γ). Empfindung
§ 399

[95] Schlafen und Wachen sind zunächst zwar nicht bloße Veränderungen, sondern wechselnde Zustände (Progreß ins Unendliche). In diesem ihrem formellen, negativen Verhältnis ist aber ebensosehr das affirmative vorhanden. In dem Fürsichsein der wachen Seele ist das Sein als ideelles Moment enthalten; sie findet so die Inhaltsbestimmtheiten ihrer schlafenden Natur, welche als in ihrer Substanz an sich in derselben sind, in sich selbst, und zwar für sich. Als Bestimmtheit ist dies Besondere von der Identität des Fürsichseins mit sich unterschieden und zugleich in dessen Einfachheit einfach enthalten, – Empfindung.
[95]

§ 400

Die Empfindung ist die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität, in der alle Bestimmtheit noch unmittelbar ist, nach ihrem Inhalte wie nach dem Gegensatze eines Objektiven gegen das Subjekt unentwickelt gesetzt, als seiner besondersten, natürlichen Eigenheit angehörig. Der Inhalt des Empfindens ist eben damit beschränkt und vorübergehend, weil er dem natürlichen, unmittelbaren Sein, dem qualitativen also und endlichen angehört.

Alles ist in der Empfindung und, wenn man will, alles, was im geistigen Bewußtsein und in der Vernunft hervortritt, hat seine Quelle und Ursprung in derselben; denn Quelle und Ursprung heißt nichts anderes als die erste,[97] unmittelbarste Weise, in der etwas erscheint. Es genüge nicht [sagt man], daß Grundsätze, Religion usf. nur im Kopfe seien, sie müssen im Herzen, in der Empfindung sein. In der Tat, was man so im Kopfe hat, ist im Bewußtsein überhaupt und der Inhalt demselben so gegenständlich, daß ebensosehr, als er in mir, dem abstrakten Ich, gesetzt ist, er auch von mir nach meiner konkreten Subjektivität entfernt gehalten werden kann; in der Empfindung dagegen ist solcher Inhalt Bestimmtheit meines ganzen, obgleich in solcher Form dumpfen Fürsichseins; er ist also als mein Eigenstes gesetzt. Das Eigene ist das vom wirklichen konkreten Ich ungetrennte, und diese unmittelbare Einheit der Seele mit ihrer Substanz und dem bestimmten Inhalte derselben ist eben dies Ungetrenntsein, insofern es nicht zum Ich des Bewußtseins, noch weniger zur Freiheit vernünftiger Geistigkeit bestimmt ist. Daß übrigens Wille, Gewissen, Charakter noch eine ganz andere Intensität und Festigkeit des Mein-eigen-Seins besitzen als die Empfindung überhaupt und der Komplex derselben, das Herz, liegt auch in den gewöhnlichen Vorstellungen. – Es ist freilich richtig zu sagen, daß vor allem das Herz gut sein müsse. Daß aber die Empfindung und das Herz nicht die Form sei, wodurch etwas als religiös, sittlich, wahr, gerecht usf. gerechtfertigt sei, und die Berufung auf Herz und Empfindung entweder ein nur Nichts-Sagendes oder vielmehr Schlechtes-Sagendes ist, sollte für sich nicht nötig sein, erinnert zu werden. Es kann keine trivialere Erfahrung geben als die, daß es wenigstens gleichfalls böse, schlechte, gottlose, niederträchtige usf. Empfindungen und Herzen gibt; ja, daß aus den Herzen nur solcher Inhalt kommt, ist in den Worten ausgesprochen: »Aus dem Herzen kommen arge Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Lästerung usf.« In solchen Zeiten, in welchen das Herz und die Empfindung zum[98] Kriterium des Guten, Sittlichen und Religiösen von wissenschaftlicher Theologie und Philosophie gemacht wird, wird es nötig, an jene triviale Erfahrung zu erinnern, ebensosehr als es auch heutigentags nötig ist, überhaupt daran zu mahnen, daß das Denken das Eigenste ist, wodurch der Mensch sich vom Vieh unterscheidet, und daß er das Empfinden mit diesem gemein hat.


