesses auf einander angewiesen sind, und trotzdem ihre morphologische Selbstständigkeit behaupten. »Jeder zusammengesetzte Zoophyt entspringt aus einem einzigen Polypen und wächst (wie eine Pflanze) durch fortgesetzte Knospenbildung zu einem Baume oder zu einer Kuppel heran. Ein 12 Fuss Durchmesser haltender Asträastamm vereinigt etwa 100,000 Polypen, deren jeder 1/2 Quadrat-Zoll einnimmt; bei einer Porites, deren Thierchen kaum eine Linie breit sind, würde deren Zahl 5 1/2 Millionen übersteigen. Bei ihr sind also eine gleiche Anzahl von Mäulern und Magen zu einem einzigen Pflanzenthier verbunden, und tragen gemeinschaftlich zur Ernährung, Knospenbildung und Vergrösserung des Ganzen bei, sind auch unter einander seitlich verbunden.« (Dana in Schleiden's und Fror. Not. 1847, Juni No. 48.) Wer einem Eichbaum Individualität zuschreibt, muss sie auch einem solchen Polypenbaum zuerkennen.

Das Kugelthier, volvox globator, ist (obwohl nicht zu den Korallen gehörig) ein von vielen einzelnen Thierchen gebildeter Polypenstock, die, am Umfange einer Kugel sitzend, nur durch federnartige Bohren verbunden sind. »Thut man etwas blaue oder rothe Farbe in's Wasser unter dem Mikroscop, so erkennt man sehr deutlich eine kräftige Strömung um die Kugeln. Diese ist eine Folge der Gesammtwirkung aller Einzelthierchen, die wie Thierheerden,[132] Vögelzüge, selbst singende oder tanzende Menschen und Volkshaufen einen gemeinsamen Rhythmus und eine gemeinsame Richtung annehmen, oft selbst ohne Commando, und ohne sich des Willens dazu klar bewusst zu werden. So schwimmen alle Polypenstöcke, und der gemüthliche, wie der kälter urtheilende Naturforscher erkennt hierin einen Gesellschaftstrieb, welcher aus Kraft und Nachgiebigkeit für gemeinsame Zwecke besteht, einen Zustand, der eine geistige Thätigkeit verlangt, die allzugering anzuschlagen man nicht berechtigt, nur verführt sein kann. Nie darf man auch vergessen, dass alle Einzelthierchen Empfindungsorgane besitzen, die den Augen vergleichbar sind, und dass sie mithin nicht blind sich im Wasser drehen, sondern als Bürger einer unserem Urtheile fernliegenden grossen Welt den Genuss einer empfindungsreichen Existenz, so stolz wir uns auch geberden mögen, mit uns theilen.« (Ehrenberg in seinem grossen Infusorienwerk, S. 69.) Es ist dieses Urtheil deshalb so interessant, weil es zeigt, wie der schlichte, aber grosse Naturforscher, von den einfachen Thatsachen überwältigt, einen Masseninstinct und ein reges Geistesleben auf jenen niederen Thierstufen anerkennt.

»Im Mittelmeere giebt es ein reiches Geschlecht prächtiger Schwimmpolypen, welche namentlich Carl Vogt (Recherches sur les animaux inférieurs de la Méditerranée) der Kenntniss der Gebildeten zugänglich gemacht hat. Aus einem Ei entwickelt sich ein junger Polyp. Frei im Meer schwimmend beginnt er zu wachsen. An seinem oberen Ende bildet er eine Blase, in welcher Luft frei wird, die ihn trägt. An seinem unteren Ende gestalten sich in immer reichlicherer und schönerer Ausstattung Fühler und Fangschnüre mit sonderbaren Nesselorganen. An seinem Stamme, der sich immer mehr verlängert, findet sich eine durchlaufende Röhre. Von diesem Stamme entstehen knospenartige Sprossen. Die einen davon bilden Schwimmglocken, die sich und damit das Ganze fortbewegen. Die anderen wandeln sich in neue Polypen um, welche Mund und Magen besitzen und die Nahrung für das Ganze nicht bloss sammeln, sondern auch verdauen, um sie endlich in die gemeinschaftliche Stammröhre abzugeben. Endlich noch andere Knospen gewinnen ein quallenartiges Aussehen und besorgen die Fortpflanzung; sie bringen Eier hervor, welche wieder frei schwimmende Polypen aus sich hervorgehen lassen.« (Besondere Polypen mit langen empfindlichen Tastfäden repräsentiren die Sinnesorgane oder die Intelligenz dieses Staates.) »Was ist hier Individuum? Der junge Polyp erscheint[133] uns einfach, aber aus ihm bildet sich ein Stock gleich einer Pflanze. Der Stock treibt Fangfaden, wie Wurzeln, aber sie bewegen sich willkürlich und greifen die Beute; er bildet einen Stamm mit einem Nahrungskanale, aber er hat keinen Mund, um den Kanal zu benutzen, so wenig wie die Pflanze. Er treibt Knospen und Sprossen, wie die Pflanze, aber jede Knospe hat besondere Aufgaben, die sie mit dem Anscheine ureigener Thätigkeit erfüllt. Besondere mit eigener Bewegung versehene Sprossen oder Aeste besorgen die einen die Aufnahme und Verdauung der Nahrung, die anderen die Fortpflanzung. Der Rumpf ist nichts ohne die Glieder, die Glieder sind nichts ohne den Rumpf.« (Virchow, Vier Reden, S. 65-66.) Wer an dem Entweder-Oder festhält, den muss freilich solch ein Beispiel zur Verzweiflung bringen, wir aber sehen in den einzelnen Gliedern Individuen, theils von Polypenform, theils von Quallenform, und in dem Ganzen ein Individuum höherer Ordnung, welches alle diese Individuen in sich einschliesst. Schon im Bienen- und Ameisenstock fehlt uns, um das Ganze als Individuum höherer Ordnung zu betrachten, nichts als die räumliche Einheit, d.h. die Continuität der Gestalt; hier ist diese ebenfalls vorhanden und darum ist das Individuum unbestreitbar.

Man fasst diese im Thier- und Pflanzenreich weit verbreitete Erscheinung einer verschiedenartigen physiologischen Ausbildung von morphologisch ursprünglich gleich angelegten Individuen derselben Art unter dem Namen Polymorphismus zusammen (schon die Theilung der Geschlechter gehört unter diesen Begriff). Ein interessantes Beispiel entdeckte kürzlich Kölliker an der Gattung der Seefedern (Pennatuliden). Ohne auf die morphologische Bedeutung der Stammorgane einzugeben, welche als Träger der Einzelthiere dienen, ist zu sagen, dass hier die Geschlechtsthiere, Fressthiere und Tastthiere nicht verschieden, sondern Eines sind, hingegen verkümmerte Individuen ohne Tentakeln und Geschlechtsorgane vorkommen, die man früher bloss für Warzen (Granulationen) der Haut hielt, die aber sonst ganz den Bau der Geschlechtsthiere besitzen, und vielleicht eine bestimmte Beziehung zu Wasser-Aufnahme und -Abgabe haben. Ein und dasselbe Princip der Arbeitstheilung, der Erleichterung einer Gesammtleistung durch Vertheilung an verschiedene einseitig befähigte Organe, welches im Organismus des Bienen- und noch mehr des Ameisenstaats die verschiedenartige Entwickelung von drei bis fünferlei getrennten Individuen bedingt, ist es auch hier, was das System der Bewegung, der Nahrungsaufnahme[134] und Verdauung, der Wahrnehmung und der Fortpflanzung an verschiedene, mit einander zu einem Individuum höherer Ordnung verwachsene Individuen vertheilt. Eben dieses Princip finden wir aber auch in den höheren Pflanzen durchgeführt, wo die Wurzeln die Nahrungsaufnahme, die Blätter die Athmung, die Blüthen die Fortpflanzung besorgen, während ein Stamm oder Stengel dem Ganzen Halt und Zusammenhang giebt, wie der Mittelstamm des Schwimmpolypenstaates. Wie im Bienenstaat die Geschlechtsthätigkeit in Drohnen und Königin personificirt ist, so auch in den diöcischen Pflanzen, d.h. bei denen, wo die eine Pflanze bloss männliche, die andere bloss weibliche Blüthen trägt; und bei den monöcischen, wo männliche und weibliche Blüthen auf einer Pflanze stehen, sollten diese Blüthen nicht Individuen sein, weil sie zufällig durch andere Theile der Pflanze räumlich verbunden sind?

