Begriff der Natur
§ 247

[24] Die Natur hat sich als die Idee in der Form des Andersseins ergeben. Da die Idee so als das Negative ihrer selbst oder sich äußerlich ist, so ist die Natur nicht äußerlich nur relativ gegen diese Idee (und gegen die subjektive Existenz derselben, den Geist), sondern die Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist.
[24]

§ 248


In dieser Äußerlichkeit haben die Begriffsbestimmungen den Schein eines gleichgültigen Bestehens und der Vereinzelung gegeneinander; der Begriff ist deswegen als Innerliches. Die Natur zeigt daher in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit.

Die Natur ist darum nach ihrer bestimmten Existenz, wodurch sie eben Natur ist, nicht zu vergöttern, noch sind Sonne, Mond, Tiere, Pflanzen usf. vorzugsweise vor menschlichen Taten und Begebenheiten als Werke Gottes zu betrachten und anzuführen. – Die Natur ist an sich,[27] in der Idee göttlich, aber wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch. Ihre Eigentümlichkeit ist das Gesetztsein, das Negative, wie die Alten die Materie überhaupt als das non-ens gefaßt haben. So ist die Natur auch als der Abfall der Idee von sich selbst ausgesprochen worden, indem die Idee als diese Gestalt der Äußerlichkeit in der Unangemessenheit ihrer selbst mit sich ist. – Nur dem Bewußtsein, das selbst zuerst äußerlich und damit unmittelbar ist, d.i. dem sinnlichen Bewußtsein, erscheint die Natur als das Erste, Unmittelbare, Seiende. – Weil sie jedoch, obzwar in solchem Elemente der Äußerlichkeit, Darstellung der Idee ist, so mag und soll man in ihr wohl die Weisheit Gottes bewundern. Wenn aber Vanini sagte, daß ein Strohhalm hinreiche, um das Sein Gottes zu erkennen, so ist jede Vorstellung des Geistes, die schlechteste seiner Einbildungen, das Spiel seiner zufälligsten Launen, jedes Wort ein vortrefflicherer Erkenntnisgrund für Gottes Sein als irgendein einzelner Naturgegenstand. In der Natur hat das Spiel der Formen nicht nur seine ungebundene, zügellose Zufälligkeit, sondern jede Gestalt für sich entbehrt des Begriffs ihrer selbst. Das Höchste, zu dem es die Natur in ihrem Dasein treibt, ist das Leben; aber als nur natürliche Idee ist dieses der Unvernunft der Äußerlichkeit hingegeben, und die individuelle Lebendigkeit ist in jedem Momente ihrer Existenz mit einer ihr anderen Einzelheit befangen; dahingegen in jeder geistigen Äußerung das Moment freier allgemeiner Beziehung auf sich selbst enthalten ist. – Ein gleicher Mißverstand ist es, wenn Geistiges überhaupt geringer geachtet wird als Naturdinge, wenn menschliche Kunstwerke natürlichen Dingen deswegen nachgesetzt werden, weil zu jenen das Material von außen genommen werden müsse und weil sie nicht lebendig seien. Als ob die geistige Form nicht eine[28] höhere Lebendigkeit enthielte und des Geistes würdiger wäre als die natürliche Form, die Form überhaupt nicht höher als die Materie, und in allem Sittlichen nicht auch das, was man Materie nennen kann, ganz allein dem Geiste angehörte, als ob in der Natur das Höhere, das Lebendige, nicht auch seine Materie von außen nähme. – Die Natur bleibe, gibt man ferner als ihren Vorzug an, bei aller Zufälligkeit ihrer Existenzen ewigen Gesetzen getreu; aber doch wohl auch das Reich des Selbstbewußtseins! was schon in dem Glauben anerkannt wird, daß eine Vorsehung die menschlichen Begebenheiten leite; – oder sollten die Bestimmungen dieser Vorsehung im Felde der menschlichen Begebenheiten nur zufällig und unvernünftig sein? – Wenn aber die geistige Zufälligkeit, die Willkür, bis zum Bösen fortgeht, so ist dies selbst noch ein unendlich Höheres als das gesetzmäßige Wandeln der Gestirne oder als die Unschuld der Pflanze; denn was sich so verirrt, ist noch Geist.
[29]

§ 249

Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee. Die Metamorphose kommt nur dem Begriff als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist. Der Begriff aber ist in der Natur teils nur ein Inneres, teils existierend nur als lebendiges Individuum; auf dieses allein ist daher die existierende Metamorphose beschränkt.

