Orientirung über die Aufgabe

[285] Die Aufgabe dieses Capitels ist, zu untersuchen, ob das Sein oder das Nichtsein dieser bestehenden Welt den Vorzug verdiene.A58 Mehr als irgend vorher muss hierbei um die Nachsicht des Lesers gebeten werden, da eine einigermaassen erschöpfende Behandlung des Gegenstandes ein ganzes Werk in Anspruch nehmen würde.A59 Dennoch kann hier sowohl aus äusseren Gründen, als auch besonders deshalb nur eine episodische Behandlung gestattet sein, weil das Resultat dieser Untersuchung zwar für die Klärung der letzten Principien der Philosophie von Wichtigkeit, aber nicht von unmittelbarem Einflusse auf den im Titel des Werkes versprochenen Hauptinhalt, »das Unbewusste«, ist. Gleichwohl hoffe ich in einer kurzen, mannigfache neue Gesichtspuncte bietenden Betrachtung auch den Gegnern der hier vertretenen Ansichten Anregungen zu geben, welche für das Durchlesen dieser Abschweifung einigermaassen entschädigen dürften.

Wenn wir auf die persönlichen Urtheile der grössten Geister aller Zeiten blicken, so sprechen diejenigen unter ihnen, die überhaupt Gelegenheit nahmen, über diesen Punct ihre Meinung zu äussern, sich entschieden in verurtheilendem Sinne aus.

Plato sagt in der Apologie: »Ist nun der Tod ohne alle Empfindung und gleichsam wie ein Schlaf, in dem der Schlummernde keinen Traum sieht, so wäre er ja ein wunderbarer Gewinn. Denn ich meine, wenn Jemand eine solche Nacht, in der er so fest geschlafen, dass er keinen Traum gehabt, herausgriffe, und die anderen Nächte und Tage seines Lebens neben diese Nacht stellte, und dann[285] nach ernstlicher Ueberlegung sagen sollte, wie viele Tage und Nächte er in seinem Leben besser und angenehmer zugebracht habe, als diese Nacht, dass nicht etwa bloss ein gewöhnlicher Mann, sondern der grosse König von Persien selbst diese leicht werde zählen können, den anderen Tagen und Nächten gegenüber.« Schöner und anschaulicher lässt sich der Vorzug, den im Durchschnitt das Nichtsein vor dem Sein verdient, kaum ausdrücken.

Kant sagt (Werke VII. S. 381): »Man muss sich zwar nur schlecht auf die Schätzung des Werthes desselben (des Lebens) verstehen, wenn man noch wünschen kann, dass es länger währen solle, als es wirklich dauert, denn das wäre doch nur eine Verlängerung eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden Spieles.« S. 393 nennt er das Leben »eine Prüfungszeit, der die Meisten unterliegen und in welcher auch der Beste seines Lebens nicht froh wird