Aber nicht bloss in der fernen Region niederer Seethiere finden wir so augenscheinlich zusammengesetzte Individuen. Das Verständniss der Bandwürmer, bei welchen der Kopf durch sogenannte Ammenzengung eine ganze Colonie von hermaphroditischen Geschlechtsthieren hervorbringt, leitet uns zur richtigen Würdigung des anatomischen Baues der Anneliden, und diese zu der der Gliederthiere hinüber. Bei den niederen Ringelwürmern hat jedes Segment seine Kiemen, seine Erweiterung des Darmcanals, seine contractile Erweiterung des grossen Blutgefässes, seine Nervenknoten, seine Verzweigungen der Nerven- und Gefässstämme, seine Fortpflanzungsorgane, seine Fortbewegungsanhänge, und zuweilen selbst sein besonderes Augenpaar. Unter den Gliederthieren stehen die Myriopoden den Ringelwürmern noch am nächsten; der Process der Knospung der Segmente auseinander, der für das zusammengesetzte Individuum charakteristisch ist, ist hier zum Theil sehr deutlich in der embryologischen Entwickelungsgeschichte zu beobachten; die Larve des Tausendfusses, die mit 8 Segmenten auskriecht, bildet sogar noch bei der ersten Mauserung zwischen dem letzten und vorletzten Segment 6 neue hinzu. In dem Maasse als die Arbeitstheilung und Vervollkommnung des Typus von den Bandwürmern zu den Ringelwürmern, zu den Tausendfüssen und von diesen zu den höheren Gliederthieren (Krebsen, Spinnen, Insecten) fortschreitet, in demselben Maasse zeigt sich eine verstärkte Differenzirung der Segmente, aus denen das zusammengesetzte Thier besteht; aber selbst bei den vollkommensten Insecten ist unter Beihülfe der individuellen und paläontologischen Entwickelungsgeschichte die Zusammensetzung[135] aus Segmenten, die ursprünglich selbst ständig gedacht sind, noch sicher zu constatiren, und wie weit auch sonst die Differenzirung getrieben sei, so bleiben doch gewisse Functionen (z.B. Athmung) hier immer decentralisirt.

Mit diesen Folgestücken der zusammengesetzten Würmer und Gliederthiere zeigen die Folgestücke der Wirbelthiere, welche in je einem Wirbel mit seinen Knochenfortsätzen sammt den zugehörigen Muskel-, Gefäss- und Nervenpaaren bestehen, allerdings eine gewisse Analogie- gleichwohl scheint mir dieselbe nicht ausreichend, um beide Gebilde mit Häckel auf gleiche Ordnungsstufe der Individualität zu stellen, weil bei den zusammengesetzten Würmern die Vielheit des Gesammtindividuums durch Aggregation vieler Einzelindividuen, bei den Wirbelthieren aber durch innere Differenzirung entsteht. Es macht hierbei keinen Unterschied, ob die vielen Einzelindividuen durch Copulation zusammentreten, oder ob sie, wie beim Bandwurm, von dem zuerst gegebenen einfachen Individuum durch Ammenzeugung hervorgebracht werden; Beides bildet einen gemeinschaftlichen Gegensatz gegen die innerliche, allmählich fortschreitende Differenzirung des Wirbelthierorganismus, dessen Prototyp, der Amphioxns, keineswegs das Analogen eines zusammengesetzten, sondern eines einfachen Wurmes bildet. Der Entwickelungsgang in den wirbellosen und Wirbelthieren ist mithin ein geradezu entgegengesetzter; bei ersteren ist es die Vielheit, welche durch Verunähnlichung und engere Aneinanderschliessung der Vielen in steigendem Maasse zur Einheit concrescirt, bei letzteren ist die Einheit der Ausgangspunct, welche durch Steigerung der inneren Mannichfaltigkeit sich zum Reichthum der Vielheit entfaltet; im ersteren Falle wachsen die Individuen niederer Ordnung zu einem Individuum höherer Ordnung zusammen, im letzteren Falle legt sich ein Individuum in Individuen niederer Ordnung auseinander, und erhöht dadurch wenigstens relativ die Stufe seiner Individualitätsordnung.A18 So wird es verständlich, dass trotz des entgegengesetzten Ausgangspunctes beide Entwickelungsgänge in ihren Resultaten einander um so näher kommen, je weiter sie vorgeschritten sind d.h. je enger auf der einen Seite die zusammensetzenden Glieder sich zur Einheit zusammengeschlossen und je mehr sie ihre ursprünglich bloss Particularzwecke erfüllenden Functionen zu dienenden Functionen des höheren Ganzen umgewandelt haben, – je weiter auf der andern Seite die innere Differenzirung der Folgestücke, Organe und Organsysteme vorgerückt ist.

Wie die oben erwähnten Schwimmpolypenstöcke und Pennatuliden[136] dadurch merkwürdig sind, dass in ihnen die Einzelindividuen gänzlich zum Rang von differenzirten Organen des höheren Gesammtorganismus herabgesetzt sind, so gehen wir umgekehrt, dass bei den höheren Thieren die Organe eine um so schärfer abgegrenzte Individualität gewinnen, je stärker sie in ihren Functionen und ihrer Constitution differenzirt sind. Man kann wieder innerhalb der Organe drei wesentlich verschiedene Stufen der Individualität des Organs unterscheiden: die einfachen, die zusammengesetzten Organe und die Organsysteme. Die einfachen Organe (Häckel's Organe erster und zweiter Ordnung) bestehen aus Gewebe von einerlei, die zusammengesetzten aus solchem von mehrerlei Art; die Organsysteme sind die einheitliche Zusammenfassung eines Complexes von einfachen und zusammengesetzten Organen im ganzen Organismus, insoweit sie einem bestimmten functionellen Zwecke dienen. Einfache Organe sind z.B. die Epidermis, deren Anhänge (Haare, Nägel, Schuppen, Hautdrüsen, Krystalllinse), Knorpel und manche andere gefäss- und nervenlose Formen der Bindesubstanz; zusammengesetzte Organe sind dsgl. die einzelnen Muskeln, Nerven, Knochen, Blutgefässe, Schleimhäute. Die Sinnesorgane sind schon meist so complicirter Natur, dass sie uns von den Organen zu den Organsystemen hinüberführen, z.B. die Summe der Tastnervenendigungen unter der Epidermis. Als Organsystem kann man ferner anführen: das Deckensystem der Körperoberfläche (Epidermis mit Anhängen), das Skeletsystem, das Muskelsystem, das Nervensystem, das Gefäss- oder Circulationssystem, das Darm- oder Verdauungssystem, das Athmungssystem, das Genital- oder Fortpflanzungssystem. Allerdings findet zwischen diesen verschiedenen Systemen bei höheren Thieren eine sehr innige Durchdringung und Verschlingung statt, dennoch ist selbst morphologisch ihre Trennung sehr wohl durchzuführen, und es ist kein Grund abzusehen, warum die engere Verwachsung einen Grund abgeben soll, an der relativen Individualität dieser Systeme zu zweifeln, die bei den Schwimmpolypen trotz der räumlichen Verwachsung so eclatant zu Tage tritt und in den Bienen- und Ameisenstaaten sogar zur Trennung der Functionen an discrete Individuen entwickelt ist. Bei den räumlich schärfer abgegrenzten einfachen oder zusammengesetzten Einzelorganen dürfte die Anerkennung der Individualität auf noch weniger Schwierigkeiten stossen; so gewiss dem einzelnen Blatt oder Staubgefäss der Pflanze eine Art von Individualität zukommt, ebenso gewiss einem Kopfhaar des Menschen. Bei niederen Thieren documentiren einzelne Organe ihre[137] Individualität mitunter dadurch, dass sie sich von dem Gesammtorganismus ablösen, und doch weiterleben und die Function regelrecht vollziehen, behufs derer sie da sind; so z.B. haben bei mehreren Cephalopodenarten (Argonauta, Philonexis, Tremoctopus) die Männchen einen Hectocotylus, d.h. einen zum Geschlechtsorgan ausgebildeten Arm, der die Begattung ausübt, indem er sich vom Männchen ablöst und in das Weibchen eindringt. Dieser Hectocotylus wurde deshalb anfangs für einen Parasiten, später für das rudimentäre Männchen der betreffenden Dintenfische gehalten, bis man ihn als individualisirtes Organ des Männchens erkannte.

Von Wichtigkeit für unser Thema ist auch der pathologische Begriff parasitischer Bildungen. Ich lasse eine Autorität in diesem Felde, Prof. Virchow, für mich sprechen. (Cellularpathologie, S. 427-428): »Erinnere man sich nur, dass der Parasitismus nur graduell etwas Anderes bedeutet, als der Begriff der Autonomie jedes Theiles des Körpers. Jede einzelne Epithelial- und Muskelzelle führt im Verhältnisse zu dem übrigen Körper eine Art von Parasitenexistenz, so gut wie jede einzelne Zelle eines Baumes im Verhältnisse zu den anderen Zellen desselben Baumes eine besondere, ihr allein zugehörende Existenz hat, und den übrigen Elementen für ihre Bedürfnisse (Zwecke) gewisse Stoffe entzieht. Der Begriff des Parasitismus im engeren Sinne des Wortes entwickelt sich aus diesem Begriff von der Selbstständigkeit der einzelnen Theile. So lange das Bedürfniss der übrigen Theile die Existenz eines Theiles voraussetzt, so lange dieser Theil in irgend einer Weise den anderen Theilen nützlich ist, so lange spricht man nicht von einem Parasiten; er wird es aber von dem Augenblicke an, wo er dem übrigen Körper fremd oder schädlich wird. Der Begriff des Parasiten ist daher nicht zu beschränken auf eine einzelne Reihe von Geschwülsten, sondern er gehört allen plastischen (formativen) Formen an, vor Allem aber den heteroplastischen, welche in ihrer weiteren Ausbildung nicht homologe Producte, sondern Neubildungen hervorbringen, welche in der Zusammensetzung des Körpers (an dieser Stelle) mehr oder weniger ungehörig sind.« Aus der nicht zu verkennenden individuellen Selbstständigkeit der Parasiten und dem rein graduellen Unterschiede zwischen ihnen und normalen Bildungen lässt sich rückwärts auch auf die individuelle Selbstständigkeit der letzteren schliessen.

