1. Kapitel
Vom Zustand des Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft

[79] 1. Die Fähigkeiten der menschlichen Natur können auf vier Arten zurückgeführt werden: auf Körperkraft, auf Erfahrung, auf Vernunft und auf Leidenschaften. In der folgenden Darstellung gehe ich von diesen aus. Ich werde zunächst angeben, wie die mit solchen Fähigkeiten versehenen Menschen einander gesinnt sind, und ob und durch welches Vermögen sie von Natur aus zur Gesellschaft geeignet und fähig sind, sich gegen wechselseitige Gewalt zu erhalten. Dann werde ich zeigen, welcher Entschluß hierzu notwendig ist, und welches die Bedingungen der Gesellschaft oder des Friedens für die Menschen sind, d.h. mit andern Worten: welches die natürlichen Gesetze sind.

2. Die meisten, welche über den Staat geschrieben haben, setzen voraus oder verlangen wenigstens von uns zu glauben, daß der Mensch von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei1, also das, was die Griechen zôon politikon nennen. Auf dieser Grundlage errichten sie ihre[79] Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft, als ob zur Erhaltung des Friedens und zur Regierung des menschlichen Geschlechts nichts weiter nötig wäre, als daß die Menschen sich einigten, gewisse Verträge und Bedingungen festzusetzen, die sie selbst dann Gesetze nennen. Dieses Axiom ist jedoch trotz der weitverbreiteten Geltung sicherlich falsch; es ist ein Irrtum, der aus einer allzu oberflächlichen Betrachtung der menschlichen Natur herrührt. Denn untersucht man genauer die Gründe, warum die Menschen zusammenkommen und sich gegenseitig an ihrer Gesellschaft erfreuen, so findet man leicht, daß dies nur zufälligerweise, aber nicht naturnotwendig geschieht. Denn wenn die Menschen einander von Natur, nämlich bloß, weil sie Menschen sind, liebten, wäre es unerklärlich, weshalb nicht jeder einen jeden in gleicher Weise liebte, da sie ja alle in gleicher Weise Menschen sind; oder weshalb der Mensch lieber die Gesellschaft derer aufsucht, die ihm mehr als den übrigen Ehre und Vorteil erweisen. Der Mensch sucht von Natur keine Gesellschaft um der Gesellschaft willen, sondern um von ihr Ehre und Vorteil zu erlangen; dies begehrt er zuerst, das andere aber nur an zweiter Stelle. Die[80] Absicht, weshalb die Menschen sich gesellschaftlich verbinden, ergibt sich am besten aus dem, was sie dann tun, wenn sie verbunden sind. Ist es des Handels wegen geschehen, so sorgt ein jeder nicht für den Genossen, sondern für sein eigenes Vermögen; ist es des Amtes wegen geschehen, so entsteht eine Art Amtsfreundschaft, die aber mehr Eifersucht aufeinander als wahre Liebe enthält, aus der wohl manchmal Zwietracht, aber niemals guter Wille hervorgehen; kommen Menschen des Vergnügens oder des geistigen Verkehrs wegen zusammen, so neigt doch jeder dazu, sich besonders an dem zu erfreuen, was Lachen erweckt, damit er selbst (wie es die Natur des Lächerlichen mit sich bringt) durch Vergleich mit den Fehlern und Schwächen anderer Menschen wenigstens seiner Meinung nach desto lobenswerter hervortrete. Und wenn dies auch manchmal nicht in böser Absicht und ohne jemand zu verletzen geschieht, so ist doch klar, daß dabei nicht die Gesellschaft, sondern die eigene eitle Ehre das Vergnügen hervorruft. Übrigens werden in solchen Zusammenkünften meist die Abwesenden verletzt: ihr ganzes Leben, ihre Worte und Handlungen werden untersucht, beurteilt, verdammt oder zu beißenden Scherzen benutzt; ja selbst die Anwesenden werden nicht geschont, denn sobald sie zur Tür hinaus sind, müssen sie Gleiches erleiden. Deshalb war es gar kein törichter Einfall, aus solchen Klatschgesellschaften immer nur als der letzte fortzugehen. Und das sind in der Tat die wahren Freuden der geselligen Vereinigung, nach denen wir von Natur, d.h. durch die allen lebenden Wesen eingepflanzten Begierden, so lange verlangen, bis durch trübe Erfahrungen oder heilsame Lehren (obgleich nicht bei allen) die Leidenschaften für das Gegenwärtige durch das Andenken an das Vergangene gemäßigt sind. Ohnedem wäre das Geschwätz der meisten, gerade in diesen Dingen höchst beredten Menschen trocken und nüchtern.