Fichte erklärt die natürliche Welt für »die allerschlimmste, die da sein kann«, und tröstet sich hierüber nur mit dem Glauben an die Möglichkeit einer Erhebung in die Seligkeit einer übersinnlichen Welt vermittelst des reinen Denkens. Er sagt (Werke V. S. 408-409): »Muthig begeben sie sich auf diese Jagd der Glückseligkeit, innig sich aneignend und liebend sich hingebend dem ersten besten Gegenstande, der ihnen gefällt und der ihr Streben zu befriedigen verspricht. Aber sobald sie einkehren in sich selbst, und sich fragen: bin ich nun glücklich? – wird es aus dem Innersten ihres Gemüths vernehmlich ihnen entgegentönen: o nein, du bist noch ebenso leer und bedürftig als vorher! Hierüber mit sich im Reinen, meinen sie, dass sie nur in der Wahl des Gegenstandes gefehlt haben, und werfen sich in einen andern. Auch dieser wird sie ebensowenig befriedigen, als der erste: kein Gegenstand wird sie befriedigen, der unter Sonne oder Mond ist.... So sehnen sie und ängstigen ihr Leben hin; in jeder Lage, in der sie sich befinden, denkend, wenn es nur anders mit ihnen werden möchte, so würde ihnen besser werden, und nachdem es andere geworden ist, sich doch nicht besser befindend; an jeder Stelle, an der sie stehen, meinend, wenn sie nur dort auf der Anhöhe, die ihr Auge fasst, angelangt sein würden, würde ihre Beängstigung weichen; – treu jedoch wiederfindend auch auf der Anhöhe ihren alten Kummer.... Vielleicht auch leisten sie Verzicht auf Befriedigung nur für dieses irdische Leben, lassen sich aber dagegen eine gewisse durch Tradition auf uns gekommene Anweisung auf eine Seligkeit[286] jenseits des Grabes gefallen. In welcher bejammernswerthen Täuschung befinden sie sich! Ganz gewiss zwar liegt die Seligkeit auch jenseits des Grabes für denjenigen, für welchen sie schon diesseits begonnen hat; durch das blosse Sichbegrabenlassen aber kommt man nicht in die Seligkeit; und sie werden im künftigen Leben, und in der unendlichen Reihe aller künftigen Leben, die Seligkeit ebenso vergebens suchen, als sie dieselbe in dem gegenwärtigen Leben vergebens gesucht haben, wenn sie dieselbe in etwas Anderem suchen, als in dem, was sie schon hier so nahe umgiebt, dass es denselben in der ganzen Unendlichkeit nie näher gebracht werden kann, in dem Ewigen. – Und so irrt denn der arme Abkömmling der Ewigkeit, verstossen aus seiner väterlichen Wohnung, immer umgeben von seinem himmlischen Erbtheile, nach welchem seine schüchterne Hand zu greifen bloss sich fürchtet, unstät und flüchtig in der Wüste umher, allenthalben bemüht, sich anzubauen; zum Glück durch den baldigen Einsturz jeder seiner Hütten erinnert, dass er nirgends Ruhe finden wird als in seines Vaters Hause.«

Schelling sagt (Werke I. 7. S. 399): »Daher der Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörbare Melancholie alles Lebens.« Ferner hat er (Werke I. 10. S. 266-268) eine sehr schöne Stelle, welche ich ganz durchzulesen empfehle; hier kann ich nur einige Bruchstücke anführen: »Freilich ist es ein Schmerzensweg, den jenes Wesen,... das in der Natur lebt, auf seinem Hindurchgehen durch diese zurücklegt, davon zeugt der Zug des Schmerzes, der auf dem Antlitz der ganzen Natur, auf dem Angesicht der Thiere liegt.... Aber dieses Unglück des Seins wird eben dadurch aufgehoben, dass es als Nichtsein genommen und empfunden wird; indem sich der Mensch in der möglichsten Freiheit davon zu behaupten sucht.... Wer wird sich noch über die gemeinen und gewöhnlichen Unfälle eines vorübergehenden Lebens betrüben, der den Schmerz des allgemeinen Daseins und das grosse Schicksal des Ganzen erfasst hat?« »Angst ist die Grundempfindung jedes lebenden Geschöpfes« (I. 8, 322). »Schmerz ist etwas Allgemeines und Nothwendiges in allem Leben.... Aller Schmerz kommt nur von dem Sein« (I. 8, 335). »Die Unruhe des unablässigen Wollens und Begehrens, von der jedes Geschöpf getrieben wird, ist an sich selbst die Unseligkeit« (II. 1, 473; vgl. auch I. 8, 235-236; II. 1, 556-557, 560).A60

Ich will mich mit diesen Citaten begnügen, einige weitere findet man in Schopenhauer's Welt als Wille und Vorstellung II. Capitel 46.A61[287]

Was beweisen aber solche subjective Meinungsäusserungen ohne beigefügte Gründe? Muss man ihnen nicht vielmehr gerade deshalb misstrauen, weil sie von hervorragenden Geistern ausgehen, die von jener melancholischen Trauer angesteckt sind, welche das Erbtheil fast aller Genies ist, weil sie sich in der ihnen unterlegenen Welt nicht heimisch fühlen können (vgl. Aristoteles Probl. 30, 1)? Gewiss, der Werth der Welt muss mit ihrem eigenen Maassstabe, nicht mit dem des Genies gemessen werden. Sehen wir deshalb weiter.