Noch deutlicher wird die individuelle Selbstständigkeit an solchen Gebilden, welche auch morphologisch von dem übrigen Körper[138] eine gewisse räumliche Absonderung zeigen, und dennoch in ihren selbstständigen Functionen eine für die Zwecke des ganzen Organismus dienende Leistung darstellen. Ich erinnere z.B. an die Samenfäden. Die Zeit ist vorüber, wo man die Spermatozoiden als den mund- und magenlosen Eingeweidewürmern analoge selbstständige Thiere betrachtete, denn der Zweck ihres Daseins und vor Allem ihre Entwickelungsgeschichte zeugen dagegen. Nichtsdestoweniger kann man diesen Gebilden eine Individualität nicht absprechen. Im verdünnten Sperma sieht man die Fäden zucken, sich um ihre Axe drehen, mit dem Schwänze schlagen, das Kopfende nach vorwärts schnellen und nach allen Richtungen frei umherschwimmen, indem die wriggende oder schraubenförmige Bewegung des Schwanzes die Bewegung bewirkt. Diese Bewegungen erscheinen bei den Spermatozoiden der Thierarten am willkürlichsten, wo die Befruchtung am schwierigsten ist, d.i. bei den Säugethieren, und werden um so einfacher und regelmässiger, je leichter in der absteigenden Thierreihe durch Zahl, Grösse der Eier und Einrichtung des Befruchtungsortes die Befruchtung wird. Dass eine gewisse Abhängigkeit der Existenz von bestimmten umgebenden äusseren Verhältnissen, oder auch eine Verknüpfung mit der Existenz anderer Organismen, nichts gegen die Individualität beweist, haben wir schon früher erwähnt (man denke an Schmarotzerthiere), aber die Spermatozoiden haben sogar auch ausserhalb der Samenflüssigkeit in jeder blutwarmen, chemisch indifferenten Flüssigkeit ein ziemlich langes Leben, wenn sie nur nicht durch dieselbe hygroskopisch deformirt werden; in den weiblichen Genitalien der Säugethiere leben sie Tage ja Wochen lang fort, und in den Samentaschen, welche z.B. die brünstigen männlichen Flusskrebse den Weibchen im Herbst anheften, oder in den Samenbehältern der im Herbst begatteten Hummeln und Wespen, leben sie bis zum Frühjahre fort, um dann erst die inzwischen reif gewordenen Eier zu befruchten. Dies beweist schon einen hohen Grad selbstständiger Lebensfähigkeit nach der Trennung von dem sie erzeugenden Organismus. Das morphologische Urbild aller Spermatozoiden des ganzen Thierreichs sind die Schwärmsporen des Protistenreichs, Gebilde, an deren Individualität wohl kaum ein Zweifel gewagt werden dürfte. Grade die Schwärmsporen der niederen Organismen zeigen den äussersten Grad individueller Selbstständigkeit (bei den Schleimpilzen vermehren sich sogar die Schwärmer mehrere Generationen hindurch durch Theilung), und nichts desto weniger geben ihrer viele dieselbe in dem Act der Copulation[139] auf, in welchem zwei oder mehrere Individuen ihre Individualität verlieren und zu Einem neuen Individuum verschmelzen. In der Copulation der Schwärmsporen haben wir das Urbild des Befruchtungsactes zu erkennen, in welchem ebenfalls zwei Individuen (Ei und Samenfaden) ihre Individualität in der eines einzigen neuen Individuums untergehen lassen. Wenn die Plasmodien der Schleimpilze in ihrem anscheinend regellosen fliessenden Herumkriechen bald auseinanderfliessen, bald mehrere in Eins zusammenfliessen, so wird man darin eine blosse Lebens- und Wachsthumserscheinung erkennen; man sieht alsdann, wie nahe die Zeugung dem Wachsthum auch in Bezug auf den Copulationsact der Zeugungsstoffe steht, wenn man mit dem Zusammenfliessen zweier Plasmodien das Zusammentreten einer Anzahl von Schwärmern zu einem Plasmodium vergleicht. Wenn hier nur eine Summation gleicher Individualkräfte beabsichtigt erscheint, so tritt der Gedanke an eine Ausgleichung unsichtbarer individueller Differenzen bei einer Copulation zweier Schwärmsporen schon näher, bis in der geschlechtlichen Zeugung diese Differenz zum charakteristischen Gegensatz der Zeugungsstoffe sich steigert.

Wollte man die autonomen Bewegungen der Spermatozoiden durch eine Parallele mit den Bewegungen der Flimmerhaare entkräften, so muss ich erwidern, dass meiner Ansicht nach umgekehrt die Autonomie der ersteren für die der letzteren sprechen. Eine alternirende Bewegung eines der Form nach gesonderten Gebildes, welche nachweislich weder auf blossen äusseren Reiz erfolgt, noch auch von centralen Partien aus hervorgerufen wird (da sie nach der Isolirung des kleinsten Stückes Flimmerepithelium fortdauert), muss eben aus einer im Gebilde selbst liegenden Ursache entspringen d.h. trägt den Charakter einer gewissen Individualität Dass die Bewegungen der Flimmerhaare einer Fläche häufig mit einander so übereinstimmen, dass regelmässige Totalbewegungen, fortlaufende Wellen u.s.w. entstehen, kann dieser Ansicht keinen Abbruch thun. Dasselbe findet sich auch bei bündelweis vereinigten Spermatozoiden, wo an jedem Bündel regelmässige Wellen nach einander herablaufen, oder bei solchen, die in dichtgedrängter Masse zusammengelagert sind (z.B. beim Regenwurme), wo das schöne, regelmässige Wogen mit dem eines Kornfeldes vergleichbar sein soll. Es ist eben dasselbe Zusammenwirken vieler Individuen zu einem Ziel, wie im Organismus überhaupt.

Es giebt Protisten (Amoeba diffluens und porrecta), deren einzige[140] Locomotion darin besteht, dass sie Strahlen ausschiessen, in deren einen oder auch mehrere der sich mit den Spitzen vereinigende Inhalt des Thieres nachfliesst, während das bisherige Centrum sich dadurch zum zurückbleibenden Strahl verengt, der sich nun auch nach dem neuen Schwerpunct zurückzieht. Ganz nach demselben Princip bewegen sich (nach van Recklinghausen) die Eiterkörperchen, so lange sie lebendig sind; auch sie schiessen an der Peripherie radienförmige Fortsätze aus und ziehen dieselben zurück, und zeitweise beobachtet man, dass der zähflüssige Inhalt der Zelle in einen solchen Strahl nachschiesst. Später wurde durch Cohnheim die Identität dieser Eiterkörperchen mit der häufigsten Form der weissen Blutkörperchen nachgewiesen, und deren Austritt an der Eiterungsstelle constatirt. Aehnliche Bewegungserscheinungen beobachtete alsdann Virchow an den grossen geschwänzten Zellen, welche sich in einer soeben ausgeschnittenen Knorpelgeschwulst vorfanden; an den Blutkörperchen mancher Thiere waren schon früher Bewegungen entdeckt worden. Ohne morphologisch, chemisch oder physiologisch die Eiterkörperchen und ähnliche freibewegliche Gebilde entsprechenden niederen Thieren irgend wie gleichstellen zu wollen, von denen sie sich schon durch ihre Entwickelungsgeschichte so vollständig unterscheiden, meine ich doch, dass dieselben ein gleiches Recht der Individualität wie jene beanspruchen dürfen, da sie, wenn auch nicht Thiere im zoologischen Sinn, doch Wesen sind, die sich in ihrer Umgebung ebenso zweckentsprechend und mit demselben Anschein von Willkür und Beseelung bewegen, wie die niederen Infusorien. Dass die Verhältnisse der Ernährung dem Medium accommodirt sind, entspricht ganz den allgemeinen Vorgängen in der organischen Natur, und dass sie demgemäss keinen Mund und Magen haben, kann ihre Individualität nicht beeinträchtigen, da es ja auch Thiere giebt, denen Beides fehlt.