Trifft es sich, daß die Gesellschaft sich Geschichten erzählt und gibt einer etwas von sich selbst zum besten, so will auch jeder andere sofort von sich selbst erzählen; wenn der eine etwas Wunderbares mitteilt, so wollen auch die andern von Wundern berichten, die sie erlebt haben;[81] und fehlen solche Wunder, so erdichten sie welche. Soll ich endlich derer gedenken, die weiser als die andern sein wollen? Kommen sie zu gemeinschaftlichem Philosophieren zusammen, so möchte jeder von ihnen Meister scheinen. Und im übrigen lieben sie die Genossen nicht mehr als andere, vielmehr verfolgen sie einander sogar mit Haß.

So lehrt also die Erfahrung jeden, der die menschlichen Verhältnisse etwas aufmerksamer betrachtet, daß die Menschen aus freien Stücken nur zusammenkommen, weil die gemeinsamen Bedürfnisse oder die Ehrsucht sie dazu treiben; sie wollen von ihrer Verbindung nur irgendeinen Vorteil oder jenes eudokimein, die Achtung und die Ehre bei den Genossen erlangen. Dasselbe ergibt sich mittels der Vernunft aus den Definitionen des Willens, des Guten, der Ehre und des Nutzens. Denn da wir freiwillig uns verbinden, so fragt man bei jeder Verbindung nach dem Zweck für einen solchen Entschluß, d.h. nach dem, was jedem der sich Verbindenden dabei als »Gut« erscheint. Alles aber, was als Gut gilt, ist angenehm und bezieht sich entweder auf die Sinnesorgane oder auf die Seele. Alle Lust der Seele ist aber entweder die Ehre (oder die gute Meinung, die man von sich hat) oder etwas, was sich letzten Endes auf die Ehre bezieht; alles andere ist sinnlicher Natur oder führt dahin und kann vollständig unter dem Namen des Nutzens befaßt werden. Somit wird jede Verbindung nur des Nutzens oder des Ruhmes wegen, d.h. aus Liebe zu sich selbst und nicht zu den Genossen; eingegangen. Eine Verbindung aber, die des Ruhmes wegen entstanden ist, kann weder groß noch dauernd sein. Denn mit dem Ruhm ist es wie mit der Ehre; wenn alle Menschen sie haben, so hat keiner sie, da ihr Wesen in der Vergleichung und dem Vorzuge vor andern liegt. Auch ist die bloße Verbindung mit andern kein Grund für den einzelnen, sich Ehre zuzuschreiben; denn jeder gilt nur so viel, als er aus sich selbst, ohne die Hilfe anderer zu schaffen vermag. Zwar können die Annehmlichkeiten dieses Lebens durch gegenseitige Unterstützung vermehrt werden; allein dies kann viel besser durch die Herrschaft über andere als durch die Verbindung mit ihnen erreicht werden; daher treibt unzweifelhaft jedes Menschen Natur, soweit[82] die Furcht ihn nicht hindert, zur Herrschaft und nicht zur Gesellschaft. Deshalb muß man anerkennen, daß der Ursprung aller großen und dauernden Verbindungen der Menschen nicht in gegenseitigem Wohlwollen, sondern in gegenseitiger Furcht2 bestanden hat.

3. Der Grund der gegenseitigen Furcht liegt teils in der natürlichen Gleichheit der Menschen, teils in ihrem Willen, sich gegenseitig Schaden zuzufügen; deshalb kann man weder von andern die geringste Sicherheit erwarten, noch vermag man sie sich selbst zu verschaffen. Denn betrachtet man die erwachsenen Menschen und sieht man, wie gebrechlich der Bau des menschlichen Körpers ist (mit dessen Verfall auch alle Kraft, Stärke und Weisheit des Menschen vergeht), wie leicht es selbst dem Schwächsten ist, den Stärksten zu töten: so versteht man nicht, daß irgend jemand im Vertrauen auf seine Kraft sich von Natur über andere erheben kann. Die einander gleiches tun können, sind gleich; und die, die das Größte vermögen, nämlich zu töten, können auch gleiches tun. Deshalb sind alle Menschen von Natur einander gleich; die jetzt bestehende Ungleichheit ist durch die bürgerlichen Gesetze eingeführt worden.[83]