Man denke sich Einen, der kein Genie ist, aber einen Mann von universeller moderner Bildung, mit allen äusseren Gütern einer beneidenswerthen Lage ausgestattet, in den kräftigsten Mannesjahren, der sich des Vorzuges, welchen er vor den niederen Ständen, vor den ungebildeten Nationen und vor den Mitgliedern roherer Zeiten geniesst, in vollem Maasse bewusst ist, und die von allerlei ihm ersparten Unbequemlichkeiten geplagten über ihm Stehenden keineswegs beneidet, einen Mann, der weder durch übermässigen Genuss erschöpft und blasirt, noch jemals durch besondere Schicksalsschläge niedergedrückt worden ist.

Nun denke man sich den Tod zu diesem Manne treten und sprechen: »Deine Lebenszeit ist abgelaufen und in dieser Stunde fällst Du der Vernichtung anheim; doch hängt es von Deiner jetzigen Willensentscheidung ab, nach vollständigem Vergessen alles Bisherigen Dein jetzt beschlossenes Leben noch einmal genau in derselben Weise durchzumachen. Nun wähle!«

Ich bezweifle, dass der Mann die Wiederholung des vorigen Spieles dem Nichtsein vorziehen wird, wenn er bei uneingeschüchterter ruhiger Ueberlegung ist und wenn er nicht überhaupt so gedankenlos ohne jede Selbstbesinnung dahingelebt hat, dass er in seiner Unfähigkeit, an den Erfahrungen seines Lebens eine summarische Kritik zu üben, mit seiner Antwort bloss dem Instincte des Lebenwollens um jeden Preis Ausdruck giebt, oder doch hierdurch sein Urtheil allzusehr verfälschen lässt. Wie viel mehr aber muss nun dieser Mann das Nichtsein erst einem Wiedereintritt in's Leben vorziehen, welcher ihm nicht die günstigen Bedingungen verbürgt, wie sie sein voriges Leben bot, welcher im Gegentheil es völlig dem Zufall überlässt, in welche neuen Lebensbedingungen er einträte welcher also mit einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ihm schlechtere Lebensbedingungen bietet, als die, welche er soeben verschmähte.[288]

In der Lage dieses Mannes befände sich aber das Unbewusste in jedem Augenblick einer neuen Geburt, wenn es wirklich die Möglichkeit einer Wahlentscheidung hätte.

Aber auch bei diesem Beispiele ist der die Ansichten der Genies treffende Vorwurf nicht zu vermeiden, dass man eine durch Bildung weit über das Durchschnittsmaass erhöhte Intelligenz befragt habe, dass aber, da jede einzelne Erscheinung nach ihrem Maassstabe beurtheilt werden muss, die Welt im Ganzen nur dann annähernd richtig beurtheilt werden könne, wenn die Beurtheilung nach dem Durchschnittsmaasse aller einzelnen Erscheinungen stattfindet. Es bleibt aber aus obigem Beispiele, wenn es an sich richtig ist, immerhin Das bestehen, dass diese Stufe der Intelligenz bereits die Erscheinung, von der sie getragen ist, verurtheilt, wozu sie unbestreitbar der allein competente Gerichtshof ist, wogegen der Irrthum nur darin liegt, dass sie sich für competent hält, auch das unter ihr stehende zu verurtheilen, während dieses doch ebenfalls allein nach seinem eigenen Maasse gemessen werden darf.

Dieser Irrthum ist aber nicht zu verwundern, denn er findet auch da ganz allgemein statt, wo die Intelligenz nicht so hoch steht, um die Erscheinung, von der sie getragen wird, zu verurtheilen; man frage z.B. einen Holzhauer oder einen Hottentotten, oder einen Orang-Utang, ob er lieber Vernichtung oder Wiedergeburt in einem Nilpferde oder einer Laus wählen würde; sie alle würden vermuthlich die Vernichtung vorziehen, aber trotzdem die Wiederholung ihres eigenen Lebens der Vernichtung vorziehen, gerade ebenso wie das Nilpferd und die Laus eine Wiederholung ihres Lebens der Vernichtung vorziehen würden.

Dieser Irrthum entspringt aber daher, dass der Gefragte sich im Moment der Entscheidung mit seiner jetzigen Intelligenz in das Leben der niederen Stufe versetzt, wo er es natürlich unerträglich finden muss, und vergisst, dass ihm dann auf der niederen Stufe auch nur die Intelligenz dieser niederen Stufe zu ihrer Beurtheilung in Gebote steht.

