13. Resumé des ersten Stadiums der Illusion

[350] Gesetzt, es läge in der Natur des Willens, gleichsam in Brutto ein gleiches Maass Lust wie Unlust zu produciren, so würde das Nettoverhältniss von Lust und Unlust schon ganz im Allgemeinen durch folgende fünf Momente sehr zu Gunsten der Unlust modificirt werden:

a) die Nervenermüdung vermehrt das Widerstreben gegen die Unlust, vermindert das Bestreben, die Lust festzuhalten, vermehrt also die Unlust an der Unlust, vermindert die Lust an der Lust;

b) die Lust, welche durch Aufhören oder Nachlassen einer Unlust entsteht, kann nicht entfernt diese Unlust aufwiegen und von dieser Art ist der grösste Theil der bestehenden Lust;

c) die Unlust erzwingt sich das Bewusstsein, welches sie empfinden muss, die Lust aber nicht, sie muss gleichsam vom Bewusstsein entdeckt und erschlossen werden, und geht daher sehr oft dem Bewusstsein verloren, wo das Motiv zu ihrer Entdeckung fehlt;

d) die Befriedigung ist kurz und verklingt schnell, die Unlust dauert, insoweit sie nicht durch Hoffnung limitirt wird, so lange, wie das Begehren ohne Befriedigung besteht (und wann bestände ein solches nicht?).

e) Gleiche Quantitäten Lust und Unlust sind bei ihrer Vereinigung in einem Bewusstsein nicht gleichwerthig, sie compensiren sich nicht, sondern die Unlust bleibt im Ueberschuss, oder der Ausschluss jeglicher Empfindung wird der fraglichen Vereinigung vorgezogen.

Diese fünf Momente bringen durch ihr Zusammenwirken practisch annähernd dasselbe Resultat hervor, als wenn die Lust, wie Schopenhauer will, etwas Negatives, Unreelles, und die Unlust das allein Positive und Reelle wäre.

Betrachtet man die einzelnen Richtungen des Lebens, die verschiedenen Begehrungen, Triebe, Affecte, Leidenschaften und Seelenzustände,[350] so hat man ihrer eudämonologischen Bedeutung nach folgende Gruppen zu unterscheiden:

a) solche, nie nur Unlust, oder doch so gut wie gar keine Lust bringen (vgl. Nr. 11);

b) solche, die nur den Nullpunct der Empfindung, oder den Bauhorizont des Lebens, die Privation von gewissen Gattungen der Unlust repräsentiren, als da sind Gesundheit, Jugend, Freiheit, auskömmliche Existenz, Bequemlichkeit und zum grössten Theile auch Gemeinschaft mit Seinesgleichen oder Geselligkeit;

c) solche, die nur als Mittel zu ausser ihnen liegenden Zwecken eine reale Bedeutung haben, deren Werth also nur nach dem Werthe jener Zwecke bemessen werden kann, die aber, als Selbstzweck betrachtet, illusorisch sind, z.B. Streben nach Besitz) Macht und Ehre, theilweise auch Geselligkeit und Freundschaft;

d) solche, die zwar dem Handelnden eine gewisse Lust, dem oder den leidend Betheiligten aber eine diese Lust weit überwiegende Unlust bringen, so dass der Totaleffect, und bei vorausgesetzter Reciprocität auch der Effect für jeden Einzelnen Unlust ist, – z.B. Unrechtthun, Herrschsucht, Jähzorn, Hass und Rachsucht (selbst insoweit sie sich in den Grenzen des Rechtes halten), geschlechtliche Verführung und der Nahrungstrieb der Fleischfresser;

e) solche, die durchschnittlich dem sie Empfindenden weit mehr Unlust als Lust verursachen, z.B. Hunger, Geschlechtsliebe, Kinderliebe, Mitleid, Eitelkeit, Ehrgeiz, Ruhmsucht, Herrschsucht, Hoffnung;

f) solche, die auf Illusionen beruhen, welche im Fortschritt der geistigen Entwickelung durchschaut werden müssen, worauf denn zwar die durch sie entstehende Unlust zwar ebensowohl als die Lust vermindert wird, letztere aber in viel schnellerem Masse, so dass kaum etwas von ihr übrig bleibt, z.B. Liebe, Eitelkeit, Ehrgeiz, Ruhmsucht, religiöse Erbauung, Hoffnung;