4. Den Wunsch und Willen zu schaden, haben im Naturzustande alle Menschen; er entspringt jedoch nicht immer aus demselben Grunde und ist nicht gleich tadelnswert. Denn nach der zwischen uns bestehenden natürlichen Gleichheit gestattet der eine den übrigen eben so viel wie sich selbst; so der bescheidene Mensch, der seine Kraft richtig einschätzt. Der andere, der sich für höher hält als die übrigen, erlaubt sich zu tun, was ihn gelüstet und nimmt Ehre und Ehrerbietung, als ihm allein gebührend, für sich in Anspruch; so der Unbändige. Bei letzterem entsteht der Wille zu schaden aus eitler Ehrsucht und Überschätzung seiner Kraft; bei ersterem aus der Notwendigkeit, sich selbst, seine Freiheit und seine Güter gegen des andern Stärke zu verteidigen.

5. Da der geistige Kampf der heftigste ist, folgt weiter, daß die größten Uneinigkeiten, die es überhaupt gibt, aus diesem Streit entstehen müssen. Nicht bloß das Streiten des Gegners, auch daß er nicht beistimmt, ist schon verhaßt. Denn in dieser fehlenden Beistimmung liegt der geheime Vorwurf des Irrtums; in vielen Dingen anderer Meinung sein, ist genau dasselbe, als wenn man den zu den Narren rechnet, mit dem man nicht übereinstimmt. Eine Bestätigung hierfür ist, daß keine Kriege heftiger geführt werden als die zwischen den verschiedenen Sekten einer Religion und zwischen den verschiedenen Parteien eines Staates, wo nur über Glaubenssätze oder politische Fragen gestritten wird. Da nun alle geistige Lust und Freude darin besteht, jemand zu finden, mit dem verglichen man sich selbst fühlen und rühmen kann, so müssen notwendigerweise die Menschen ihren gegenseitigen Haß und ihre Verachtung bald durch Lachen, bald durch Worte, bald durch Gesten oder andere Zeichen merken lassen, und nichts ist kränkender und steigert wiederum so sehr die Lust, andere zu verletzen.

6. Am häufigsten geraten die Menschen in Uneinigkeit und Streit, weil mehrere denselben Gegenstand begehren, der sehr oft weder gemeinsam benutzt noch geteilt werden kann. Deshalb muß der Stärkste ihn haben; und wer der Stärkste ist, das muß durch das Schwert entschieden werden.[84]

7. Bei so vielen Gefahren, die durch die natürlichen Begierden der Menschen jeden einzelnen täglich bedrohen, kann man ihn also nicht tadeln, wenn er sich dagegen zu schützen sucht, da er weder die Macht, noch den Willen hat, anders zu handeln. Denn jeder verlangt das, was gut, und flieht das, was übel für ihn ist; vor allem flieht er das größte der natürlichen Übel, den Tod; und zwar infolge einer natürlichen Notwendigkeit, nicht geringer als die, durch welche ein Stein zur Erde fällt. Es ist daher weder absurd, noch tadelnswert, noch gegen die Gebote der wahren Vernunft, wenn der Mensch sich die möglichste Mühe gibt, seine Glieder zu schützen und gesund zu erhalten, seinen Körper vor Tod und Schmerzen zu bewahren. Was aber nicht gegen die rechte Vernunft geht, nennt jedermann richtig gehandelt, und mit Recht. Durch das Wort Recht ist nichts anderes bezeichnet als die Freiheit, die jeder hat, seine natürlichen Vermögen gemäß der rechten Vernunft zu gebrauchen. Daher ist die erste Grundlage des natürlichen Rechts, daß jeder sein Leben und seine Glieder nach Möglichkeit zu schützen sucht.

8. Da das Recht auf einen Zweck demjenigen nichts nützt, dem das Recht auf die dazu erforderlichen Mittel verweigert wird, so folgt aus dem jedem zustehenden Rechte, sich zu erhalten, auch das Recht für ihn, alle Mittel zu gebrauchen und alle Handlungen zu tun, ohne die er sich nicht erhalten kann.

9. Ob nun aber die Mittel, die er gebrauchen, und die Handlungen, die er ausführen will, zur Erhaltung seines Lebens und seiner Glieder notwendig sind oder nicht, darüber muß er selbst nach dem Naturrecht Richter sein. Denn wenn es gegen die rechte Vernunft verstieße, daß ich selbst über die mir drohende Gefahr entschiede, so würde es ein anderer tun. Da dieser nun aber über meine Angelegenheiten entscheidet, so könnte ich mit demselben Recht, da wir von Natur aus alle gleich sind, auch über seine Angelegenheiten entscheiden. Deshalb könnte ich dann nach der rechten Vernunft, d.h. nach dem Naturrecht, auch darüber entscheiden, ob das, was er sinnt oder meint, zu meiner Erhaltung diene oder nicht.