Es bleibt also in der That nichts übrig, als jede Erscheinungsstufe des Unbewussten nach ihrem eigenen Maasse zu beurtheilen und dann von diesen sämmtlichen Specialurtheilen die algebraische Summe zu ziehen, welche dann zugleich eine reale unbewusste Einheit, nämlich die Totalität aller an dem All-Einen Wesen gesetzten subjectiven Gefühlsbestimmungen repräsentirt. Jede Beurtheilung von einem fremden Standpuncte liefert unbrauchbare Resultate; denn[289] jedes Wesen ist gerade so glücklich, wie es sich fühlt, nicht wie ich mich an seiner Stelle mit meiner Intelligenz fühlen würde, da dies eine unwirkliche Unterstellung ist.

Schmerz und Lust sind nur, insofern sie empfunden werden; sie haben also überhaupt keine Realität ausser im empfindenden Subjecte; mithin kommt ihnen eine objective Realität nicht unmittelbar, sondern nur vermittelst der objectiven Realität des Subjectes zu, in welchem sie existiren, d.h. ihre Realität ist unmittelbar eine subjective, und nur insofern sie subjective Realität haben, haben sie mittelbar auch objective. Hieraus folgt, dass es für die Realität der Empfindung keinen anderen unmittelbaren Maassstab giebt, als den subjectiven, und dass demnach eine Täuschung oder Unwahrheit des Gefühles als solchen unmöglich ist.

Wohl kann das Gefühl insofern unwahr genannt werden, als die Vorstellungen unwahr sind, durch welche es erregt wird, aber dann liegt die Täuschung doch immer nur in der Vorstellung über das Object, aber das Gefühl selbst, gleichviel ob es auf realer Basis oder auf einer Illusion beruht, ist immer gleich wahr und gleich berechtigt, in der grossen Summe in Rechnung gestellt zu werden.

Wenn nun der Unterschied in dem Urtheile, welches die Intelligenz der Laus über ihr Leben fallen würde, und dem, welches meine Intelligenz über ihr Leben fällt, einzig darauf beruht, dass sich die Laus in Illusionen befindet, welche ich nicht theile, und dass ihr diese Illusionen einen Ueberschuss von gefühlter, also realer Glückseligkeit gewähren, welcher sie ihr Leben der Nichtexistenz desselben vorziehen lässt, so hätte offenbar die Laus Recht und ich Unrecht. So einfach ist aber die Entscheidung doch nicht, denn es bleiben ausser dieser Quelle des Irrthums von meiner Seite noch Quellen des Irrthums in der Antwort der Laus übrig, welche ihr Urtheil verfälschen, wie erstere das meinige. Wenn nämlich auch allerdings der Lebenswerth jedes Wesens nur nach seinem eigenen subjectiven Maassstabe in Anschlag gebracht werden kann, und hierbei jede Illusion gleich der Wahrheit gilt, so ist doch damit keineswegs gesagt, dass jedes Wesen aus den sämmtlichen Affectionen seines Lebens die richtige algebraische Summe ziehe, oder mit anderen Worten, dass sein Gesammturtheil über sein eigenes Leben ein in Bezug auf seine subjectiven Erlebnisse richtiges sei. Ganz abgesehen von dem zur Fällung eines solchen summarischen[290] Urtheiles nothwendigen Grade von Intelligenz, bleibt doch erstens die Möglichkeit von Gedächtniss- und Combinationsfehlern, und zweitens von einer unbewussten Beeinflussung des Urtheils durch den Willen und das Gefühl übrig.

