a. Euklides

[524] Euklid ist der, von dem erzählt wird, daß bei der zwischen Athen und seinem Vaterlande, Megara, obwaltenden Spannung, in der Periode der heftigsten Feindschaft, er sich oft hatte in weiblichen Kleidern nach Athen geschlichen, selbst die Strafe des Todes nicht scheute, um nur Sokrates hören zu können, in seiner Gesellschaft zu sein. Er ist nicht der Mathematiker. Euklid sprach den Satz aus: »Das Gute ist Eins«, und ist nur, »doch mit vielen Namen belegt; bald nennt man es Verstand, bald Gott, sonst auch Denken nous und so fort. Was aber dem Guten entgegengesetzt ist, ist gar nicht.« Das Prinzip war also hier das Gute als einfach, die Einfachheit des Wahren, die Identität desselben. Es erhellt schon hieraus, daß die Megariker das Gute als das absolute Wesen in allgemeinerer Bedeutung als Sokrates überhaupt aussprachen; aber dabei bestimmt nicht, wie Sokrates, noch die Menge von Vorstellungen nebenher gelten ließen, als etwa daß sie kein Interesse für den Menschen haben sollten. Sondern sie bekämpften sie als noch geltend und nur etwas Gleichgültiges für den Menschen seiend, – sondern behaupteten, daß sie gar nichts sind. So sind sie in der Bestimmung der Eleaten; es ist nur das Sein, sagten sie, das Negative ist gar nicht. Daß alles andere gar nicht ist, haben die Megariker auch wie die Eleaten gezeigt. Sie haben in allen Vorstellungen Widersprüche aufgezeigt; das ist ihre Disputiersucht.

Hierin diente ihnen nun ihre Dialektik. Da die Dialektik das Aufzeigen dieser Nichtigkeit ist, so sind die Megariker darin vornehmlich berühmt geworden, außer dem Euklid[524] insbesondere Eubulides und später Stilpon, deren Dialektik sich gleichfalls auf Widersprüche, die in der äußeren Vorstellung und in der Rede vorkommen, bezog, so daß sie auch zum Teil in ein bloßes Spiel der Rede überging. Sokrates machte nur einzelne, besonders moralische Vorstellungen oder Vorstellungen vom Wissen wankend, – gelegentliche Dialektik; die Megariker hingegen machten die Dialektik zu etwas Allgemeinerem und Wesentlicherem. Wenn Sokrates sich an die gang und gäben Vorstellungen von Pflicht, von moralischem Guten und an die nächsten Vorstellungen und Weisen zu sprechen, was das Wissen sei, hielt, so wendeten sich die Megariker (ihre philosophische Dialektik) mehr an das Formelle des Vorstellens und Sprechens, noch nicht wie die späteren Skeptiker an die Bestimmtheiten der reinen Begriffe; denn Wissen, Denken in abstrakten Begriffen war noch nicht vorhanden. Sie sind auf alle Weise scharfsinnig, darin Widersprüche zu zeigen und darein zu verwickeln, um so den anderen in Verlegenheit zu setzen. Von ihrer eigentlichen Dialektik wird nicht viel erzähle, mehr von der Verwirrung, die sie im gewöhnlichen Bewußtsein, in der Vorstellung hervorgebracht haben. Es werden darüber eine Menge Anekdoten erzählt. Auf die Manier der gewöhnlichen Konversation haben sie die Dialektik angewendet. Was wir Späße nennen, war ihr ausdrückliches Geschäft. Sokrates wendete so auch die Betrachtung über gewöhnliche Gegen stände hin und her. (In unserer Konversation behauptet ein Individuum etwas, macht dies interessant, geltend.) Viele Anekdoten von ihren Disputierkünsten, von ihren Rätseln sind spaßhaft, andere aber betreffen allerdings eine entschiedene Kategorie des Denkens; diese ergreifen sie und zeigen, wie man, wenn man sie gelten läßt, in Widersprüche gerät, in Widerspruch mit sich kommt.

»Euklid soll, seines hartnäckigen Disputierens ungeachtet, in seinem Disputieren selbst der ruhigste Mann gewesen sein. Man erzählt, einst bei einem Streite wurde sein Gegner so aufgebracht, daß er ausrief: Ich will sterben, wenn ich mich[525] nicht an dir räche! Euklid habe hierauf ruhig erwidert: Und ich will sterben, wenn ich dir nicht durch die Milde der Gründe (lenitate verborum) deinen Zorn so besänftige, daß du mich wie vorhin liebst.«

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 524-526.
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