Die neuesten Entdeckungen über die Einwanderung und Auswanderung dieser amöboïden Körperchen vom Blutstrom in die Gewebe und zurück erheben den Process der Ernährung aus dem unorganischen in's organische Gebiet, indem sie denselben ganz analog dem Zeugungsprocess, als bedingt erkennen lassen durch die lebendige Individualität seiner Träger. Die aus dem Darm aufgesogene Nahrungsflüssigkeit enthält, wie sie in die Lymphgefässe eintritt, noch keinerlei geformte Elemente, wohl aber nimmt sie solche reichlich auf aus den Lymphdrüsen; ebenso sind die Blutgefässdrüsen, vor allem die Milz, Brutstätten dieser amöboïden[141] Elemente. Dieselben wandern durch die Blutgefässwandungen hindurch in die Körpergewebe ein, indem sich zuerst ein zarter fadenförmiger Fortsatz durch eine Pore der Gefässwand hindurchschiebt, und diesem, wenn der stundenlange Process ungestört verläuft, der Gesammtinhalt des Körperchens allmählich sich nachzieht. Es sind diese Verhältnisse auf das Sicherste constatirt worden, da die Begierde dieser Körperchen zur Aufnahme fein vertheilter Pigmente die Beobachtung erleichtert. Als Bindegewebskörperchen dringen sie nun in alle Organe ein, und die Zellenwanderungen des alle Organe umhüllenden Bindegewebes sind sogar schon länger bekannt. Haben sie so ihre Aufgabe erfüllt, so treten sie durch die Wandungen der Blutgefässe oder Lymphgefässe wieder in den Blutstrom zurück. Leider wissen wir noch nichts Näheres über ihre chemischen Unterschiede beim Eintritt und Austritt und ihre etwaige Regeneration in den ernährungsfähigen Zustand. So viel ist aber gewiss, dass die farblosen Blutkörperchen auch als der Ursprung der rothen Blutkörperchen betrachtet werden müssen, welche die Träger des Athmungsprocesses im weitesten Sinne sind. Der Uebergang aus der einen in die andere Form ist durch zahllose Mittelstufen verbürgt. Die rothen Blutkörperchen bieten nun zwar an ihrer Peripherie keine sichtbare Bewegungserscheinungen wahr, aber nach Brücke's Untersuchungen, die auch von andern namhaften Histologen bestätigt gefunden worden, ist das rothgefärbte amöbroïde Individuum (Zooïd) hier nur mit seinen Bewegungen auf das Innere seines Gehäuses beschränkt, welches aus einer porösen, bewegungslosen, sehr weichen farblosen und glashellen Substanz (Oikoïd) besteht. Im normalen Zustande durchsetzt das Zooïd das ganze Oikoïd, und lässt im Centrum einen farblosen Kern übrig; in Wasser gelegt, zieht es sich aber von der Peripherie auf das Centrum zurück, so dass nun erstere farblos, letzteres roth erscheint; nicht selten sieht man vom rothen Centrum amöboïde Fortsätze nach der Peripherie ausstrahlen. – Solchen Resultaten gegenüber in Betreff einer lebendigen Individualität der Träger des Ernährungs- und Athmungsprocesses in thierischen Organismen haben sich die betreffenden Naturforscher zu dem Anerkenntniss genöthigt gesehen, dass nur Auffassung des Organismus als eines Complexes lebendiger Elementarwesen hinfort den Erscheinungen gerecht zu werden im Stande ist. Jedes dieser individuellen Wesen schwimmt selbstständig in der Lymphe oder dem Blute herum und vollzieht autonom seine durch seine eigne individuelle Natur ihm vorgezeichneten[142] Functionen, und doch passen die Resultate so organisch zusammen, als ob ein geheimes Band diese Wesen einte, oder ein geheimer Befehlshaber ihre Leistungen nach einem höheren Plane leitete.

Aber auch schon vor diesen neuesten überraschenden Aufschlüssen über die Träger der Ernährung und Athmung haben denkende Naturforscher bei der Betrachtung der Zelle, als der elementaren Grundform aller organischen Construction, sich zur Anerkennung lebendiger Individualität innerhalb des äusserlich abgegrenzten Organismus gedrungen gefühlt. »Alles Leben ist an die Zelle gebunden und die Zelle ist nicht bloss das Gefäss des Lebens, sondern sie ist selbst der lebende Theil« (Virchow, Vier Reden, S. 54). »Was ist der Organismus? Eine Gesellschaft lebender Zellen, ein kleiner Staat, wohl eingerichtet mit allem Zubehör von Ober- und Unterbeamten, von Dienern und Herren, grossen und kleinen« (S. 55). »Das Leben ist die Thätigkeit der Zelle, seine Besonderheit ist die Besonderheit der Zelle« (S. 10). »Eigenthümlich erscheint uns die Art der Thätigkeit, die besondere Verrichtung des organischen Stoffes, aber doch geschieht sie nicht anders, als die Thätigkeit und Verrichtung, welche die Physik in der unbelebten Natur kennt. Die ganze Eigenthümlichkeit beschränkt sich darauf, dass in den kleinsten Baum die grösste Mannigfaltigkeit der Stoffcombinationen zusammengedrängt wird, dass jede Zelle in sich einen Heerd der allerinnigsten Bewirkungen, der allermannigfaltigsten Stoffcombinationen durch einander darstellt, und dass daher Erfolge erzielt werden, welche sonst nirgend wieder in der Natur vorkommen, da nirgend sonst eine ähnliche Innigkeit der Bewirkungen bekannt ist« (S. 11). »Will man sich nicht entschliessen, zwischen Sammelindividuen und Einzelindividuen zu unterscheiden, so muss der Begriff des Individuums in den organischen Zweigen der Naturwissenschaft entweder aufgegeben, oder streng an die Zelle gebunden werden. Zu dem ersteren Resultate müssen in folgerichtigem Schlüsse sowohl die systematischen Materialisten, als die Spiritualisten kommen; zu dem letzteren scheint mir die unbefangene realistische Anschauung der Natur zu führen, insofern nur auf diese Weise der einheitliche Begriff des Lebens durch das ganze Gebiet pflanzlicher und thierischer Organismen gesichert bleibt« (S. 73-74). Dies ist das letzte Resultat Virchow's; man sieht, dass er an die Wahrheit rührt, ohne den Muth zu haben, sie kräftig zu ergreifen. Was uns hier angeht, ist seine wohlbegründete Auffassung der Zelle, welche er nach[143] Schleiden's und Schwann's Vorgange weiter ausgebildet und damit die thierische Physiologie und Pathologie so zu sagen auf eine neue Stufe erhoben hat; vgl. Virchow, Cellularpathologie, bes. Cap. 1 und 14. – Dass die Organismen überhaupt aus Zellen bestehen, und zwar aus so vielen mikroskopisch kleinen, dafür ist der teleologische Grund der, dass die Ernährung nur durch Endosmose bewirkt werden kann, die Endosmose nur durch sehr dünne, feste Wände möglich ist also wenn bei diesen dünnen Wänden doch noch die nöthige Festigkeit erreicht werden soll, das Ganze ein Complex sehr kleiner Zellen sein muss. Wie gross die Anzahl der Zellen ist, beweise folgendes Citat:

»Zu Zürich bei dem Tiefenhof steht eine alte Linde; jedes Jahr, wenn sie ihren Blätterschmuck entfaltet, bildet sie nach der Schätzung von Nägeli etwa zehn Billionen neuer lebender Zellen. Im Blute eines erwachsenen Mannes kreisen nach den Rechnungen von Vierordt und Welcker in jedem Augenblicke sechzig Billionen (man denke: 60,000,000,000,000) kleinster Zellkörper« (Virchow, S. 55).

Wir können nach alledem nicht bezweifeln, dass wir in jeder Zelle ein Individuum vor uns haben, ob wir aber mit der Zelle die niedrigste Stufe vom Individuum erreicht haben, welche noch Organismus ist, dies möchte noch zweifelhaft erscheinen.

Wir unterscheiden nämlich in den meisten Zellen: Zellenwand, Zelleninhalt, Kern oder nucleus, und gewöhnlich auch noch Kernkörperchen oder nucleolus. Diese Theile sind mit Bestimmtheit als Organe der Zelle zu betrachten, welche ihre besonderen Functionen haben. Die Zellenwand leitet die Einnahme und Ausgabe nach Quantität und Qualität, der nucleolus besorgt die Fortpflanzung oder Vermehrung der Zellen (Zellen ohne nucleolus sind unfruchtbar), der nucleus sichert den Bestand der Zelle und leitet wahrscheinlich die chemischen Umwandlungen und Productionen im Innern der Zelle. Wenn die relative Selbstständigkeit dieser Organe als feststehend zu betrachten ist, so kann man denselben auch kaum bestreiten, dass sie noch organische Individuen sind, denn unzweifelhaft findet innerhalb einer jeden solchen Sphäre eine organische Wechselwirkung der Theile zum Behufe der auszuübenden Function statt.