Wenn man annehmen darf, dass erstere Fehler sich bei den Urtheilen einer grossen Anzahl von Individuen aufheben dürften, so fällt dagegen letztere Fehlerquelle um so schwerer in's Gewicht. Wer da weiss, wie gewaltig die unbewusste Beeinflussung der Vorstellung und des Urtheiles durch den Willen, durch Instincte, Affecte und Gefühle ist, der wird sofort die grosse Bedeutung der hierdurch möglichen Fehler anerkennen. Man denke zunächst daran, wie sich im Gedächtnisse die unangenehmen Eindrücke verwischen und die angenehmen haften bleiben, so dass selbst ein in der Wirklichkeit höchst fatales Ereigniss oder Abenteuer in der Erinnerung im lieblichsten Lichte prangt (juvat meminisse malorum), in Folge hiervon muss die resumirende Erinnerung zu einem weit günstigeren Facit über den Lustgehalt des eignen Lebens gelangen, als eine nicht durch die Erinnerungsbrille getrübte Addition der wirklich im Laufe des Lebens gefühlten Lust und Unlust ergeben würde. Was die Erinnerung an Vertuschung der real empfundenen Unlust noch nicht zu leisten im Stande ist, das leistet ganz gewiss der Instinct der Hoffnung (vgl. unten Nr. 12) für die in Zukunft real zu empfindende, und die Bilanz der Vergangenheit wird bei allen jüngeren Personen unwillkürlich durch Mithineinziehen der Vorstellung einer Zukunft gefälscht, welche durch die Hoffnung von den Hauptursachen der vergangenen Unlust gesäubert ist, ohne die später neu hinzukommenden Ursachen der Unlust mit in Rechnung zu stellen. Also nicht das eigne Leben, wie es wirklich war und sein wird, sondern wie es sich im Verschönerungsspiegel der Erinnerung und im trügerischen rosigen Duft der Hoffnung dem unkritischen Blicke darstellt, wird zum Ziehen der Bilance zwischen der Summe der Lust und der Summe der Unlust benutzt, und da ist es denn kein Wunder, wenn sich ein Resultat zu ergeben scheint, das mit der Wirklichkeit wenig genug übereinstimmt. – Man erwäge ferner, dass die närrische Eitelkeit der Menschen weit genug geht, nicht nur gut, sondern auch glücklich lieber scheinen, als sein zu wollen, so dass Jeder sorgfältig verheimlicht, wo ihn der Schuh drückt, und dafür mit einer Wohlhabenheit, einer Zufriedenheit und einem Glücke zu prunken sucht, die er gar nicht besitzt; diese Fehlerquelle fälscht das Urtheil, das man über Andere fällt nach dem, was sie über[291] die Lust- und Unlustbilanz ihres Lebens äussern und zur Schau tragen, ebenso, wie die beiden ebengenannten Fehlerquellen das Urtheil über die eigne Vergangenheit. Urtheilt man aber danach, wie andre Leute sich über das Glückseligkeitsfacit ihres ganzen Lebens auszusprechen pflegen, so ist es klar, dass man hier dem Product aus beiden angeführten Fehlern gegenübersteht. Man sieht schon hieraus, mit welcher Vorsicht man die Urtheile der Menschen über ihren eigenen Glückszustand aufnehmen muss.

Wenn man endlich bedenkt, wie a priori zu vermuthen steht, dass derselbe unbewusste Wille, der die Wesen mit diesen Instincten und Affecten geschaffen hat, auch durch diese Instincte und Affecte auf die bewusste Vorstellung in dem Sinne des nämlichen Lebensdranges influiren wird, so würde man sich nur darüber zu wundern haben, wie die instinctive Liebe zum Leben im Bewusstsein über dieses selbe Leben ein den Stab brechendes Urtheil sollte aufkommen lassen können; denn dasselbe Unbewusste, welches das Leben will, und zwar zu seinen ganz bestimmten Zwecken gerade dieses Leben trotz seines Elends will, wird gewiss nicht unterlassen, die betreffenden Lebewesen mit gerade soviel Illusionen auszustatten, als sie brauchen, um das Leben nicht bloss erträglich zu finden, sondern um auch genug Lebensmuth, Elasticität und Frische für die von ihren zu vollbringenden und alle ihre Kraft in Anspruch nehmenden Lebensaufgaben übrig zu haben, und sich so über das Elend ihres Daseins hinwegzutäuschen.