g) solche, die mit vollem Bewusstsein als Uebel erkannt und doch freiwillig übernommen werden) um anderen Uebeln zu entgehen, die für noch grösser gehalten werden (gleichgültig, ob sie es sind, oder nicht), z.B. Arbeit (statt Noth und Langeweile), Ehestand, angenommene Kinder, und auch das sich Hingeben an solche Triebe, von denen man erkannt hat, dass sie überwiegende Unlust bringen, deren unterdrückte Widerspenstigkeit man aber für noch quälender hält;

h) solche, die überwiegende Lust bringen, wenn auch eine durch mehr oder weniger Unlust erkaufte Lust, z.B. Kunst und Wissenschaft,[351] welche aber verhältnissmässig Wenigen zu Theil werden und bei noch Wenigeren auf eine wahre Liebe und Genussfähigkeit für sie stossen, welche Wenigen dann wieder gerade solche Individuen sind, die die übrigen Leiden und Schmerzen des Lebens um so stärker empfinden.

Bei alle diesem hat man sich fortwährend den Satz des Spinoza vor Angen zu halten, »dass wir nichts erstreben wollen, verlangen, noch begehren, weil wir es für gut halten, sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, verlangen und begehren« (Eth. Th. 3. Satz 9. Anm.), und diese Wahrheit als Berichtigungsmittel seines gegen die Resultate der rationellen Betrachtung sich auflehnenden Gefühlsurtheiles stets und überall in Anwendung bringen.

Fasst man dann die allgemeine und specielle Betrachtung zusammen, so ergiebt sich das unzweifelhafte Resultat, dass gegenwärtig die Unlust nicht nur in der Welt im Allgemeinen in hohem Grade überwiegt, sondern auch in jedem einzelnen Individuum, selbst dem unter den denkbar günstigsten Verhältnissen stehenden. Es geht daraus ferner hervor, dass die minder empfindlichen und die mit einem stumpferen Nervensysteme begabten Individuen besser daran sind, als die sensibleren Naturen, weil bei dem gleichzeitigen Minderwerthe der percipirten Lust und Unlust auch die Differenz zu Gunsten der Unlust kleiner ausfällt. Dies stimmt durchaus mit dem an Menschen empirisch Constatirten überein, hat aber vermöge seiner allgemeinen Ableitung auch allgemeine Gültigkeit, so dass es auf Thiere und Pflanzen mit auszudehnen ist.

Erfahrungsmässig sind die Individuen der niederen und ärmeren Classen und rohen Naturvölker glücklicher, als die der gebildeten und wohlhabenden Classen und der Culturvölker, wahrlich nicht deshalb, weil sie ärmer sind und mehr Noth und Entbehrungen zu tragen haben, sondern weil sie roher und stumpfer sind; man denke an »das Hemd des Glücklichen«, in welcher Erzählung eine tiefe Wahrheit liegt. So behaupte ich denn auch, dass die Thiere glücklicher (d.h. minder elend) als die Menschen sind, weil der Ueberschuss von Unlust, welchen ein Thier zu tragen hat, kleiner ist als der, welchen ein Mensch zu tragen hat Man denke nur, wie behaglich ein Ochse oder ein Schwein dahin lebt, fast als hätte es vom Aristoteles gelernt, die Sorglosigkeit und Kummerlosigkeit zu[352] suchen, statt (wie der Mensch) dem Glücke nachzujagen. Wie viel schmerzvoller ist schon das Leben des feinfühligeren Pferdes gegen das des stumpfen Schweines, oder gar gegen das des Fisches im Wasser, dem ja sprichwörtlich wohl ist, weil sein Nervensystem auf so viel tieferer Stufe steht. So viel beneidenswerther, wie das Fischleben als das Pferdeleben ist, mag das Austerleben als das Fischleben und das Pflanzenleben als das Austerleben sein, bis wir endlich beim Hinabsteigen unter die Schwelle des Bewusstseins die individuelle Unlust ganz verschwinden sehen.

Andererseits erklärt sich jetzt schon rein aus der höheren Sensibilität, warum die Genies sich so viel unglücklicher im Leben fühlen, als die gewöhnliche Menschheit, wozu aber meist noch (wenigstens bei Denkergenies) die Durchschauung der meisten Illusionen hinzukommt. Dies ist nämlich das Dritte, was wir aus der bisherigen Betrachtung gelernt haben, dass das Individuum um so besser daran ist, je mehr es in der durch den instinctiven Trieb geschaffenen Illusion befangen ist (»wer die Kenntniss mehrt, mehrt das Weh« – Koheleth); denn erstens hat sie sein Urtheil über das wahre Verhältniss der vergangenen Lust und Unlust gefälscht, und es fühlt in Folge dessen sein Elend nicht so sehr und wird von diesem Gefühle des Elends nicht so bedrückt, und zweitens bleibt ihm nach allen Richtungen das Glück der Hoffnung, über deren Enttäuschung es sich möglichst schnell durch neue Hoffnungen, sei es in derselben, sei es in einer anderen Richtung, hinwegsetzt. Es lebt also gleichsam von Dusel zu Dusel, und tröstet sich über alles gegenwärtige Elend mit der Illusion, die ihm eine goldene Zukunft verheisst. (Man denke an das Käthchen von Heilbronn oder an den Mr. Micawber in David Copperfield.)