10. Die Natur hat jedem ein Recht auf alles gegeben;[85] d.h. in dem reinen Naturzustande3 oder ehe noch die Menschen durch irgendwelche Verträge sich gegenseitig gebunden hatten, war es jedem erlaubt zu tun, was er wollte und gegen wen er es wollte, und alles in Besitz zu nehmen, zu gebrauchen und zu genießen, was er wollte und konnte. Da nun alles, was jemand will, ihm gut erscheint, weil er es will, und dies entweder wirklich zu seiner Erhaltung dient – oder ihm wenigstens so scheint – (denn nach dem vorigen ist er selbst Richter hierüber; deshalb muß das für notwendig gelten, was er selbst dafür hält), und da nach Abschn. 7 das in Übereinstimmung mit dem Naturrechte geschieht und besessen werden muß, was notwendig zum Schutz des Lebens und der Glieder dient, so folgt, daß in dem Naturzustande jeder alles haben und tun darf. Und das ist der Sinn des bekannten Satzes: Die Natur hat allen alles gegeben. Daraus erhellt, daß im Naturzustande der Nutzen der Maßstab des Rechtes ist.[86]

11. Es brachte aber den Menschen durchaus keinen Nutzen, in dieser Weise ein allgemeines gleiches Recht auf alles zu haben. Denn die Wirkungen eines solchen Rechts sind so ziemlich dieselben, als wenn überhaupt kein Recht bestände. Wenn auch jeder von jeder Sache sagen konnte: diese ist mein, so konnte er doch seines Nachbars wegen sie nicht genießen, da dieser mit gleichem Rechte und mit gleicher Macht behauptete, daß sie sein sei.

12. Nimmt man nun zu dieser natürlichen Neigung der Menschen, sich gegenseitig Schaden zuzufügen, eine Neigung, die aus ihren Leidenschaften, hauptsächlich aber aus ihrer eitlen Selbstüberschätzung hervorgeht, dies Recht hinzu: allen gehört alles, nach welchem der eine mit Recht angreift und der andere mit Recht Widerstand leistet, aus dem stetes Mißtrauen und Verdacht nach allen Seiten hin hervorgeht, und erwägt man, wie schwer es ist, gegen Feinde, die mit der Absicht, uns zu unterdrücken und zu vernichten, uns angreifen, sich zu schützen, wenn sie auch in geringer Zahl und mit geringen Mitteln kommen: so kann man nicht leugnen, daß der natürliche Zustand der Menschen, bevor sie zu Gesellschaften zusammentraten, der Krieg schlechthin gewesen ist, und zwar der Krieg aller gegen alle. Denn was ist der Krieg anderes als jene Zeit, wo der Wille, mit Gewalt seinen Streit auszufechten, durch Worte oder Taten deutlich erklärt wird? Die übrige Zeit nennt man Frieden.

13. Wie schädlich aber ein ewiger Krieg für die Erhaltung des menschlichen Geschlechts oder des einzelnen Menschen ist, kann man leicht ermessen. Nun ist aber der Krieg seiner eigenen Natur mach ewig, da er bei der Gleichheit der Streitenden durch keinen Sieg für immer beendet werden kann. Denn der Sieger bleibt weiter bedroht, so daß es fast ein Wunder scheint, wenn in diesem Zustand jemand, und sei er auch noch so stark, eines natürlichen Todes im Alter stirbt. Als ein Beispiel hierfür zeigt uns das jetzige Jahrhundert die Amerikaner; frühere Zeiten zeigen andere Völker, die jetzt zwar gebildet und blühend sind, aber damals gering an Zahl, roh, von kurzer Lebensdauer, arm und häßlich waren und alle Bequemlichkeiten und allen Schmuck des Lebens entbehrten,[87] welche nur der Friede und die Gesellschaft gewähren kann. Wer also meint, daß man am besten in dem Zustande geblieben wäre, wo allen alles erlaubt war, der widerspricht sich selbst; denn jeder verlangt aus natürlicher Notwendigkeit nach dem Guten, und niemand wird einen solchen Krieg aller gegen alle, welcher diesem Zustande notwendigerweise anhaftet, als etwas für ihn Gutes ansehen. Dadurch kommt es, daß man infolge gegenseitiger Furcht es für ratsam hält, aus einem solchen Zustande herauszutreten und Genossen zu suchen, damit, wenn Krieg sein muß, er doch nicht gegen alle und nicht ohne Hilfe geführt werde.