In diesem Sinne sagt Jean Paul sehr gut: »Wir lieben das Leben nicht, weil es schön ist, sondern weil wir es lieben müssen, und daher kommt es, dass wir oft den verkehrten Schluss ziehen: da wir das Leben lieben, so sei es schön.« Was hier Liebe zum Leben genannt ist, ist nichts Anderes als der instinctive Selbsterhaltungstrieb, die conditio sine qua non der Individuation, dessen negativer Ausdruck die Vermeidung und Abwehr von Störungen und im höchsten Grade die Todesfurcht ist, deren schon im Beginne des Cap. B. I. Erwähnung gethan ist. Der Tod an sich ist gar kein Uebel, denn der damit verknüpfte Schmerz fällt ja noch in's Leben und würde nicht mehr als der gleiche Schmerz in Krankheiten gefürchtet werden, wenn nicht das Aufhören der individuellen Existenz damit verknüpft wäre, was nicht mehr empfunden wird, also doch erst recht kein Uebel sein kann. So wenig also die Todesfurcht anders als aus dem blinden Selbsterhaltungstriebe begriffen werden kann, so wenig die Liebe zum Leben.[292]

Wie es sich im Allgemeinen mit der Todesfurcht und der Liebe zum Leben verhält, so im Besonderen in vielen einzelnen Richtungen des Lebens, welche festzuhalten und eifrig durchzuleben aus der instinctive Trieb spornt, infolge dessen unser Urtheil über die algebraische Summe der aus dieser Richtung erwachsenden Genüsse und Schmerzen verfälscht und der Eindruck der soeben erst gemachten Erfahrung durch die neue trügerische Hoffnung übertüncht wird. Dies ist bei allen eigentlich treibenden Leidenschaften, dem Hunger, der Liebe, der Ehre, der Habsucht u.s.w. der Fall.

Es müsste nun hier, streng genommen, in Bezug auf die verschiedenen Triebe und Richtungen des Lebens untersucht werden, in wie weit der Trieb und Affect selbst eine Verfälschung des Urtheils über den durch die betreffende Richtung summarisch erlangten Genuss oder Schmerz bewirkt, doch wäre dies eine sehr schwierige Aufgabe, weil die Beistimmung eines jeden Lesers davon abhängen würde, dass derselbe sich zur Beurtheilung seines bisherigen Urtheiles in jeder dieser Richtungen gegenwärtig von diesem verfälschenden Einflüsse des Triebes und Affectes völlig frei mache, was wohl schwerlich zu erwarten ist, denn das vermag kaum eine gewissenhafte jahrelange Selbstbeobachtung zu leisten. Abgesehen von der geringen Aussicht auf Erfolg, welche diese Bemühung ihrer Natur nach bieten würde, wäre noch eine äussere Unbequemlichkeit damit verknüpft. Diese Betrachtung nämlich würde uns keineswegs der Aufgabe überheben, hinterher alle diejenigen Gefühle einer Kritik zu unterwerfen, welche unbeschadet ihrer vollen Realität auf Illusionen beruhen, und welche daher mit Zerstörung dieser Illusionen bei wachsender bewusster Intelligenz mit zerstört werden.

Diese Untersuchung können wir uns nicht ersparen, weil aller Fortschritt in der Welt auf Steigerung der bewussten Intelligenz abzielt.

Die niederen Thiere und Pflanzen werden seit Beginn den organischen Lebens mehr und mehr durch höhere, die höheren Thiere durch den Menschen verdrängt, und die Menschheit wird mit der Zeit in ihrer Durchschnittsmasse auf einen Standpunct der Intelligenz und Weltanschauung kommen, wo jetzt nur wenige Gebildete stehen.

Die Frage, in wie weit die Gefühle auf Illusionen beruhen, ist also für die Entscheidung unseres Problems von höchster Wichtigkeit, da das, was aus der Welt wird, das wohin sie zielt, für die[293] Beurtheilung ihres Werthes offenbar eine noch weit grössere Bedeutung hat, als das provisorische Entwickelungsstadium, in welchem sie sich zufällig jetzt befindet.

Wir würden also dann die nämlichen Triebe und Lebensrichtungen noch einmal unter diesem zweiten Gesichtspuncte zu betrachten haben, und es leuchtet ein, dass hierbei manche Wiederholungen vorkommen müssten, theils um das Verständniss nicht zu stören, theils weil im concreten Falle die beiden Gesichtspuncte so eng in einander greifen, dass es oft kaum möglich scheint, sie streng zu sondern. Ich ziehe es daher vor, die Betrachtung nach beiden Gesichtspuncten mit einander zu verweben.