Dieses Glück des Illusionsdusels ist besonders der Charakter der Jugend. Jeder Jüngling, jedes Mädchen sieht sich mehr oder weniger als den Helden oder die Heldin eines Romanes an, und tröstet sich über die gegenwärtigen Unglücksfälle oder Widerwärtigkeiten wie bei der Romanlectüre mit der Aussicht auf den glänzenden Schluss; bloss mit dem Unterschiede, dass er ausbleibt, und dass sie vergessen, dass hinter dem scheinbar glänzenden Romanschlusse auch bloss die gemeine Misere des Tages lauert.

Von der reichen Auswahl der Jugendhoffnungen wird aber bei zunehmendem Alter und Erfahrung einer nach der anderen als illusorisch erkannt, und der Mann steht schon verhältnissmässig viel[353] ärmer an Illusionen da als der Jüngling; ihm ist gewöhnlich nur noch Ehrgeiz und Erwerbstrieb geblieben.

Auch diese beiden werden vom Greise als illusorisch erkannt. wenn nicht der Ehrgeiz in kindische Eitelkeit, der Erwerbstrieb in Geiz sich verknöchert, und unter verständigen Greisen wird man in der That nicht mehr viel Illusionen finden, die auf das Leben des Individuums Bezug haben, ausgenommen natürlich die instinctive Liebe zu ihren Kindern und Enkeln.

Das Resultat des individuellen Lebens ist also, dass man von Allem zurückkommt, dass man wie Koheleth einsieht: »Alles ist ganz eitel«, d.h. illusorisch, nichtig.

Im Leben der Menschheit wird dieses erste Stadium der Illusion und das Zurückkommen von derselben durch die alte (jüdisch-griechisch-römische) Welt repräsentirt. In den früheren asiatischen Reichen sind die später gesonderten Richtungen der Lebens- und Weltanschauung noch zu unklar gemischt. Der Mosaismus spricht den Glauben an die Erreichbarkeit der individuellen irdischen Glückseligkeit sowohl in seinen Verheissungen, als auch in seiner allgemeinen optimistischen Weltanschauung ohne transcendenten Hintergrund, auf's Unverhohlenste aus. Im Griechenthum macht dasselbe Streben sich auf edlere Weise im Kunst- und Wissenschaftsgenusse und in einer gleichsam ästhetischen Auffassung des Lebens geltend; auch das Hellenenthum geht in einem, wenn auch verfeinerten individuellen irdischen Glückseligkeitsstreben auf, da die politeia nur Erhaltung und Schutz gewähren soll. Man denke an den Ausspruch des todten Achill in der Odyssee (XI. 488-491).


»Nicht mehr rede vom Tod' ein Trostwort, edler Odysseus!

Lieber ja wollt' ich das Feld als Tagelöhner bestellen,

Einem dürftigen Mann ohn' Erb' und eigenen Wohlstand,

Als die sämmtliche Schaar der geschwundenen Todten beherrschen.«


Die bekannte pessimistische Chorstelle in dem Meisterwerke des greisen Sophocles kann nicht als Ausdruck der hellenischen Anschauung im Allgemeinen gelten; sie beweist neben andern ähnlichen Stellen und neben der auf den Meisterwerken der hellenischen Kunst bei aller scheinbaren Sättigung dennoch ausgebreiteten ahnungsvollen Schwermuth, dass die genialen Individuen schon in jener Periode im Stande waren, die Illusionen des Lebens zu durchschauen, denen der Geist ihrer Zeit sich noch ohne kritische Velleitäten hingab.[354]

Die römische Republik bringt allerdings ein neues Moment hinzu: das Glückseligkeitsstreben in und durch die Erhöhung des Glanzes und der Macht des engsten Vaterlandes. Nachdem dieses Streben nach Erreichung der Weltherrschaft sich für die Glückseligkeit als illusorisch erweist, wird auch vom Römerthume die in's Gemeine herabgezogene griechische Weltanschauung in Gestalt des seichtesten Epikuräismus adoptirt, und die alte Welt überlebt sich bis zum äussersten Ekel am Leben.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 350-355.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
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