β). Selbstgefühl
§ 407

[160] 1. Die fühlende Totalität ist als Individualität wesentlich dies, sich in sich selbst zu unterscheiden und zum Urteil in sich zu erwachen, nach welchem sie besondere Gefühle hat und als Subjekt in Beziehung auf diese ihre Bestimmungen ist. Das Subjekt als solches setzt dieselben als seine Gefühle in sich. Es ist in diese Besonderheit der Empfindungen versenkt, und zugleich schließt es durch die Idealität des Besonderen sich darin mit sich als subjektivem Eins zusammen. Es ist auf diese Weise Selbstgefühl – und ist dies zugleich nur im besonderen Gefühl.


§ 408

2. Um der Unmittelbarkeit, in der das Selbstgefühl noch[160] bestimmt ist, d.i. um des Moments der Leiblichkeit willen, die darin noch ungeschieden von der Geistigkeit ist, und indem auch das Gefühl selbst ein besonderes, hiermit eine partikuläre Verleiblichung ist, ist das obgleich zum verständigen Bewußtsein gebildete Subjekt noch der Krankheit fähig, daß es in einer Besonderheit seines Selbstgefühls beharren bleibt, welche es nicht zur Idealität zu verarbeiten und zu überwinden vermag. Das erfüllte Selbst des verständigen Bewußtseins ist das Subjekt als in sich konsequentes, nach seiner individuellen Stellung und dem Zusammenhange mit der äußeren, ebenso innerhalb ihrer geordneten Welt sich ordnendes und haltendes Bewußtsein. In einer besonderen Bestimmtheit aber befangen bleibend, weist es solchem Inhalte nicht die verständige Stelle und die Unterordnung an, die ihm in dem individuellen Weltsysteme welches ein Subjekt ist, zugehört. Das Subjekt befindet sich auf diese Weise im Widerspruche seiner in seinem Bewußtsein systematisierten Totalität und der besonderen in derselben nichtflüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit, – die Verrücktheit.

Bei der Betrachtung der Verrücktheit ist gleichfalls das ausgebildete, verständige Bewußtsein zu antizipieren, welches Subjekt zugleich natürliches Selbst des Selbstgefühls ist. In dieser Bestimmung ist es fähig, in den Widerspruch seiner für sich freien Subjektivität und einer Besonderheit, welche darin nicht ideell wird und im Selbstgefühle festbleibt, zu verfallen. Der Geist ist frei und darum für sich dieser Krankheit nicht fähig. Er ist von früherer Metaphysik als Seele, als Ding betrachtet worden, und nur als Ding, d.i. als Natürliches und Seiendes ist er der Verrücktheit, der sich in ihm festhaltenden Endlichkeit, fähig. Deswegen ist sie eine Krankheit des Psychischen, ungetrennt des Leiblichen und Geistigen; der Anfang kann mehr von der einen oder der anderen Seite auszugeben scheinen und ebenso die Heilung.

Als gesund und besonnen hat das Subjekt das präsente[161] Bewußtsein der geordneten Totalität seiner individuellen Welt, in deren System es jeden vorkommenden besonderen Inhalt der Empfindung, Vorstellung, Begierde, Neigung usf. subsumiert und an der verständigen Stelle desselben einordnet; es ist der herrschende Genius über diese Besonderheiten. Es ist der Unterschied wie beim Wachen und Träumen; aber hier fällt der Traum innerhalb des Wachens selbst, so daß er dem wirklichen Selbstgefühl angehört. Irrtum und dergleichen ist ein in jenen objektiven Zusammenhang konsequent aufgenommener Inhalt. Es ist aber im Konkreten oft schwer zu sagen, wo er anfängt, Wahnsinn zu werden. So kann eine heftige, aber ihrem Gehalte nach geringfügige Leidenschaft des Hasses usf. gegen die vorauszusetzende höhere Besonnenheit und Halt in sich als ein Außersichsein des Wahnsinnes erscheinen. Dieser enthält aber wesentlich den Widersprach eines leiblich, seiend gewordenen Gefühls gegen die Totalität der Vermittlungen, welche das konkrete Bewußtsein ist. Der Geist als nur seiend bestimmt, insofern ein solches Sein unaufgelöst in seinem Bewußtsein ist, ist krank. – Der Inhalt, der in dieser seiner Natürlichkeit frei wird, sind die selbstsüchtigen Bestimmungen des Herzens, Eitelkeit, Stolz und die anderen Leidenschaften und Einbildungen, Hoffnungen, Liebe und Haß des Subjekts. Dieses irdische wird frei, indem die Macht der Besonnenheit und des Allgemeinen, der theoretischen oder moralischen Grundsätze über das Natürliche nachläßt, von welcher dasselbe sonst unterworfen und versteckt gehalten wird; denn an sich vorhanden ist dies Böse in dem Herzen, weil dieses, als unmittelbar, natürlich und selbstisch ist. Es ist der böse Genius des Menschen, der in der Verrücktheit herrschend wird, aber im Gegensatze und im Widerspruche gegen das Bessere und Verständige, das im Menschen zugleich ist, so daß dieser Zustand Zerrüttung und Unglück des Geistes in ihm selbst ist. – Die wahrhafte psychische Behandlung hält darum auch den Gesichtspunkt[162] fest, daß die Verrücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft, weder nach der Seite der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur Verrücktheit, nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft [ist], wie die physische Krankheit nicht abstrakter, d.i. gänzlicher Verlust der Gesundheit (ein solcher wäre der Tod), sondern ein Widerspruch in ihr ist. Diese menschliche, d.i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung – Pinel verdient die höchste Anerkennung für die Verdienste, die er um sie gehabt – setzt den Kranken als Vernünftiges voraus und hat hieran den festen Halt, an dem sie ihn nach dieser Seite erfassen kann, wie nach der Leiblichkeit an der Lebendigkeit, welche als solche noch Gesundheit in sich enthält.[163]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 160-164,182.
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