Bei Vielem, von dem der Leser nicht geneigt sein würde, zuzugestehen, dass die gewöhnliche theoretische Annahme eines überwiegenden Genusses auf einem Irrthume, d.h. auf einer Verfälschung des Urtheiles durch den Trieb oder durch andre Fehlerquellen beruht, dürfte derselbe sich kaum weigern, einzuräumen, dass der von ihm supponirte überwiegende Genuss selbst, wenn er wirklich besteht, doch auf einer Illusion beruht, also mit gründlicher Zerstörung der Illusion in Frage gestellt wird. Beides kommt aber für das Ziel unserer Betrachtung fast auf dasselbe heraus; denn wenn es wahr ist, dass bei dem fortschreitend wachsenden Maasse der Intelligenz in der Welt auch die Illusionen des Daseins mehr und mehr untergraben werden müssen, bis zuletzt »Alles als ganz eitel« erkannt wird, so würde der Zustand der Welt immer unglücklicher, je mehr sie dem Ziele ihrer Entwickelung sich nähert, woraus zu folgern wäre, dass es vernünftiger gewesen wäre, die Entwickelung der Welt je früher je besser zu hindern, am Besten die Entstehung im Entstehungsmomente zu unterdrücken.A62

Vor allen Dingen aber bitte ich den Leser, bei den nachfolgenden Untersuchungen unablässig vor Augen zu behalten, dass die oben (S. 291-292) angegebenen Fehlerquellen für die Beurtheilung des Lebens beständig dahin neigen, sein Urtheil zu Gunsten einer Ueberschätzung der Lust und Unterschätzung der Unlust zu praeoccupiren und zu beirren, und dass die Ansichten und Meinungen über das Leben, welche er aus seiner unmittelbaren und mittelbaren Lebenserfahrung zu dieser philosophischen Untersuchung mitbringt, selbst schon Resultate sind, die von dem Einfluss der genannten Fehlerquellen durchtränkt sind, und so als mitgebrachte Vorurtheile unbefangenen Betrachtung des gegebenen Wirklichen widerstreben.A63

A58

S. 285 Z. 2. Zu dieser Fragestellung ist der ergänzende Zusatz zu machen: in eudämonologischer Hinsicht oder in Bezug auf Glückseligkeit. Die Entscheidung der Frage, ob das Sein oder das Nichtsein der Welt in eudämonologischer Hinsicht den Vorzug verdiene, ist unmittelbar mitgesetzt durch die Entscheidung der andern Frage, ob die Lust- und Unlustbilance der Welt positiv oder negativ sei (vgl. »Zur Gesch. u. Begründung des Pessimismus« 1. Aufl. S. 66-67). Eine dritte Frage geht dahin, ob das Nichtsein der Welt in jeder Hinsicht, überhaupt und schlechthin, dem Sein derselben vorzuziehen sei, wenn das Nichtsein derselben in eudämonologischer Hinsicht als das vorzuziehende anerkannt sei (vgl. den Anfang des nächsten Capitels S. 391-396; ferner meinen Aufsatz »Ueber die Lust als höchsten Werthmaassstab« in der Schrift »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus« 2. Aufl. und »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. Theil II, Abschn. C Nr. IV S. 665-688). Diese drei Fragen sind wohl zu unterscheiden. Die erste Frage nach der Positivität oder Negativität der universellen Lustbilance bleibt auf rein phänomenalem Gebiet und ist entweder empirisch und inductiv oder psychologisch-deductiv zu erledigen. Die Beantwortung der zweiten Frage nach dem Vorrang desseins oder Nichtseins der Welt in eudämonologischer Hinsicht ist eine unausweichliche logische Consequenz von der Beantwortung der ersten, obwohl in ihr ein empirisch Gegebenes mit einem nicht Gegebenen, aber klar Vorgestellten (dem Nichtsein der Welt) verglichen wird. Die dritte Frage, ob der eudämonologische Maassstab der höchste und entscheidende sei, oder ob das an ihm bemessen Werthlose durch Werthbesitz nach andern Maassstäben gerechtfertigt werden könne, verlangt eine besondere Untersuchung und führt zu dem Resultat, dass die Existenz der Welt zwar teleologisch gerechtfertigt sei, aber nur vorläufig und provisorisch, bis sie zum geeigneten Mittel hergerichtet ist, um ihren eudämonologischen Endzweck zu erfüllen (vgl. »Die Religion des Geistes« B. II 2 b; »Die Welt in ihrer Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungsfähigkeit« S. 255-268).