Diese von mir a priori erschlossene relative Selbstständigkeit der Organe der Zelle hat neuerdings durch Untersuchungen und Schlussfolgerungen des Botanikers Haustein, die er namentlich an den Zellen einiger Pflanzenhaare, aber auch an Parenchymzellen verschiedener Pflanzen angestellt hat, eine erwünschte Bestätigung[144] gefunden. In den grossen Haarzellen der Cucurbitaceen und vieler Compositen z.B. sieht man den Zellkern ungefähr in der Mitte der Zelle an Protoplasmabändern aufgehängt »wie die Spinne in ihrem Netz«. Die protoplasmatische sackartige Hülle des Kerns, die Bänder und die Zellwand zeigen die verschiedenartigsten Bewegungen, durch welche man sich die in der Zelle kreisenden Haupt- und Nebenströme des flüssigen Zellinhalts erklären muss. Unabhängig von den letzteren aber, weil ohne Beziehung zu ihrer Richtung und oft sogar derselben entgegengesetzt, sind die Bewegungen des Zellkerns, welche bald weniger Minuten, bald aber auch mehrerer Stunden bedürfen, um etwa den Raum der Zelle zu durchmessen. Bald sind sie geradlinig bald vielfach verschlungen, bald durchkreuzt der Kern die Zelle der Quere, bald kriecht er an einer Wand angeschmiegt dahin. Dabei verändern sowohl Kern, als Kernhülle und Bänder beständig ihre Gestalt, und das Kernkörperchen seine Lage im Kern. – Auch bei der Zellentheilung finden charakteristische Bewegungsvorgänge statt. Zunächst begiebt sich der Kern in die Mitte und die Bänder rücken zu einer Plasmaanhäufung zusammen. Dann theilt sich zuerst das Kernkörperchen in zwei, und darauf wird der Kern durch eine zarte, optisch wahrnehmbare Grenze halbirt, bis die Spaltung auch die Protoplasmaanhäufung ergreift, in welcher allmählich eine neue Cellulosewand sich ausbildet. Nun begeben sich beide neuen Kerne (in Mark-Parenchym-Zellen von Dikotyledonen) ziemlich schnell an der Wand hinkriechend an entgegengesetzte Stellen der alten Zellenwand, wo sie längere Zeit ausruhen, ehe sie ihr normales Leben wieder beginnen. »So gewinnt also der Zellkern durch die Wandelbarkeit seiner eigenen Form sowohl, wie durch die noch grössere seiner Hülle und durch die ruhelose Umlagerung und Umbildung der Bänder, die von ihm ausgehen und ihn schwebend erhalten, eine schlagende Aehnlichkeit mit einem jungen Plasmodium oder einem amöbenartigen Organismus. Ja er gleicht einem solchen während seines Umherkriechens so, dass ihn wesentlich nur die Verbindung mit dem Wandprotoplasma davon unterscheidet.« Hiernach schliesst sich Haustein der oben (S. 142) erwähnten Anschauung Brücke's an, »nach welcher man nunmehr das gesammte protoplasmatische System als einen individualisirten Organismus, d.h. ein lebendig bewegtes Eigenwesen auffassen muss, das aus Kern, peripherischer Hülle und radialen oder netzartigen Verbindungsgliedern bestehend, sich innerhalb seiner selbsterzeugten Schale, der Cellulosewandung, in dauernder Bewegung befindet,[145] welche in einem Herumgleiten hier- und dorthin und einem damit verbundenen Vorschieben und steten Umbilden der inneren Gliederung besteht. Wie die Molluske sich ihre Schale sich nicht allein baut, sondern sich in derselben bewegt, ebenso der Protoplasmaleib in seiner Zellhaut. Nicht die Ströme in den Bändern, nicht der Zellkern, nicht der Primordialschlauch für sich ist Sitz und Ursache der Bewegung. Der ganze Protoplasmaleib, der keine Substanz, sondern ein Organismus ist, bewegt sich in allen Theilen, bald zugleich, bald wechselnd, als einheitliches, amöbenartiges, belebtes Eigenwesen, das natürlich in den höheren Pflanzen nur Theilwesen eines grösseren Ganzen ist« (Botanische Ztg. 1872. Nr. 2 u. 3).

Wenn bei den Moneren oder protoplasmatischen Urthieren die Beobachtung des Mikroskops keine morphologische Differenzirung des anscheinend homogenen Schleimklümpchens mehr nachzuweisen vermag, so ergiebt sich doch schon aus der Thatsache, dass das wesentlich verschiedene Verhalten der Moneren in Fortpflanzung und Ernährung zur Unterscheidung von bereits sieben verschiedenen Arten genöthigt hat, dass wohl eine innere Differenzirung vorhanden sein muss. Wenn schon die Viscosität oder Zähigkeit eines leichtflüssigen Wassertropfens an seiner Oberfläche eine sehr viel mal grössere ist, als in seinem Innern, so wächst dieser Unterschied in erstaunlichem Maasse bei wässrigen Eiweisslösungen, muss also bei einem zähflüssigen Protoplasma-Tröpfchen oder Klümpchen auch dann vorhanden sein, wenn die Verdichtung an der Oberfläche nicht einen solchen Grad erreicht, dass sie als feste Zellhülle dem Auge sichtbar, geschweige denn als isolirte Membran ablösbar wird; die Angaben über membranlose Zellen oder Plasmaklümpchen sind daher stets nur cum grano salis zu verstehn, selbst wo eine Intussusception fester Pigmentmolecüle vermittelst amöboider Bewegungen dargethan ist, ist damit immer erst eine gewisse Zähflüssigkeit des Aggregatzustandes der Oberfläche erwiesen, aber keineswegs ein bedeutender Unterschied des Aggregatzustandes zwischen Oberfläche und Inhalt widerlegt. (Die Hüllenbildung an Tropfen ist neuerdings an Lösungen von kohlensaurem Kalk durch Famintzin sehr schön beobachtet worden, indem er concentrirte Lösungen von Chlorcalcium und kohlensaurem Kali unter allmählichem Zutritt von Wasser auf einander wirken liess.) In ähnlicher Weise, wie an der Oberfläche eine Verdichtung vorhanden ist, auch ehe sie sichtbar wird, kann auch in der Mitte eine Verdichtung statthaben, ohne dem Auge erkennbar[146] zu sein. Unter allen Umständen muss aber die Oberflächen-Verdichtung einen functionellen Unterschied von dem minder dichten Inhalt bedingen, wie er in der Resorption umspannter Beute zum Vorschein kommt; ebenso muss die innere Verdichtung des Centrums eine functionelle Differenz bedingen, wie sie bei der von innen ausgehenden Theilung zu Tage tritt. Wo also Zellmembran und Kern zu fehlen scheinen, während doch die Zelle augenscheinlich die diesen zukommenden Functionen vollzieht, da müssen nothwendig dem Auge unwahrnehmbare Analoga dieser Organe vorhanden sein; nur auf diese Weise ist die Entwickelung von kernhaltigen Membranzellen aus einfacheren Plasmaklümpchen zu begreifen, wie die Descendenztheorie sie verlangt. Wie voreilig es wäre, dem blossen Augenschein zu Liebe eine Differenzirung der Moneren in Organe von verschiedenen Functionen abzulehnen, beweist neben der Unerkennbarkeit einer vorhandenen Membran an der Spitze mancher Wimperhaare vor allem die Analogie mit dem eben befruchteten Ei, in dessen scheinbarer molecularer Homogenität doch diejenigen Differenzen vorhanden sein müssen, dass in ihrer Entwickelung zum Kinde »nachher die feinsten geistigen und körperlichen Eigenthümlichkeiten der beiden Eltern an diesem wieder zum Vorschein kommen. Staunend und bewundernd müssen wir hier vor der unendlichen für uns unfassbaren Feinheit der eiweissartigen Materie still stehen« (Häckel: Natürliche Schöpfungsgeschichte, 2. Aufl. S. 179).A19

Dies wären denn die niedrigsten Individuen, welche organische genannt werden könnten. Es fragt sich aber, ob wir überhaupt berechtigt sind, von einem Individuum zu fordern, dass es Organismus sei. So viel ist gewiss, so lange ein Ding noch Theile hat, so lange müssen diese Theile in organischer Wechselwirkung stehen, wenn die teleologische Beziehungs einheit nicht fehlen soll; d.h. so lange ein Ding noch Theile hat, muss es Organismus sein, wenn es Individuum sein will. Wie aber, wenn ein Ding keine Theile mehr hat? Wenn man von einem Dinge mit Theilen nur darum die innigste causale Beziehung der Theile verlangt, damit es die grösstmöglichste Einheit nach allen Richtungen hin besitze, sollte dann diese grösstmöglichste Einheit nicht in noch viel höherem Maasse vorhanden sein, wo das Ding seiner Natur nach einfach, d.h. ohne Theile ist, also diese Anforderung von vornherein überflüssig gemacht wird? Die Einheit des Ortes, der Ursache und des Zweckes ist mit der Einfachheit des Dinges eo ipso gegeben, die[147] Anforderung der Wechselwirkung der Theile aber, welche bei dem zusammengesetzten Dinge ein nothwendiges Uebel war, ist hier glücklicherweise schon vor ihrer Aufstellung überwunden worden, da alle Theile in Einen fallen, der zugleich das Ganze ist; die Einheit der Einfachheit ist also viel stärker, als die Einheit der Wechselwirkung der Theile. Es thut dem, worauf es hierbei ankommt, keinen Eintrag, wenn man den Begriff der Einheit als auf das Einfache unanwendbar behauptet, denn wir waren ja auf den Begriff der Einheit nur dadurch gekommen, dass wir dasjenige suchten, was Individuum ist, d.h. was seiner Natur nach nicht getheilt werden darf. Dies ist aber bei dem Einfachen unzweifelhaft mindestens ebenso sehr, als bei dem Einheitlichen der Fall, ja sogar noch mehr als bei diesem, denn die aus vereinigten Theilen bestehende Einheit trägt doch immer noch die Möglichkeit der Auflösung in Theile in sich, das Einfache aber nicht.A20

Ein solches einfaches Ding, welches also den höchsten Anspruch auf den Begriff des Individuums hat, kennen wir aber in der stofflosen, punctuellen Atomkraft, welche in einem einfachen continuirlichen Willensacte besteht. Ausser den Atomen aber kann es im Unorganischen keine Individuen geben, denn jedes Ding, das aus mehreren Atomen besteht, hat diese zu seinen Theilen, und muss demzufolge Organismus sein, wenn es Individuum sein will. Es ist also falsch, einen Krystall oder einen Berg ein Individuum zu nennen. Dagegen kann man wohl die Himmelskörper, insoweit sie noch lebendig sind, Individuen nennen, denn sie sind dann in der That Organismen; mit ihrem Absterben aber stirbt, wie bei Thieren und Pflanzen, auch die Individualität. Wer daran zweifelt, dass ein lebender Himmelskörper wie die Erde ein Organismus ist, der studire nur die Wechselwirkung von Atmosphäre und Innerem der Erde durch den Kreislauf des Regens, die Wechselwirkung von Schichtenformation und niederem Thierreiche, sowie der Schichten unter einander in der Metamorphose der Gesteine, und der organischen Reiche unter einander, kurz der studire Geologie, Meteorologie und den Naturhaushalt im Grossen überhaupt; überall wird er das Wesen des Organischen, Erhaltung und Steigerung der Form durch Wechsel des Stoffes, in vollem Maasse bestätigt finden, ohne dass damit behauptet werden sollte, dass dazu gerade directe Willensbetheiligungen des Unbewussten (ausser den Atomkräften in den vorhandenen Combinationen und den bei der Schichtenbildung betheiligten Organismen) erforderlich seien.[148]

Betrachten wir nun, wie sich das Bewusstseinsindividuum zu dem materiellen, oder besser ausgedrückt, äusseren Individuum verhält. Es leuchtet sofort ein: nur wo ein äusseres Individuum gegeben ist, kann ein Bewusstseinsindividuum möglich werden, aber nicht in jedem äusseren Individuum braucht ein Bewusstseinsindividuum zu Stande zu kommen; das äussere Individuum ist also eine Bedingung, aber nicht die zureichende Ursache des Bewusstseinsindividuums.

