9. Schlaf und Traum

[344] Insofern der Schlaf ein traumloser ist, ist er eine vollständige Unthätigkeit des Hirnes und Hirnbewusstseins, denn sobald das Hirn nur irgend in Thätigkeit ist, fängt es an, mit Bildern zu spielen. Ein solcher bewusstloser Zustand macht auch jede Lust oder Unlustempfindung unmöglich; tritt aber eine Nervenerregung ein, welche Lust oder Unlust erregen muss, so unterbricht sie auch den unthätigen Zustand des Hirnes. Der bewusstlose Schlaf steht also in Bezug auf das eigentlich menschliche oder Hirn-Bewusstsein mit dem Nullpunct der Empfindung gleich. Dies schliesst nicht aus, dass nicht andere Nervencentra, wie Rückenmark und Ganglien ihr Bewusstsein fortsetzen; dies ist sogar für den Fortgang der Athmung, Verdauung, Blutbewegung u.s.w. nöthig; aber dieses ist doch bloss ein tief animalisches Bewusstsein, etwa auf der Stufe eines niederen Fisches oder Wurmes stehend, welches bei dem Ansatz des menschlichen Glückes nur eine sehr geringe Bedeutung haben kann. Aber auch in diesem animalischen Bewusstsein der niederen Nervencentra wechseln Lust und Unlust ab, eine Lust kann nur bei normalem und ungestörtem Fortgang der vegetativen Functionen stattfinden, falls jenes animalische Bewusstsein genügt, diese Lust zu percipiren; jede Störung aber wird sofort als Unlust empfunden, und die Unlust schafft sich immer den Grad des Bewusstseins, der zu ihrer Perception nötig ist.

Es liegt ein Irrthum nahe, welcher dazu verleiten kann, ein deutlicheres Wohlbehagen im bewusstlosen Schlaf anzunehmen, als in der That vorhanden sein kann; dies ist das behagliche Gefühl, das man öfters beim Einschlafen und Aufwachen, d.h. bei den Uebergangszuständen von Schlaf und Wachen verspürt. Hier ist aber das Hirnbewusstsein noch wirklich vorhanden und jenes Behagen offenbar eine Perception des Hirnbewusstseins; man vergisst also dabei, dass ja gerade diese Hirnperception des Behagens im traumlosen Schlaf verschwindet. Von dem Behagen aber, welches meine niederen Nervencentra empfinden, kann ich mir keine Vorstellung machen, weil ich ja eben nur mein Hirnbewusstsein bin. Bei alledem ist der bewusstlose Schlaf der relativ glücklichste Zustand, weil er der einzige uns bekannte schmerzlose im gesunden Leben des Gehirns ist.

Was den Traum betrifft, so treten mit ihm alle Plackereien des wachen Lebens auch in den Schlafzustand hinüber, nur das Einzige[344] nicht, was den Gebildeten einigermassen mit dem Leben aussöhnen kann: wissenschaftlicher und Kunstgenuss. Dazu kommt noch, dass sich eine Freude im Traume nicht leicht anders als in angenehmer, freudiger Stimmung ausdrücken wird, z.B. als Gefühl der Körperlosigkeit, des Schwebens, Fliegens u. dgl., während sich Unlust nicht nur als Stimmung, sondern auch in allerlei bestimmten Unannehmlichkeiten, Aerger, Verdruss, Zank und Streit, unbegreiflicher Unmöglichkeit, das Gewollte zu erreichen, oder sonstigen Chicanen und Widerwärtigkeiten ausspricht. Im Durchschnitt wird sich daher das Urtheil über den Werth des Traumes nach dem über das wahre Leben richten, aber immerhin noch ein ganz Theil schlechter ausfallen.

Das Einschlafen ist, wenn man schnell einschlafen kann, eine Lust, aber doch nur deshalb, weil die Müdigkeit das Wachen zu einer Qual gemacht hatte und das Einschlafen mich von dieser Qual befreit. Das Aufwachen soll für manche Leute auch eine Lust sein; ich habe das aber nie finden können, glaube auch, dass diese Behauptung auf einer Verwechselung mit derjenigen Lust beruht, welche darin besteht, bei noch vorhandener Müdigkeit nicht aufstehen zu müssen, sondern mit halbem Bewusstsein fortschlummern zu können. Aber wie wenige Menschen sind in der Lage, diese Lust geniessen zu können! Dass ein schnell in völlige Munterkeit übergehendes Erwachen irgend Jemandem eine Lust sein sollte, kann ich nicht glauben, halte es vielmehr für eine Unlust, die darin ihren Grund findet, dass man die Bequemlichkeit der Ruhe und des Schlafes nun wieder mit den Plackereien des Tages vertauschen muss. Dass nach völliger Ermunterung und genügender Dauer des Schlafes die Müdigkeit des vorigen Abends verschwunden und der status quo der Leistungs- und Genussfähigkeit wieder hergestellt ist, kann doch unmöglich als positive Lust gelten, da damit nur der Bauhorizont der Empfindung wieder erreicht ist. Wohl aber ist es eine entschiedene Unlust, wenn man nach dem Aufstehen noch Müdigkeit verspürt, weil man nicht ausgeschlafen hat. In dieser Lage, nicht genügende Schlafenszeit vor der Arbeit erübrigen zu können, befindet sich aber ein grosser Theil der ärmeren Classe aller Völker. Selbst von westphälischen Bauern habe ich gehört, dass die ganze Familie nach der Feldarbeit des Tages noch mehrere Stunden in die Nacht hineinspinnen muss, obwohl diese Arbeit die Stunde kaum mit drei Pfennigen lohnt.

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 344-345.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3