A59

S. 285 Z. 21 v. u. Seit der Abfassung dieses Capitels sind drei Bücher erschienen, welche als unentbehrliche Ergänzung desselben zu betrachten sind: meine Schrift »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus« 2. erweiterte Auflage, A, Taubert; »Der Pessimismus und seine Gegner« (Berlin 1873) und. O. Plümacher: »Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart«, 2. Aufl. (Heidelberg 1888). Ausserdem haben meine ethischen, religionsphilosophischen und ästhetischen Schriften dem Pessimismus von den verschiedensten Seiten her neues Beweismaterial zugeführt. Vgl. insbesondere »Das sittliche Bewusstsein« 2. Aufl. S. 48-60, 472-486, 509-520, 526-528, 534-612, 671-688 »Das religiöse Bewusstsein der Menschheit« S. 133-135, 167-171, 231-236, 288-303, 318-365, 415-423, 457-460, 583-585, 614-618; »Die Religion des Geistes« S. 50-55, 89-102, 152-155, 180-183, 235-237, 255-268, 303-306; »Philosophie des Schönen« S. 338-341, 377-381, 411-417, 487-490; ferner »Neukantianismus, Schopenhauerianismus und Hegelianismus« 2. Aufl. S. 13-14, 104-116, 161-163, 321-327; »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. V und VIII S. 78-120 u. 171-179. Es dürfte der Billigkeit gemäss sein, wenn ich hier die dringende Bitte ausspreche, bei künftigen Beurtheilungen meines Pessimismus sich nicht mehr ausschliesslich auf die »Pil. d. Unb.«, sondern auf die Gesammtheit meiner Auslassungen über diesen Gegenstand stützen zu wollen und auch die trefflichen Ergänzungen, Erläuterungen und Vertheidigungen Taubert's und Plümacher's nicht ausser Acht zu lassen.

A60

S. 287 Z. 3 v. u. (Vgl. »Ges. Stud. u. Aufsätze« S. 683-688.)

A61

S. 287 letzte Z. Eine Uebersicht des geschichtlichen Entwickelungsganges des Pessimismus giebt der erste Theil der Plümacher'schen Schrift »Der Pessimismus in Vergangenheit und Gegenwart« S. 18-178; weitere Citate aus Dichtern findet man in Tauberts Schrift »Der Pessimismus und seine Gegner« S. 70-76 (vgl. meinen Aufsatz »Pessimistische Anthologien« in »Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus«, 2. Aufl.). Dass selbst der Hegelianismus kein dem Pessimismus feindseliger, sondern ein denselben einschliessender Evolutionismus ist, dass derselbe nur der Zermalmung unzähliger Einzelschicksale durch das eherne Rad des geschichtlichen Fortschritts des Ganzen eine zu harte und kalte Gleichgültigkeit entgegensetzt, dass er aber wohl das Trauerloos alles Endlichen, sich in dem Widerspruche seines Daseins zu verzehren, anerkennt, hat J. Volkelt trefflich dargethan (»Das Unbew. u. d. Pess.« S. 246-255).

A62

S. 294 Z. 12 v. u. (Ueber die Stellung der »Illusion« zum Pessimismus vergleiche »Neuk., Schop. u. Heg.« S. 110-116; »Phil. Fragen der Gegenwart« S. 161-163; Plümacher's »Pessimismus« S. 233-236.)

A63

S. 294 letzte Z. (Vgl. hierzu meinen Aufsatz »Ist der Pessimismus wissenschaftlich zu begründen?« und dessen Fortsetzung, betitelt »Die Beweise und Geltungssphären des Pessimismus« in den »Phil. Fragen der Gegenwart« Nr. V 1, S. 78-91. Ferner Taubert's »Pessimismus« Nr. II »Der Werth des Lebens und seine Beurtheilung« und Plümacher's »Pessimismus« S. 179-210.)

Quelle:
Eduard Hartmann: Philosophie des Unbewussten. Band 2, Leipzig 10[o.J.], S. 285-294.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Philosophie des Unbewußten
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (8); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Eduard Von Hartmann's Ausgewahlte Werke (7); Philosophie Des Unbewussten. 10. Erweiterte Aufl
Philosophie des Unbewussten: 2
Philosophie des Unbewussten: 3

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