14. Man verschafft sich Genossen entweder durch Gewalt oder durch Zusagen: durch Gewalt, wenn der Sieger nach der Schlacht den Besiegten durch Androhung des Todes oder durch angelegte Fesseln zwingt, ihm zu dienen; durch Zusage, wenn Menschen mit Übereinstimmung beider Teile ohne Gewalt eine Gesellschaft bilden zum Zweck gegenseitiger Hilfeleistung. Der Sieger kann aber den Besiegten, oder der Stärkere den Schwachem (sowie der Gesunde den Kranken oder der Erwachsene das Kind) mit Recht zwingen, daß er ihm Sicherheit für seinen späteren Gehorsam leiste, wenn er nicht lieber sterben will. Denn da das Recht, sich selbst nach eigenem Ermessen zu schützen, von der eigenen Gefahr, und die Gefahr von der Gleichheit kommt, so entspricht es mehr der Vernunft und ist für die eigene Erhaltung sicherer, daß man sich durch Benutzung des gegenwärtigen Vorteils durch Empfang einer Bürgschaft sichert, als daß man, wenn jene groß und stark geworden sind und unserer Macht sich entzogen haben, sich bemüht, durch einen zweifelhaften Kampf diese Macht wieder zu gewinnen. Und andrerseits ist nichts verkehrter, als einen Schwachen, den man bereits in der Gewalt hat, freizulassen und damit zu einem Starken und Feind zu machen. Hieraus erhellt auch, gleichsam als Nebenergebnis, daß in dem Naturzustande der Menschen eine feste und unwiderstehliche Macht dem Inhaber das Recht zur Regierung und zum Befehl über die gewährt, welche ihm keinen Widerstand leisten können. Somit haftet an der Allmacht wesentlich und unmittelbar das Recht, alles zu tun.[88]

15. Indes können die Menschen, solange sie sich im Naturzustande, d.h. im Zustande des Krieges, befinden, wegen jener Gleichheit der Kräfte und der anderen menschlichen Vermögen nicht erwarten, sich dauernd zu erhalten. Deshalb ist es ein Gebot der rechten Vernunft, den Frieden zu suchen, sobald eine Hoffnung auf denselben sich zeigt, und solange er nicht zu haben ist, sich nach Hilfe für den Krieg umzusehen. Dies ist das Gesetz der Natur, wie gleich gezeigt werden wird.[89]

1

Da die Verbindungen der Menschen schon wirklich bestehen, da niemand außerhalb der Gesellschaft leben mag und jeder die Gesellschaft und die Unterhaltung sucht, so kann es auffallen und als töricht erscheinen, wenn ein Schriftsteller gleich am Anfang seiner Darstellung den Satz aufstellt, daß der Mensch keineswegs von Natur ein zur Gesellschaft geeignetes Wesen sei. Ich sage daher deutlicher, daß allerdings der Mensch von Natur oder soweit er Mensch ist, d.h. von seiner Geburt an ein Feind fortdauernder Einsamkeit ist; denn die Kinder bedürfen zum bloßen Leben und die Erwachsenen zum Wohlleben der Hilfe anderer. Ich bestreite daher nicht, daß die Menschen durch einen Naturtrieb einander aufsuchen; aber die bürgerlichen Gesellschaften sind nicht reine Zusammenkünfte, sondern Bündnisse, zu deren Abschluß Treue und Verträge nötig sind. Die Kraft dieser wird aber von Kindern und Unwissenden, und der Nutzen derselben von denen, welche die Nachteile der fehlenden Verbindung noch nicht selbst erfahren haben, nicht gekannt. Deshalb können jene diese Gemeinschaft nicht eingehen, weil sie nicht wissen, was sie bedeutet, und diese nicht, weil sie sich nicht darum kümmern und ihren Nutzen nicht kennen. Also sind offenbar alle Menschen (da alle als Kinder geboren werden) zur Gesellschaft von Natur unfähig, und sehr viele bleiben (vielleicht die meisten) entweder aus Schwachsinnigkeit oder aus Mangel an Erziehung ihr ganzes Leben lang dazu unfähig. Dennoch haben sowohl jene Kinder wie diese Erwachsenen die Menschennatur, und deshalb wird der Mensch nicht von Natur, sondern durch Zucht zur Gesellschaft geeignet. Ja selbst wenn der Mensch von Natur nach der Gesellschaft verlangte, so folgte doch nicht, daß er von Natur zur Eingehung der Gesellschaft auch geeignet sei; denn das Verlangen und die Fähigkeit sind verschiedene Dinge. Auch diejenigen verlangen nach der Gesellschaft, die ihres Stolzes wegen sich dennoch den für alle geltenden gleichen Gesetzen nicht unterwerfen mögen, ohne welche eine Gesellschaft nicht bestehen kann.

