c. Das Gericht
§ 219

[373] Das Recht, in der Form des Gesetzes in das Dasein getreten, ist für sich, steht dem besonderen Wollen und Meinen vom Rechte selbständig gegenüber und hat sich als allgemeines geltend zu machen. Diese Erkenntnis und Verwirklichung des Rechts im besonderen Falle, ohne die subjektive Empfindung des besonderen Interesses, kommt einer öffentlichen Macht, dem Gerichte, zu.

Die historische Entstehung des Richters und der Gerichte mag die Form des patriarchalischen Verhältnisses oder der Gewalt oder der freiwilligen Wahl gehabt haben; für den Begriff der Sache ist dies gleichgültig. Die Einführung des Rechtsprechens von selten der Fürsten und Regierungen als bloße Sache einer beliebigen Gefälligkeit und Gnade anzusehen, wie Herr von Haller (in seiner Restauration[373] der Staatswissenschaft) tut, gehört zu der Gedankenlosigkeit, die davon nichts ahnt, daß beim Gesetz und Staate davon die Rede sei, daß ihre Institutionen überhaupt als vernünftig an und für sich notwendig sind und die Form, wie sie entstanden und eingeführt worden, das nicht ist, um das es sich bei Betrachtung ihres vernünftigen Grundes handelt. – Das andere Extrem zu dieser Ansicht ist die Roheit, die Rechtspflege wie in den Zeiten des Faustrechts für ungehörige Gewalttätigkeit, Unterdrückung der Freiheit und Despotismus zu achten. Die Rechtspflege ist so sehr als Pflicht wie als Recht der öffentlichen Macht anzusehen, das ebensowenig auf einem Belieben der Individuen, eine Macht damit zu beauftragen oder nicht, beruht.


§ 220

Das Recht gegen das Verbrechen in der Form der Rache (§ 102) ist nur Recht an sich, nicht in der Form Rechtens, d. i. nicht in seiner Existenz gerecht. Statt der verletzten Partei tritt das verletzte Allgemeine auf, das im Gerichte eigentümliche Wirklichkeit hat, und übernimmt die Verfolgung und Ahndung des Verbrechens, welche damit die nur subjektive und zufällige Wiedervergeltung durch Rache zu sein aufhört und sich in die wahrhafte Versöhnung des Rechts mit sich selbst, in Strafe verwandelt, – in objektiver Rücksicht als Versöhnung des durch Aufheben des Verbrechens sich selbst wiederherstellenden und damit als gültig verwirklichenden Gesetzes, und in subjektiver Rücksicht des Verbrechers als seines von ihm gewußten und für ihn und zu seinem Schutze gültigen Gesetzes, in dessen Vollstreckung an ihm er somit selbst die Befriedigung der Gerechtigkeit, nur die Tat des Seinigen findet.


§ 221

[374] Das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft hat das Recht, im Gericht zu stehen, sowie die Pflicht, sich vor Gericht zu stellen und sein streitiges Recht nur von dem Gericht zu nehmen.


§ 222

Vor den Gerichten erhält das Recht die Bestimmung, ein erweisbares sein zu müssen. Der Rechtsgang setzt die Parteien in den Stand, ihre Beweismittel und Rechtsgründe geltend zu machen, und den Richter, sich in die Kenntnis der Sache zu setzen. Diese Schritte sind selbst Rechte; ihr Gang muß somit gesetzlich bestimmt sein, und sie machen auch einen wesentlichen Teil der theoretischen Rechtswissenschaft aus.


§ 223

Durch die Zersplitterung dieser Handlungen in immer mehr vereinzelte Handlungen und deren Rechte, die in sich keine Grenze enthält, tritt der Rechtsgang, an sich schon Mittel, als etwas Äußerliches seinem Zwecke gegenüber. – Indem den Parteien das Recht, solchen weitläufigen Formalismus durchzumachen, der ihr Recht ist, zusteht, so ist, indem er[375] ebenso zu einem Übel und selbst Werkzeuge des Unrechts gemacht werden kann, es ihnen von Gerichts wegen – um die Parteien und das Recht selbst als die substantielle Sache, worauf es ankommt, gegen den Rechtsgang und dessen Mißbrauch in Schutz zu nehmen – zur Pflicht zu machen, einem einfachen Gerichte (Schieds-, Friedensgericht) und dem Versuche des Vergleichs sich zu unterwerfen, ehe sie zu jenem schreiten.

Die Billigkeit enthält einen dem formellen Rechte aus moralischen oder anderen Rücksichten geschehenden Abbruch und bezieht sich zunächst auf den Inhalt des Rechtsstreits. Ein Billigkeitsgerichtshof aber wird die Bedeutung haben, daß er über den einzelnen Fall, ohne sich an die Formalitäten des Rechtsganges und insbesondere an die objektiven Beweismittel, wie sie gesetzlich gefaßt werden können, zu halten, sowie nach dem eigenen Interesse des einzelnen Falles als dieses, nicht im Interesse einer allgemeinen zu machenden gesetzlichen Disposition, entscheidet.