Wir haben gesehen, dass eine gewisse Art von materieller Bewegung in gewisser Stärke die Bedingung der Bewusstseinsentstehung ist; es müssen also schon alle solche äussere Individuen von Erzeugung eines Bewusstseinsindividuums ausgeschlossen sein, welche an Art oder Stärke ihrer Bewegungen jene Bedingungen nicht erfüllen. Es ist wohl möglich, dass die Atomkräfte, vielleicht auch noch manche Zellen von zu fester oder zu flüssiger Beschaffenheit sich in diesem Falle befinden. Unorganische Massen ohne äussere Individualität haben selbstredend auch keine Bewusstseinsindividualität, denn selbst wenn die einzelnen Atome ihr Bewusstsein haben sollten, so würde dies aus Mangel an verbindender Leitung stets in atomistischer Zersplitterung bleiben, aber nie zu einer höheren Einheit gelangen. Wo wir zuerst sichtbare Spuren von Bewusstsein finden, das ist an der Zelle mit halbflüssigem Inhalt (Protoplasma der Protisten); hier ist unzweifelhaft die Einheit des Bewusstseins durch dieselben Bedingungen herbeigeführt, wie seine Entstehung, da der diese Bedingungen erfüllende Theil des Zelleninhaltes ziemlich homogen auf allen Seiten der Zelle vertheilt ist. Wir werden also annehmen dürfen, dass, wo in einer Zelle Bewusstsein vorhanden ist, der äusseren Individualität auch eine innere Bewusstseinsindividualität entspricht.

Wo mehrere Zellen zu einem Individuum höherer Ordnung zusammentreten, brauchen darum die Bewusstseine der einzelnen Zellen noch keineswegs zu einer höheren Einheit verbunden zu sein, denn dies hängt von dem Vorhandensein und der Güte der Leitung ab. Indess dürfte die Behauptung wohl nicht gewagt erscheinen dass zwischen frischen, lebenskräftigen Zellen stets ein gewisses, noch so geringes Maass von Leitung stattfindet, mindestens immer zwischen zwei benachbarten Zellen; es fragt sich nur, ob der Grad der Erregung auch die Reizschwelle überschreitet. Wird durch die Empfindung einer Zelle vermittelst Leitung in der benachbarten ebenfalls eine Empfindung hervorgerufen, so findet offenbar ein indirecter[149] Einfluss von jeder Zelle auf jede andere statt, und wenn auch eine so indirecte und auf mehrere Zellen hin offenbar verschwindend kleine Beeinflussung wegen des wachsenden Leitungswiderstandes nothwendig sehr bald unterhalb der Reizschwelle bleiben muss und folglich nicht von einer Bewusstseinsindividualität des Ganzen zu reden berechtigt, so ist doch eine gewisse Solidarität der Interessen dabei nicht zu verkennen. Wenn hiernach keineswegs jedem äusseren Individuum höherer Ordnung ein Bewusstseinsindividuum höherer Ordnung zu entsprechen braucht, so ist doch so viel sicher, dass verschiedene Bewusstseinsindividuen nur dann sich zu einem Bewusstseinsindividuum höherer Ordnung verbinden können, wenn die ihnen entsprechenden äusseren Individuen zu einem Individuum höherer Ordnung verknüpft sind; denn die zur Bewusstseinseinheit nöthige Leitung kann nur durch hoch organisirte Materie hergestellt werden, diese aber stellt unmittelbar die Einheit der Gestalt, der organischen Wechselwirkung u.s.w., kurz das äussere Individuum höherer Ordnung her.

Es bewahrheitet sich also in jeder Hinsicht unsere Behauptung, dass die äussere Individualität wohl Bedingung, aber nicht zureichende Ursache der Bewusstseinsindividualität ist, weil letztere auch noch drei andere Bedingungen voraussetzt: eine gewisse Art, eine gewisse Stärke der materiellen Bewegung, und bei Individuen höherer Ordnung eine gewisse Güte der Leitung. Wenn Eine dieser drei Bedingungen nicht erfüllt ist, so kann dem äusseren Individuum kein Bewusstseinsindividuum entsprechen.

Ich glaube, dass die hier durchgeführte Trennung und Auseinandersetzung des äusseren und inneren Individuums wesentlich zur Klärung der Individualitätsfrage beitragen dürfte; dieselbe ist die nothwendige Ergänzung zur Erkenntniss der Relativität des Individualitätsbegriffes.

Die Relativität des Individualitätsbegriffes ist übrigens keine neue Erkenntniss der letzten Jahrzehnte. Spinoza sagt, wie schon oben erwähnt: »Der menschliche Körper besteht aus vielen Individuen von verschiedener Natur, von denen jedes sehr zusammengesetzt ist«, und Göthe: »Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst insofern es uns als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Versammlung von lebendigen, selbstständigen Wesen, die der Idee, der Anlage nach gleich sind, in der Erscheinung aber gleich oder ähnlich, ungleich oder unähnlich werden können. Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Theile einander[150] gleich oder ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Theile einander. Je ähnlicher die Theile einander sind, desto weniger sind sie einander subordinirt. Die Subordination der Theile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.« (Letztere Bemerkung sagt dasselbe, was wir uns mit dem Gleichnisse der monarchischen und republikanischen Regierungsform zu Veranschaulichen gesucht haben.)

Am ausführlichsten ist die Relativität des Individualitätsbegriffes von Leibniz behandelt worden, wenn auch seine Auffassung in Folge seines abweichenden Begriffes von »Leib« sich wesentlich von der unsrigen unterscheidet. Bei Leibniz hat zunächst jede Monade einen ihr eigenthümlichen unveränderlichen und unvergänglichen Leib, welche ihre Schranke bildet, und durch welchen erst ihre Endlichkeit gesetzt wird. Dieser Leib ist nicht Substanz, so wenig wie die Seele der Monade, einseitig gefasst, Substanz ist, und zwischen diesem Leibe und der Seele existirt keine prästabilirte Harmonie, da sie hier überflüssig wäre, sondern sie sind Beides nur Momente, verschieden gerichtete Kräfte, einer und derselben einfachen Substanz, der Monade, welche ihre natürliche Einheit ist, und dies ist Leibniz's Identität von Seele und Leib (Denken und Ausdehnung). Dieser unveräusserliche Leib ist jedoch etwas rein Metaphysisches und nichts Physisches; höchstens bei den Atomen kann man in gewissem Sinne die Leibniz'sche Auffassung in physischer Hinsicht gelten lassen. Bei allen Individuen oder Monaden höherer Ordnung dagegen ist die Vorstellung eines unveräusserlichen Leibes noch ausser dem sichtbaren, aus anderen Monaden oder Atomen zusammengesetzten Leibe (eine Vorstellung, die lange Zeit unter dem Namen eines Aetherleibes herumgespukt hat), von der Wissenschaft glücklich beseitigt worden; wir wissen jetzt, dass alle Organismen nur durch den Stoffwechsel ihr Bestehen haben. Wir wollen aber Leibniz nicht Unrecht thun; was er sich unter dem der Monade eigenthümlichen Körper gedacht hat, ist jedenfalls ein metaphysisch viel haltbarerer Gedanke; ich vermuthe, dass er damit nichts weiter hat ausdrücken wollen, als die Fähigkeit der immateriellen Monade, bestimmte räumliche Wirkungen zusetzen, eine Fähigkeit, die allerdings allen Monaden, der höchsten wie der niedrigsten zukommt, und die nur durch die eigenthümliche Beziehung der Wirkungsrichtungen auf Einen Punct in den Atom-Monaden und deren Combinationen für die sinnliche Wahrnehmung von Aussen[151] die Erscheinung der Körperlichkeit hervorruft. Immerhin aber ist es kein glücklich gewähltes Wort, das Vermögen, räumlich zu wirken, mit dem Namen Körper zu belegen, da nur die Combination der niedrigsten Art von räumlichen Kräften dieses Wort in Anspruch nehmen kann. Lassen wir aber diesen unveräusserlichen Monadenkörper bei Seite und betrachten, wie Leibniz die Zusammensetzung der Monaden auffasst.