2

Man hat mir entgegnet, daß die Menschen unmöglich aus Furcht zur Eingehung von Gesellschaften bestimmt werden könnten, weil sie bei solch gegenseitiger Furcht ihren gegenseitigen Anblick nicht hätten ertragen können. Bei diesem Einwande setzt man dann aber voraus, daß Furcht nichts anderes ist als Schrecken. Ich verstehe aber unter dem Worte »Furcht« ein gewisses Voraussehen von kommendem Unheil. Zur Natur der Furcht gehört nicht nur das Da vonfliehen, sondern auch Mißtrauen, Verdacht, Vorsicht und Fürsorge gegen die Gefahr sind dem Furchtsamen eigen. Wer sich schlafen legt, schließt die Tür; wer eine Reise macht, nimmt eine Waffe mit aus Furcht vor Dieben. Staaten schützen ihre Küsten und Grenzen durch Festungswerke und Burgen; Städte sind umschlossen von Mauern; und das alles aus Furcht vor benachbarten Staaten und Städten. Selbst die stärksten und schlagfertigsten Heere verhandeln mitunter über den Frieden, aus Furcht vor der Macht des Gegners und in Sorge, daß sie besiegt werden könnten. Aus Furcht schützen sich die Menschen in der Tat durch Flucht und verstecken sich, wenn sie glauben, anders sich nicht retten zu können; aber meist greifen sie zu den Waffen und andern Verteidigungsmitteln, sie wagen dann vorzutreten, um die Absicht des andern zu erkennen. Mögen sie dann kämpfen oder sich vertragen, so erhebt sich aus dem Siege oder aus ihrem Vergleich der Staat.

3

Damit ist gemeint, daß das, was jemand im Naturzustande tut, für niemand schädlich ist; nicht etwa, daß in einem solchen Zustande die Sünde gegen Gott und die Verletzung der natürlichen Gesetze unmöglich wäre, sondern weil das Unrecht gegen Menschen menschliche Gesetze voraussetzt, die es im Naturzustande nicht gibt. Die Wahrheit des Satzes in diesem Sinne erhellt für den aufmerksamen Leser aus den vohergehenden Abschnitten. Da indes manchmal die Schwierigkeit einer Schlußfolge die Vordersätze vergessen läßt, so will ich eine Begründung geben, die mit einem Blick übersehen und erfaßt werden kann. Nach Abschn. 7 darf jeder sich selbst schützen, und nach Abschn. 8 darf er von allen zu diesem Zwecke nötigen Mitteln Gebrauch machen. Nach Abschn. 9 sind diejenigen Mittel nötig, die er für nötig hält; er hat daher das Recht, alles zu benutzen und alles zu tun, was er selbst zu seiner Erhaltung für nötig hält. Er selbst entscheidet also, ob das, was er tut, mit Recht oder Unrecht geschieht, und deshalb geschieht es immer mit Recht. Deshalb ist also wahr, daß in dem Naturzustande usw. Sollte aber jemand etwas für seine Erhaltung nötig erklären, was er selbst innerlich nicht dafür hält, so würde er damit gegen die natürlichen Gesetze verstoßen, wie im dritten Kapitel ausführlich dargelegt werden wird. Manche haben eingewendet und gefragt: Wenn ein Sohn seinen Vater getötet hat, hat er dann an dem Vater nicht Unrecht getan? Ich habe geantwortet, daß man von einem Sohnesverhältnis im Naturzustande nicht sprechen kann, da, sobald jemand geboren ist, er in der Gewalt und unter der Herrschaft dessen ist, dem er seine Erhaltung verdankt, also entweder unter der Herrschaft seines Vaters oder seiner Mutter oder dessen, der ihm den Unterhalt gibt, wie ich im 9. Kapitel gezeigt habe.

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 79-90.
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