§ 224

Wie die öffentliche Bekanntmachung der Gesetze unter die Rechte des subjektiven Bewußtseins fällt (§ 215), so auch die Möglichkeit, die Verwirklichung des Gesetzes im besonderen Falle, nämlich den Verlauf von äußerlichen Handlungen, von Rechtsgründen usf. zu kennen, indem dieser Verlauf an sich eine allgemein gültige Geschichte ist und der Fall seinem besonderen Inhalte nach zwar nur das Interesse der Parteien, der allgemeine Inhalt aber das Recht darin und dessen Entscheidung das Interesse aller betrifft, – Öffentlichkeit der Rechtspflege.

Deliberationen der Mitglieder des Gerichts über das zu fällende Urteil unter sich sind Äußerungen der noch besonderen Meinungen und Ansichten, also ihrer Natur nach nichts Öffentliches.
[376]


§ 225

In dem Geschäfte des Rechtsprechens als der Anwendung des Gesetzes auf den einzelnen Fall unterscheiden sich die zwei Seiten: erstens die Erkenntnis der Beschaffenheit des Falls nach seiner unmittelbaren Einzelheit, ob ein Vertrag usf. vorhanden, eine verletzende Handlung begangen und wer deren Täter sei, und im peinlichen Rechte die Reflexion als Bestimmung der Handlung nach ihrem substantiellen, verbrecherischen Charakter (§ 119 Anm.), – zweitens die Subsumtion des Falles unter das Gesetz der Wiederherstellung des Rechts, worunter im Peinlichen die Strafe begriffen ist. Die Entscheidungen über diese beiden verschiedenen Seiten sind verschiedene Funktionen.

In der römischen Gerichtsverfassung kam die Unterscheidung dieser Funktionen darin vor, daß der Prätor seine Entscheidung gab, im Fall sich die Sache so oder so verhalte, und daß er zur Untersuchung dieses Verhaltens einen besonderen Judex bestellte. – Die Charakterisierung einer Handlung nach ihrer bestimmten verbrecherischen Qualität (ob z.B. ein Mord oder Tötung) ist im englischen Rechtsverfahren der Einsicht oder Willkür des Anklägers überlassen, und das Gericht kann keine andere Bestimmung fassen, wenn es jene unrichtig findet.


§ 226

Vornehmlich die Leitung des ganzen Ganges der Untersuchung,[377] dann der Rechtshandlungen der Parteien, als welche selbst Rechte sind (§ 222), dann auch die zweite Seite des Rechtsurteils (s. vorherg. §) ist ein eigentümliches Geschäft des juristischen Richters, für welchen als Organ des Gesetzes der Fall zur Möglichkeit der Subsumtion vorbereitet, d. i. aus seiner erscheinenden empirischen Beschaffenheit heraus zur anerkannten Tatsache und zur allgemeinen Qualifikation erhoben worden sein muß.


§ 227

Die erstere Seite, die Erkenntnis des Falles in seiner unmittelbaren Einzelheit und seine Qualifizierung, enthält für sich kein Rechtsprechen. Sie ist eine Erkenntnis, wie sie jedem gebildeten Menschen zusteht. Insofern für die Qualifikation der Handlung das subjektive Moment der Einsicht und Absicht des Handelnden (s. II. Teil) wesentlich ist und der Beweis ohnehin nicht Vernunft- oder abstrakte Verstandesgegenstände, sondern nur Einzelheiten, Umstände und Gegenstände sinnlicher Anschauung und subjektiver Gewißheit betrifft, daher keine absolut objektive Bestimmung in sich enthält, so ist das Letzte in der Entscheidung die subjektive Überzeugung und das Gewissen (animi sententia), wie in Ansehung des Beweises, der auf Aussagen und Versicherungen anderer beruht, der Eid die zwar subjektive, aber letzte Bewährung ist.