Wenn mehrere Monaden zusammentreten, so bilden sie entweder ein unorganisches Aggregat, oder einen Organismus. Im Organismus sind höhere und niedere Monaden, in dem unorganischen Aggregat nur niedere Monaden enthalten, daher findet in ersterem Subordination, in letzterem nur Coordination der Monaden statt. Auf je höherer Stufe der Organismus steht, desto mehr tritt das Uebergewicht Einer Monade an Vollkommenheit gegen alle übrigen hervor; diese heisst alsdann Centralmonade. Die höheren Monaden werden von den niederen unklar und unvollkommen vorgestellt, die niederen von den höheren dagegen klar und vollkommen. »Et une créature est plus parfaite qu'une autre en ce qu'on trouve en elle ce qui sert à rendre raison a priori de ce qui se passe dans l'autre, et c'est par là, qu'on dit, qu'elle agit sur l'autre. Mais dam les substances simples ce n'est qu'une influence idéale d'une Monade sur l'autre.« (Monadologie Nr. 50, 51, p. 709.)

Leibniz läugnet den influxus physicus zwischen den Monaden, indem er sagt, dieselben hätten keine Fenster, durch die Etwas hineinscheinen könnte; der influxus idealis, den er an dessen Stelle setzt, besteht ihm nur in einer Uebereinstimmung a priori dessen, was die Monaden vorstellen, d.h. in einer prästabilirten Harmonie. Nun ist aber das Verhältniss der Centralmonade in einem Organismus zu der Summe der subordinirten Monaden das, was man zu allen Zeiten das Verhältniss von Seele und Leib genannt hat; zwischen diesem Leibe und der Seele besteht also nach Leibniz allerdings prästabilirte Harmonie.

Das Verhältniss zwischen der Seele und dem complexen wandelbaren Leibe hat Leibniz von Aristoteles übernommen; es ist das Verhältniss von energeia und hylê, von sich auswirkender Form oder Idee und dem Material, in welchem die Idee sich auswirkt. Das Verhältniss von Seele und unveräusserlichem eigenthümlichen Leibe dagegen hat Leibniz von Spinoza übernommen, nach welchem die Eine Substanz überall mit den beiden unzertrennlichen Attributen: Denken und Ausdehnung, erscheint. Beide Verhältnisse[152] fallen merkwürdiger Weise in den niedrigsten, den Atom-Monaden zusammen, und zwar durch den einfachen Kunstgriff der Natur, sämmtliche Wirkungsrichtungen einer solchen Monade auf einen Punct zu beziehen. Leider hat Leibniz diese beiden zur Verwechselung Anlass gebenden Bedeutungen von Leib oder Körper nicht genügend getrennt, und ist deshalb vielfach missverstanden worden.

Das Wesentliche für uns an der Leibniz'schen Lehre ist die Aggregation vieler Monaden oder Individuen zu einem Complex, welcher (als Körper) einer Monade oder einem Individuum höherer Ordnung (als Seele) subordinirt wird. Hätten Leibniz die Resultate der heutigen Physik, Anatomie, Physiologie und Pathologie zu Gebote gestanden, so würde er nicht versäumt haben, seine Theorie mit Rücksicht auf Atome, Zellen und Organismen weiter auszuführen; so aber war und blieb es nur ein genialer Griff, der der nöthigen empirischen Stützen entbehrte. – Was wir dagegen nicht acceptiren können, ist die künstliche und ungenügende Hypothese der prästabilirten Harmonie, durch welche alles reale Geschehen überhaupt aufgehoben und der Weltprocess in ein beziehungsloses Nebeneinander von gesonderten Vorstellungsabläufen in unthätigen isolirten Monaden zerpflückt wird. Wenn Leibniz jeden realen Einfluss der Monaden auf einander ausdrücklich ausschliesst, so ist doch der influxus idealis, den er an Stelle des influxus physicus setzt, ein übelgewählter, weil irreleitender Ausdruck. Denn allerdings soll nach ihm der Inhalt der Vorstellungskette in jeder Monade in jedem gegebenen Zeitpunct dem Inhalt der Vorstellungskette jeder andern Monade auf gewisse Weise entsprechen, aber dieses Entsprechen (Zusammenstimmen, Harmonie) soll keineswegs daraus resultiren, dass etwa die Vorstellung einer Monade durch einen idealen Einfluss die gleichzeitige einer andern bestimmt (wie man doch meinen sollte, aus dem Wortlaut: influxus idealis entnehmen zu können) sondern daraus, dass der Inhalt des Vorstellungsablaufs seit Ewigkeit her in alle unendliche Zukunft für jede Monade vorherbestimmt oder prädestinirt ist, und zwar in der Weise prädestinirt ist, dass zwischen den verschiedenen Vorstellungsabläufen jederzeit eine gewisse Uebereinstimmung besteht. Die so vorherbestimmte oder prästabilirte Harmonie ist also ein spieleriger Mechanismus, der obenein ganz zwecklos ist; denn wenn z.B. die verschiedenen Vorstellungsabläufe eine so verschiedene Geschwindigkeit hätten, dass niemals unter ihnen Harmonie bestände, so würden die Monaden gar nichts davon merken können, und sich gerade so befinden wie im[153] andern Fall. Diese Theorie, die jeden Einfluss der Monaden auf einander, also jede Causalität aufhebt, ist mithin völlig unbrauchbar.

Was uns ferner von Leibniz unterscheidet, ist die gewonnene Erkenntniss, erstens, dass das organische Individuum höherer Ordnung nur in der betreffenden Einheit der Individuen niederer Ordnung besteht,A21 und dass das Bewusstseinsindividuum überhaupt erst durch eine Wechselwirkung gewisser materieller Theile des organischen Individuums mit dem Unbewussten entsteht. Es folgt hieraus, dass die Centralmonade oder das Centralindividuum weder in Bezug auf den Organismus, noch in Bezug auf das Bewusstsein etwas jenseit oder ausserhalb der subordinirten Monaden oder Individuen Stehendes ist, sondern dass, wenn im höheren Individuum noch irgend etwas neu Hinzukommendes ausser der Verbindung der niederen Individuen enthalten ist, dies nur ein unbewusster Factor sein kann. Allein in Betreff dieses unbewussten Factors, den wir als das Regens im organischen und Bewusstseins-Leben des Individuums kennen gelernt haben, kann die Frage entstehen, ob wir es mit einer für jedes Individuum gesonderten Centralmonade zu thun haben, oder ob die Functionen des Unbewussten von einem für alle Individuen identischen und gemeinsamen Wesen ausgehen. Da schliesslich auch Leibniz sich genöthigt sieht, das beziehungslose Nebeneinander seiner fensterlosen Monaden zum Ineinander, d.h. zum Aufgehobensein aller Monaden in einer absoluten Centralmonade umzugestalten, so kann man die Frage auch so stellen: weisen die Strahlenbündel unbewusst-psychischer Functionen in den verschiedenen Individuen unmittelbar auf ein und dasselbe absolute Centrum, oder führen sie zunächst auf verschiedene relative Centra, und erst mittelbar durch diese zu dem allgemeinen Centrum der Welt? Hierin spitzt sich die Frage nach der Individualität des Unbewussten zu nachdem man sich überhaupt erst über die Einheit des Unbewussten als solcher vergewissert hat; der Wichtigkeit des Problems gemäss behandeln wir dasselbe in einem eignen Capitel.[154]

A16

S. 126 Z. 7 v. u. Wie die Wechselwirkung der Theile nur da Bedingung der Individualität sein kann, wo Theile gegeben sind, so können räumliche und zeitliche Einheit oder Continuität nur da Bedingungen der Individualität sein, wo ein räumliches, beziehungsweise zeitliches Ding gegeben ist. Wo ein Wesen über Zeit, Raum Getheiltheit erhaben ist (z.B. das All- Eine Weltwesen), da werden natürlich diese Bedingungen unanwendbar; sie treten erst da in Kraft, wo sich das Seiende in die Raumzeitlichkeit ausgebreitet und in materielle Getheiltheit zersplittert hat. Es entspricht dem inductiven Gange der Untersuchung, dass bei der erfahrungsmässig gegebenen Welt der raumzeitlichen Vielheit begonnen wird und zunächst die Bedingungen der Individualität, innerhalb dieser aufgesucht werden.

A17

S. 126 Z. 4 v. u. Man muss hier einen engeren und einen weiteren Begriff der Individualität unterscheiden; der erstere verlangt die räumliche Continuität, der letztere kann dieselbe entbehren. Die räumliche Continuität ist schliesslich doch nur ein Mittel für die Erleichterung der Wechselwirkung der Theile, und gilt dem Beschauer als sinnliches Merkmal und unmittelbare Bürgschaft der letzteren, – mit Recht, insoweit die Ausbildung eines individuellen Centralbewusstseins von der räumlichen Continuität bedingt erscheint, mit Unrecht, insofern die Ausbildung eines individuellen Centralbewusstseins durch die räumliche Continuität der Gestalt allein noch keineswegs gesichert ist (z.B. bei den Pflanzen). Da nun aber die Ausbildung eines individuellen Centralbewusstseins keineswegs als Bedingung der Individualität gelten kann, so steht auch nichts im Wege, den Begriff der Individualität im weiteren Sinne auf solche Gruppen von Individuen im engeren Sinne anzuwenden, welche wie ein Bienenschwarm oder ein Volk die übrigen Merkmale der Individualität mit einer gewissen örtlichen Zusammengehörigkeit (dem gemeinsamen Bienenstock oder dem Vaterland) ohne Continuität verknüpfen, und dieselben als »Individuen höherer Ordnung« zu bezeichnen. Es kommt noch hinzu, dass die räumliche Continuität doch immer nur ein falscher sinnlicher Schein ist. Der Unterschied zwischen den Individuen im engeren und im weiteren Sinne des Worts schrumpft also dahin ein, dass die Abstände zwischen den Theilen bei den ersteren Molecularentfernungen, bei den letzteren sinnenfällige Entfernungen sind. Beide aber besitzen eine räumliche Einheit im weiteren Sinne des Worts.