Es ist eine ungeschickte Vorstellung älterer, auch neuerer Naturphilosophie gewesen, die Fortbildung und den Übergang einer Naturform und Sphäre in eine höhere für eine äußerlich-wirkliche Produktion anzusehen, die man jedoch, um sie deutlicher zu machen, in das Dunkel der Vergangenheit zurückgelegt hat. Der Natur ist gerade die Äußerlichkeit eigentümlich, die Unterschiede auseinanderfallen und sie als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen; der dialektische Begriff, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben. Solcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z.B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren[31] Tierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen.
[32]

§ 250

Der Widerspruch der Idee, indem sie als Natur sich selbst äußerlich ist, ist näher der Widerspruch einerseits der durch den Begriff gezeugten Notwendigkeit ihrer Gebilde und deren in der organischen Totalität vernünftigen Bestimmung, – andererseits deren gleichgültigen Zufälligkeit und unbestimmbaren Regellosigkeit. Die Zufälligkeit und Bestimmbarkeit von außen hat in der Sphäre der Natur ihr Recht. Am größten ist diese Zufälligkeit im Reiche der konkreten Gebilde, die aber als Naturdinge zugleich nur unmittelbar konkret sind. Das unmittelbar Konkrete nämlich ist eine Menge von Eigenschaften, die außereinander und mehr oder weniger gleichgültig gegeneinander sind, gegen die eben darum die einfache für sich seiende Subjektivität ebenfalls gleichgültig ist und sie äußerlicher, somit zufälliger Bestimmung überläßt. Es ist die Ohnmacht der Natur, die Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten und die Ausführung des Besonderen äußerer Bestimmbarkeit auszusetzen.

Man hat den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen und vollends ganz unvernünftigerweise[34] die Zufälligkeit, die in die äußerliche Anordnung der Naturgebilde sich einmischt, als die hohe Freiheit der Natur, auch als die Göttlichkeit derselben oder wenigstens die Göttlichkeit in derselben gerühmt. Es ist der sinnlichen Vorstellungsweise zuzurechnen, Zufälligkeit, Willkür, Ordnungslosigkeit für Freiheit und Vernünftigkeit zu halten. – Jene Ohnmacht der Natur setzt der Philosophie Grenzen, und das Ungehörigste ist, von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen – und, wie es genannt worden, konstruieren, deduzieren; sogar scheint man die Aufgabe um so leichter zu machen, je geringfügiger und vereinzelter das Gebilde sei13. Spuren der Begriffsbestimmung werden sich allerdings bis in das Partikulärste hinein verfolgen, aber dieses sich nicht durch sie erschöpfen lassen. Die Spuren dieser Fortleitung und inneren Zusammenhangs werden den Betrachter oft überraschen, aber demjenigen insbesondere überraschend oder vielmehr unglaublich scheinen, der in der Natur- wie in der Menschengeschichte nur Zufälliges zu sehen gewohnt ist. Aber man hat darüber mißtrauisch zu sein, daß solche Spur nicht für Totalität der Bestimmung der Gebilde genommen werde, was den Übergang zu den erwähnten Analogien macht.

In der Ohnmacht der Natur, den Begriff in seiner Ausführung festzuhalten, liegt die Schwierigkeit und in vielen Kreisen die Unmöglichkeit, aus der empirischen Betrachtung feste Unterschiede für Klassen und Ordnungen zu[35] finden. Die Natur vermischt allenthalben die wesentlichen Grenzen durch mittlere und schlechte Gebilde, welche immer Instanzen gegen jede feste Unterscheidung abgeben, selbst innerhalb bestimmter Gattungen (z.B. des Menschen) durch Mißgeburten, die man einerseits dieser Gattung zuzählen muß, denen andererseits aber Bestimmungen fehlen, welche als wesentliche Eigentümlichkeit der Gattung anzusehen wären. – Um dergleichen Gebilde als mangelhaft, schlecht, mißförmig betrachten zu können, dafür wird ein fester Typus vorausgesetzt, der aber nicht aus der Erfahrung geschöpft werden könnte, denn diese eben gibt auch jene sogenannten Mißgeburten, Mißförmigkeiten, Mitteldinge usf. an die Hand: er setzte vielmehr die Selbständigkeit und Würde der Begriffsbestimmung voraus.


§ 251

Die Natur ist an sich ein lebendiges Ganzes; die Bewegung durch ihren Stufengang ist näher dies, daß die Idee sich als das setze, was sie an sich ist; oder, was dasselbe ist, daß sie aus ihrer Unmittelbarkeit und Äußerlichkeit, welche der Tod ist, in sich gehe, um zunächst als Lebendiges zu sein, aber ferner auch diese Bestimmtheit, in welcher sie nur Leben ist, aufhebe und sich zur Existenz des Geistes hervorbringe, der die Wahrheit und der Endzweck der Natur und die wahre Wirklichkeit der Idee ist.[36]

13

Herr Krug hat in diesem und zugleich nach anderer Seite hin ganz naiven Sinne einst die Naturphilosophie aufgefordert, das Kunststück zu machen, nur seine Schreibfeder zu deduzieren. – Man hätte ihm etwa zu dieser Leistung und respektiven Verherrlichung seiner Schreibfeder Hoffnung machen können, wenn dereinst die Wissenschaft so weit vorgeschritten und mit allem Wichtigeren im Himmel und auf Erden in der Gegenwart und Vergangenheit im Reinen sei, daß es nichts Wichtigeres mehr zu begreifen gebe.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 9, Frankfurt a. M. 1979, S. 24-25,27-37.
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