Bei dem in Rede stehenden Gegenstand ist es eine Hauptsache, die Natur des Beweisens, auf welches es hier ankommt, ins Auge zu fassen und es von dem Erkennen und Beweisen anderer Art zu unterscheiden. Eine Vernunftbestimmung, wie der Begriff des Rechts selbst ist, zu beweisen, d. i. ihre Notwendigkeit zu erkennen, erfordert eine andere Methode als der Beweis eines geometrischen Lehrsatzes. Ferner bei letzterem ist die Figur vom Verstande bestimmt und einem Gesetze gemäß bereits abstrakt gemacht; aber bei einem empirischen Inhalt, wie eine Tatsache ist, ist der Stoff des Erkennens die gegebene[378] sinnliche Anschauung und die sinnliche subjektive Gewißheit und das Aussprechen und Versichern von solcher, – woran nun das Schließen und Kombinieren aus solchen Aussagen, Zeugnissen, Umständen u. dgl. tätig ist. Die objektive Wahrheit, welche aus solchem Stoffe und der ihm gemäßen Methode, [die] bei dem Versuche, sie für sich objektiv zu bestimmen, auf halbe Beweise und in weiterer wahrhafter Konsequenz, die zugleich eine formelle Inkonsequenz in sich enthält, auf außerordentliche Strafen führt, hervorgeht, hat einen ganz anderen Sinn als die Wahrheit einer Vernunftbestimmung oder eines Satzes, dessen Stoff sich der Verstand bereits abstrakt bestimmt hat. Daß nun solche empirische Wahrheit einer Begebenheit zu erkennen in der eigentlich juristischen Bestimmung eines Gerichts, daß in dieser eine eigentümliche Qualität hierfür und damit ein ausschließendes Recht an sich und Notwendigkeit liege, dies aufzuzeigen machte einen Hauptgesichtspunkt bei der Frage aus, inwiefern den förmlichen juristischen Gerichtshöfen das Urteil über das Faktum wie über die Rechtsfrage zuzuschreiben sei.
[379]


§ 228

Das Recht des Selbstbewußtseins der Partei ist im Richterspruch nach der Seite, daß er die Subsumtion des qualifizierten Falles unter das Gesetz ist, in Ansehung des Gesetzes dadurch bewahrt, daß das Gesetz bekannt und damit das Gesetz der Partei selbst, und in Ansehung der Subsumtion, daß der Rechtsgang öffentlich ist. Aber in Ansehung der Entscheidung über den besonderen, subjektiven und äußerlichen Inhalt der Sache, dessen Erkenntnis in die ersten der § 225 angegebenen Seiten fällt, findet jenes Recht in dem Zutrauen zu der Subjektivität der Entscheidenden seine Befriedigung. Dies Zutrauen gründet sich vornehmlich auf die Gleichheit der Partei mit denselben nach ihrer Besonderheit, dem Stande, und dergleichen.

Das Recht des Selbstbewußtseins, das Moment der subjektiven Freiheit, kann als der substantielle Gesichtspunkt in der Frage über Notwendigkeit der öffentlichen Rechtspflege und der sogenannten Geschworenengerichte angesehen werden. Auf ihn reduziert sich das Wesentliche, was in der Form der Nützlichkeit für diese Institutionen vorgebracht werden kann. Nach anderen Rücksichten und Gründen von diesen oder jenen Vorteilen oder Nachteilen kann herüber und hinüber gestritten werden; sie sind wie alle Gründe des Räsonnements sekundär und nicht entscheidend oder aber aus anderen, vielleicht höheren Sphären genommen. Daß die Rechtspflege an sich von rein juristischen Gerichten gut, vielleicht besser als mit anderen Institutionen ausgeübt werden könne: um diese Möglichkeit handelt es sich insofern nicht, als, wenn sich auch diese Möglichkeit zur Wahrscheinlichkeit, ja selbst zur[380] Notwendigkeit steigern ließe, es von der ändern Seite immer das Recht des Selbstbewußtseins ist, welches dabei seine Ansprüche behält und sie nicht befriedigt findet. – Wenn die Kenntnis des Rechtes durch die Beschaffenheit dessen, was die Gesetze in ihrem Umfange ausmacht, ferner des Ganges der gerichtlichen Verhandlungen und die Möglichkeit, das Recht zu verfolgen, Eigentum eines auch durch Terminologie, die für die, um deren Recht es geht, eine fremde Sprache ist, sich ausschließend machenden Standes ist, so sind die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die für die Subsistenz auf ihre Tätigkeit, ihr eigenes Wissen und Wollen angewiesen sind, gegen das nicht nur Persönlichste und Eigenste, sondern auch das Substantielle und Vernünftige darin, das Recht, fremd gehalten und unter Vormundschaft, selbst in eine Art von Leibeigenschaft gegen solchen Stand gesetzt. Wenn sie wohl das Recht haben, im Gerichte leiblich, mit den Füßen, zugegen zu sein (in iudicio stare), so ist dies wenig, wenn sie nicht geistig, mit ihrem eigenen Wissen gegenwärtig sein sollen, und das Recht, das sie erlangen, bleibt ein äußerliches Schicksal für sie.


§ 229

In der Rechtspflege führt sich die bürgerliche Gesellschaft, in der sich die Idee in der Besonderheit verloren [hat] und in die Trennung des Inneren und Äußeren auseinandergegangen ist, zu deren Begriffe, der Einheit des an sich seienden Allgemeinen mit der subjektiven Besonderheit zurück, jedoch diese im einzelnen Falle und jenes in der Bedeutung des abstrakten Rechts. Die Verwirklichung dieser Einheit in der Ausdehnung auf den ganzen Umfang der Besonderheit, zunächst als relativer Vereinigung, macht die Bestimmung der Polizei und, in beschränkter, aber konkreter Totalität, die Korporation aus.[381]

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 373-382.
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