§ 401

[99] Was die empfindende Seele in sich findet, ist einerseits das natürliche Unmittelbare, als in ihr ideell und ihr zueigen gemacht. Andererseits wird umgekehrt das ursprünglich dem Fürsichsein, das ist, wie es, weiter in sich vertieft, Ich des Bewußtseins und freier Geist ist, Angehörige zur natürlichen Leiblichkeit bestimmt und so empfunden. Hiernach unterscheidet sich eine Sphäre des Empfindens, welches zuerst Bestimmung der Leiblichkeit (des Auges usf., überhaupt jedes[100] körperlichen Teils) ist, die dadurch Empfindung wird, daß sie im Fürsichsein der Seele innerlich gemacht, erinnert wird, – und eine andere Sphäre der im Geiste entsprungenen, ihm angehörigen Bestimmtheiten, die, um als gefundene zu sein, um empfunden zu werden, verleiblicht werden. So ist die Bestimmtheit im Subjekt als in der Seele gesetzt. Wie die weitere Spezifikation jenes Empfindens in dem Systeme der Sinne vorliegt, so systematisieren sich notwendig auch die Bestimmtheiten des Empfindens, die aus dem Innern kommen; und deren Verleiblichung, als in der lebendigen, konkret entwickelten Natürlichkeit gesetzt, führt sich nach dem besonderen Inhalt der geistigen Bestimmung in einem besonderen Systeme oder Organe des Leibes aus.

Das Empfinden überhaupt ist das gesunde Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit. Die Sinne sind das einfädle System der spezifizierten Körperlichkeit; 1. die physische Idealität zerfällt in zwei, weil in ihr als unmittelbarer, noch nicht subjektiver Idealität der Unterschied als Verschiedenheit erscheint, die Sinne des bestimmten Lichts (vgl. § 317 ff.) und des Klangs (§ 300). 2. Die differente Realität ist sogleich für sich eine gedoppelte, – die Sinne des Geruchs und Geschmacks (§ 321, 322); 3. der Sinn der gediegenen Realität, der schweren Materie, der Wärme (§ 303), der Gestalt (§ 310). Um den Mittelpunkt der empfindenden Individualität ordnen sich diese Spezifikationen einfacher als in der Entwicklung der natürlichen Körperlichkeit.

Das System des inneren Empfindens in seiner sich verleiblichenden Besonderung wäre würdig, in einer eigentümlichen Wissenschaft, einer psychischen Physiologie, ausgeführt und abgehandelt zu werden. Etwas von einer Beziehung dieser Art enthält schon die Empfindung der Angemessenheit oder Unangemessenheit einer unmittelbaren Empfindung zu dem für sich bestimmten sinnlichen Innern,[101] – das Angenehme oder Unangenehme, wie auch die bestimmte Vergleichung im Symbolisieren der Empfindungen, z.B. von Farben, Tönen, Gerüchen usf. Aber es würde die interessanteste Seite einer psychischen Physiologie sein, nicht die bloße Sympathie, sondern bestimmter die Verleiblichung zu betrachten, welche sich geistige Bestimmungen insbesondere als Affekte geben. Es wäre der Zusammenhang zu begreifen, durch welchen der Zorn und Mut in der Brust, im Blute, im irritablen Systeme, wie Nachdenken, geistige Beschäftigung im Kopfe, dem Zentrum des sensiblen Systemes, empfunden wird. Es wäre ein gründlicheres Verständnis als bisher über die bekanntesten Zusammenhänge zu fassen, durch welche von der Seele heraus die Träne, die Stimme überhaupt, näher die Sprache, Lachen, Seufzen, und dann noch viele andere Partikularisationen sich bilden, die gegen das Pathognomische und Physiognomische zu liegen. Die Eingeweide und Organe werden in der Physiologie als Momente nur des animalischen Organismus betrachtet, aber sie bilden zugleich ein System der Verleiblichung des Geistigen und erhalten hierdurch noch eine ganz andere Deutung.
[102]


§ 402

Die Empfindungen sind, um ihrer Unmittelbarkeit und des Gefundenseins willen, einzelne und vorübergehende Bestimmungen, Veränderungen in der Substantialität der Seele, gesetzt in ihrem mit derselben identischen Fürsichsein. Aber dieses Fürsichsein ist nicht bloß ein formelles Moment des Empfindens; die Seele ist an sich reflektierte Totalität desselben – Empfinden der totalen Substantialität, die sie an sich ist, in sich, – fühlende Seele.

Für Empfindung und Fühlen gibt der Sprachgebrauch eben nicht einen durchdringenden Unterschied an die Hand; doch sagt man etwa nicht wohl Empfindung des Rechts, Selbstempfindung u. dgl., sondern Gefühl des Rechts, Selbstgefühl; mit der Empfindung hängt die Empfindsamkeit zusammen; man kann daher dafür halten, daß die Empfindung mehr die Seite der Passivität, des Findens, d.h. der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit, die darin ist, geht.[117]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 95-103,117-118,122.
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