8

Vgl. dessen »Generelle Morphologie der Organismen« Berlin, Reimer, 1866 Bd. I. S. 251. Capitel 8 und 9 dieses Werks, das ich leider erst nach Erscheinen der 4ten Auflage der Phil. d. Unb. kennen lernte, bilden die beste und gründlichste Bestätigung meiner hier über den Begriff der Individualität ausgesprochenen Ansichten.

9

Aus diesem Grunde kann ich Häckel's Unterscheidung zwischen morphologischer und physiologischer Individualität nicht beipflichten, da letztere nur ein schlechtgewählter Ausdruck für vitale Selbstgenügsamkeit oder biologische Selbstständigkeit ist. Gewiss muss man jedem selbstständigen und sich selbst erhaltenden Lebenwesen Individualität zuschreiben, aber nicht deshalb, weil es physiologisch selbstständig ist, sondern weil die physiologische Selbstständigkeit das Ineinandersein jener verschiedenen Einheiten voraussetzt, in dem die Individualität besteht. Häckel selbst erklärt (»generelle Morphologie« I S. 333) das »physiologische Individuum« für seiner Natur nach theilbar im Gegensatz zu dem seiner Natur nach untheilbaren »morphologischen Individuum«, und giebt damit offen den Widerspruch des Begriffs gegen den Namen zu. Gewiss ist es physiologisch wichtig, festzustellen, mit welcher Ordnung von Individuen bei jeder Thier- und Pflanzenklasse die biologische Selbstständigkeit beginnt, aber warum diesem völlig ausreichenden und deutlichen Begriff des »Bion« oder selbstständigen Lebewesens den des »physiologischen Individuums« substituiren? Andrerseits enthält Häckel's Begriff des morphologischen Individuums selbst schon physiologische Elemente in sich, welche unvermerkt durch die unentbehrlichen Einheiten des Zweckes und der Wechselwirkung der Theile hineingeschmuggelt werden. Wir glauben daher nicht irre zu gehen, wenn wir bei dem einheitlichen Begriff des organischen Individuums stehen bleiben, und Häckel's versuchte Spaltung desselben ablehnen.

A18

S. 136 Z. 10 v. u. Haeckel hält auch neuerdings noch in seiner »Anthropogenie« (S. 246) die morphologische Gleichwerthigkeit der Metameren in Gliederthieren und Wirbelthieren aufrecht, indem er sich darauf stutzt, dass auch im Embryo des Wirbelthieres aus den zuerst auftretenden vorderen Urwirbeln die übrigen sich gewöhnlich wie bei den Ringelwürmern durch terminale Knospung entwickeln. Aber: si duo faciunt idem, non est idem, d.h. die morphologische Bedeutung eines ontogenetisch auftretenden Metamers ist nur aus der phylogenetischen Entwickelungsgeschichte desselben sicher zu erkennen. Hier zeigt aber die Rückwärtsverfolgung der Ringelwürmer die Abstammung von einer Kette gleichartiger Einzelorganismen, wahrend die Vorfahren des Wirbelthieres nirgends eine solche Kette, sondern immer nur einen in sich einfachen Organismus (z.B. den Amphioxus) darstellen, dessen Chorda auf einer gewissen Entwickelungsstufe behufs Erlangung eines festeren Skeletts verknöchert, zugleich aber behufs Beibehaltung grösserer Beweglichkeit sich in innerlich in Metameren gliedert.

A19

S. 147 Z. 24. Haeckel behauptet, dass die Homogenität der Masse bei den kernlosen Moneren durch die mikroskopische Beobachtung der im Leibe der Monere sich nach allen Richtungen ungehindert und gleichmässig bewegenden Pigment-Körperchen bewiesen werde, welche man dem Moner »zum Fressen« dargeboten hat. Allerdings ist hiernach die Richtigkeit folgender Sätze zuzugestehen: »Jeder Theil kann Nahrung aufnehmen und verdauen, jeder Theil ist reizbar und empfindlich; jeder Theil kann sich selbstständig bewegen; und jeder Theil ist endlich auch der Fortpflanzung und Regeneration fähig« (Anthropogenie S. 381). Nur ist unter »Theil« dabei ein Stock von empirischer Grösse zu verstehen, und keineswegs etwa ein chemisches Molecül des betreffenden Eiweissstoffes; nur unter dieser Voraussetzung ist von einer Homogenität der Moneren im Gegensatz zu den kernhaltigen Amöben zu sprechen, aber keineswegs in der chemischen Bedeutung des Wortes. Denn dass auch die niedrigsten Organismen nicht »structurlos« sind, wie eine Eiweisslösung es ist, zeigt die Vertheilung der Körnchen durch die ganze Protoplasmamasse so wie die Unterscheidbarkeit eines schwammartigen Plasmagerüstes und eines dessen Hohlräume fallenden Saftes. Die Functionen der Ernährung, Bewegung und Empfindung werden auch bei den kernhaltigen Zellen nicht vom Kern, sondern von dem körnchenhaltigen Protoplasma vollzogen, und nur die Function der Fortpflanzung, d.h. die Initiative zur Zellentheilung ist bei letzteren auf den Kern centralisirt, während bei den Moneren auch diese noch decentralisirt ist. Welche Rolle bei allen diesen Functionen die Körnchen spielen, darüber will ich keine Vermuthungen aufstellen; jedenfalls reichen sie aus, um ausser der chemischen Structur des Protoplasma auch von einer morphologischen Structur desselben reden zu können, und unterscheiden die lebenden Protoplasmaklümpchen specifisch von allen äusserlich ihnen ähnelnden Eiweisströpfchen. Wäre die chemische Structur der Proteinstoffe allein schon ausreichend, um die Lebenserscheinungen des Protoplasma's zu verursachen, so müsste es mindestens sehr auffallend genannt werden, dass alle Versuche, aus fein vertheilten Eiweisströpfchen Moneren zu erzeugen, bis jetzt resultatlos geblieben sind.

A20

S. 148 Z. 19. Die »Einfachheit« des continuirlichen Willensactes in der Atomkraft ist nur relativ, nicht absolut zu nehmen. Er ist einfach im Verhältniss zu den zusammengesetzten Willensacten der chemischen Molecüle, und ist einfach in der einheitlichen Beziehung aller Kraftwirkungen auf den einfachen punktuellen Sitz der Kraft. Aber er ist nicht einfach in dem Sinne, als ob er keine innere Mannichfaltigkeit mehr enthielte; denn er gliedert sich in demselben Zeitpunkt in so viele mannichfach abgestufte und verschieden gerichtete Kraftwirkungen, als ausser ihm Atome in der Welt vorhanden sind. In Bezug auf seine Thätigkeit ist also das Atom nicht einfach, sondern eine gesetzmässige Einheit höchst mannichfaltiger und verwickelter Beziehungen, welche im Verlauf der Zeit sich stetig ändern. In Bezug auf sein Sein erscheint das Atom nur für so lange als absolut einfach, wie es als eine gesonderte räumliche Substanz aufgefasst wird, da die Punktualität eines substantiellen Seins absolute Einfachheit bedeuten würde. Da die Untersuchung von der gemeinen Ansicht der Materie im vorigen Capitel zu einer andern emporgeführt hat, nach welcher die Atomkraft weder räumlich noch eine gesonderte Substanz ist, so muss auch die Auffassung des Atoms als eines absolut einfachen Dinges auf die gemeine Ansicht beschränkt bleiben und in der philosophischen Auffassung durch den Begriff einer relativ einfachen Thätigkeitsgruppe ersetzt werden, welche in dem imaginären punktuellen Sitz der Kraft ihren ideellen Einheitsbezug hat. Es ist dabei aber wohl zu beachten, dass die mannichfach gegliederten Kraftwirkungen des Atoms auf andere Atome nicht etwa verschiedene Theile des Atoms sind, sondern nur Seiten seiner Thätigkeit, die sich aus der Einheit der gesammten Kraftäusserung des Atoms in keiner Weise heraustrennen lassen.

A21

S. 154 Z. 5. Es ist wohl zu beachten, dass in Z. 4 nicht »aus« sondern »in« steht. Das Individuum höherer Ordnung hat nur in der Einheit der von ihm umfassten Individuen niederer Ordnung, und nicht etwa irgendwo ausser dieser seinen Bestand und den Grund seiner Individuation, oder die Grenzen seiner Beschränkung. Aber das Individuum höherer Ordnung besteht keineswegs nur aus den betreffenden Individuen niederer Ordnung, so dass es bloss ihre Resultante wäre, wie dies schon aus den beiden folgenden Sätzen hervorgeht, in denen ein hinzukommender unbewusster Factor als das Regens im organischen und Bewusstseinsleben des Individuums bezeichnet wird. Der Kampf zwischen der naturalistisch-hylozoistischen Ansicht und der manistischen, welche ich vertrete, kommt erst im dritten Theil zum Austrag; aber es schien nöthig, hier ein Missverständniss abzuwehren, zu welchem Z. 4-5 dieser Seite bei verschiedenen Lehren Anlass gegeben hat.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 124-155.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
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