Einleitung

§ 377

Die Erkenntnis des Geistes ist die konkreteste, darum höchste und schwerste. Erkenne dich selbst, dies absolute Gebot hat weder an sich noch da, wo es geschichtlich als ausgesprochen vorkommt, die Bedeutung nur einer Selbsterkenntnis nach den partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes. Ebensowenig hat die Philosophie des Geistes die Bedeutung der sogenannten Menschenkenntnis, welche von anderen Menschen gleichfalls die Besonderheiten, Leidenschaften, Schwächen, diese sogenannten Falten des menschlichen Herzens zu erforschen bemüht ist, – eine Kenntnis, die teils nur unter Voraussetzung der Erkenntnis des Allgemeinen, des Menschen und damit wesentlich des Geistes Sinn hat, teils sich mit den zufälligen, unbedeutenden, unwahren Existenzen des Geistigen beschäftigt, aber zum Substantiellen, dem Geiste selbst, nicht dringt.
[9]

§ 378

Der Pneumatologie oder sogenannten rationellen Psychologie als abstrakter Verstandesmetaphysik ist bereits in der Einleitung Erwähnung geschehen. Die empirische Psychologie hat den konkreten Geist zu ihrem Gegenstande und wurde, seitdem nach dem Wiederaufleben der Wissenschaften die Beobachtung und Erfahrung zur vornehmlichen Grundlage der Erkenntnis des Konkreten geworden, auf dieselbe Weise getrieben, so daß teils jenes Metaphysische außerhalb dieser empirischen Wissenschaft gehalten wurde und zu keiner konkreten Bestimmung und Gehalt in sich kam, teils die empirische Wissenschaft sich an die gewöhnliche Verstandesmetaphysik von Kräften, verschiedenen Tätigkeiten usf. hielt und die spekulative Betrachtung daraus verbannte. – Die Bücher des Aristoteles über die Seele mit seinen Abhandlungen über besondere Seiten und Zustände derselben sind deswegen noch immer das vorzüglichste oder einzige Werk von spekulativem Interesse über diesen Gegenstand. Der wesentliche Zweck einer Philosophie des Geistes kann nur der sein, den Begriff in die Erkenntnis des Geistes wieder einzuführen, damit auch den Sinn jener Aristotelischen Bücher wieder aufzuschließen.
[11]

§ 379

Das Selbstgefühl von der lebendigen Einheit des Geistes setzt sich von selbst gegen die Zersplitterung desselben in die verschiedenen, gegeneinander selbständig vorgestellten Vermögen, Kräfte oder, was auf dasselbe hinauskommt, ebenso vorgestellten Tätigkeiten. Noch mehr aber führen die Gegensätze, die sich sogleich darbieten, von der Freiheit des Geistes und von dem Determiniertwerden desselben, ferner von der freien Wirksamkeit der Seele im Unterschiede von der ihr äußerlichen Leiblichkeit, und wieder der innige Zusammenhang beider, auf das Bedürfnis, hier zu begreifen. Insbesondere haben die Erscheinungen des animalischen Magnetismus in neueren Zeiten auch in der Erfahrung die substantielle Einheit der Seele und die Macht ihrer Idealität zur Anschauung gebracht, wodurch alle die festen Verstandesunterschiede in Verwirrung gesetzt [werden] und eine spekulative Betrachtung für die Auflösung der Widersprüche unmittelbar als notwendig gezeigt wird.
[13]

§ 380

Die konkrete Natur des Geistes bringt für die Betrachtung die eigentümliche Schwierigkeit mit sich, daß die besonderen Stufen und Bestimmungen der Entwicklung seines Begriffs nicht zugleich als besondere Existenzen zurück- und seinen tieferen Gestaltungen gegenüber bleiben, wie dies in der äußeren Natur der Fall ist, wo die Materie und Bewegung ihre freie Existenz als Sonnensystem hat, die Bestimmungen der Sinne auch rückwärts als Eigenschaften der Körper und noch freier als Elemente existieren usf. Die Bestimmungen[16] und Stufen des Geistes dagegen sind wesentlich nur als Momente, Zustände, Bestimmungen an den höheren Entwicklungsstufen. Es geschieht dadurch, daß an einer niedrigeren, abstrakteren Bestimmung das Höhere sich schon empirisch vorhanden zeigt, wie z.B. in der Empfindung alles höhere Geistige als Inhalt oder Bestimmtheit. Oberflächlicherweise kann daher in der Empfindung, welche nur eine abstrakte Form ist, jener Inhalt, das Religiöse, Sittliche usf., wesentlich seine Stelle und sogar Wurzel zu haben und seine Bestimmungen als besondere Arten der Empfindung zu betrachten notwendig scheinen. Aber zugleich wird es, indem niedrigere Stufen betrachtet werden, nötig, um sie nach ihrer empirischen Existenz bemerklich zu machen, an höhere zu erinnern, an welchen sie nur als Formen vorhanden sind, und auf diese Weise einen Inhalt zu antizipieren, der erst später in der Entwicklung sich darbietet (z.B. beim natürlichen Erwachen das Bewußtsein, bei der Verrücktheit den Verstand usf.).

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 10, Frankfurt a. M. 1979, S. 7,14,16-17.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 8: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 9: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Teil. Die Naturphilosophie. Mit ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Werke in 20 Bänden mit Registerband: 10: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Dritter Teil. Die Philosophie des ... Zusätzen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Gesammelte Werke, Bd.13, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817).
Philosophische Bibliothek, Bd.33, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830).