2. Kapitel
Die natürlichen Gesetze in bezug auf Verträge

[90] 1. Die Schriftsteller stimmen in der Definition des »natürlichen Gesetzes« nicht überein, obgleich sie sich dieses Wortes in ihren Schriften fortwährend bedienen; indes ist ein Verfahren, welches mit Definitionen beginnt und jeden Doppelsinn ausschließt, jenen eigentümlich, die keinen Raum zum Streit übrig lassen. Wenn von den übrigen behauptet wird, daß eine Handlung gegen das natürliche Gesetz verstoße, so beweist der eine es daraus, daß die Handlung gegen die übereinstimmende Meinung aller weisesten und gelehrtesten Völker verstoße; aber er gibt nicht an, wer über die Weisheit und Gelehrsamkeit der Völker entscheiden soll. Ein anderer sagt, eine solche Handlung verstoße gegen die übereinstimmende Meinung des ganzen Menschengeschlechts; allein diese Definition kann man auf keinen Fall zulassen, weil sonst nur Kinder und Blödsinnige gegen ein solches Gesetz verstoßen könnten; unter dem Worte »Menschengeschlecht« sind doch offenbar alle vernünftigen Menschen zu verstehen, und diese handeln entweder nicht dagegen oder tun es nur unfreiwillig und deshalb ohne Schuld. Indes ist es unvernünftig die natürlichen Gesetze aus der Übereinstimmung derer zu entnehmen, die sie häufiger verletzen als befolgen. Auch verurteilen die Menschen an andern das, was sie an sich selbst billigen; sie loben öffentlich, was sie im geheimen verdammen; sie urteilen, wie sie es von andern zu hören gewohnt sind, und nicht nach eigener Überlegung; ihre Übereinstimmung ist mehr eine Folge des Hasses, der Furcht, der Hoffnung, der Liebe oder eines andern Affekts als eine Folge wahrer Vernunft. Deshalb geschieht es oft,[90] daß ganze Völkerschaften in voller Übereinstimmung und mit gemeinsamen Kräften das tun, was nach jenen Schriftstellern unzweifelhaft gegen das natürliche Gesetz verstößt. Da indes alle zugeben, daß das mit Recht geschehe, was nicht gegen die rechte Vernunft geschieht, so muß nur das für Unrecht gelten, was der rechten Vernunft widerstreitet, d.h. was einer Wahrheit widerspricht, die aus richtigen Grundsätzen in richtiger Schlußweise abgeleitet worden ist. Was aber mit Unrecht geschehen ist, gilt als gegen ein Gesetz geschehen. Das Gesetz ist daher gleichsam die rechte Vernunft, die (da sie ebensogut einen Teil der menschlichen Natur ausmacht wie andere Vermögen oder Zustände der Seele) auch die natürliche heißt. Das natürliche Gesetz ist also, um es genau zu definieren, das Gebot der rechten4 Vernunft in betreff dessen, was behufs einer möglichst langen Erhaltung des Lebens und der Glieder zu tun und zu lassen ist.

2. Das erste und grundlegende Gesetz der Natur geht dahin, daß man den Frieden suche, soweit er zu haben ist; wo dies nicht möglich ist, soll man Hilfe für den Krieg suchen. Im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels habe ich gezeigt, daß diese Regel ein Gebot der rechten Vernunft ist; und daß die Gebote der rechten Vernunft die[91] natürlichen Gesetze sind, ist soeben bewiesen worden. Dieses Gesetz ist das erste, weil alle andern davon abgeleitet werden und die Wege zum Frieden oder zur Selbstverteidigung angeben.

3. Eins von den aus diesem Grundgesetz abgeleiteten natürlichen Gesetzen ist, daß das Recht aller auf alles nicht beizubehalten sei, sondern daß einzelne Rechte zu übertragen oder aufzugeben seien. Denn wollte jeder sein Recht auf alles festhalten, so wäre die notwendige Folge, daß die einen mit Recht einfallen, die andern sich mit demselben Recht verteidigen könnten. Denn jeder sucht mit Naturnotwendigkeit seinen Körper und all das zu seinem Schutz Notwendige zu verteidigen. Also würde der Krieg die Folge sein. Es würde also gegen die Gebote des Friedens, d.h. gegen das natürliche Gesetz, handeln, wer sein Recht auf alles nicht aufgeben wollte.

4. Sein Recht aufgeben, heißt, ihm völlig entsagen oder es auf einen andern übertragen. Völlig entsagen tut der, welcher durch ein oder mehrere entsprechende Zeichen erklärt, daß es ihm nie mehr erlaubt sein solle, etwas wieder zu tun, was er bisher mit Recht tun konnte. Eine Übertragung des Rechts auf einen andern findet statt, wenn man durch ein oder mehrere entsprechende Zeichen seinen Willen dem andern gegenüber dahin erklärt, daß es nicht erlaubt sein solle, sich ihm zu widersetzen, wenn er etwas tut, bei dessen Ausführung man sich vorher hätte mit Recht widersetzen können. Aber daß die Übertragung des Rechts nur darin besteht, daß man nicht Widerstand leiste, erhellt daraus, daß der, auf den die Übertragung geschieht, schon vor dieser Rechtsübertragung das Recht auf alles besaß. Der andere konnte ihm daher kein neues Recht verleihen; aber das Recht zum Widerstand, das man hatte, bevor man es abgab, und durch das der andere nicht frei von seinen Rechten Gebrauch machen konnte, wird völlig aufgehoben. Wer also im Naturzustande des Menschen ein Recht erwirbt, bewirkt, daß er nur sicher und frei von gerechter Belästigung von seinem ursprünglichen Rechte Gebrauch machen kann. Wenn z.B. jemand einem andern ein Grundstück verkauft oder schenkt, so nimmt er nur sich allein, aber nicht auch anderen das Recht auf dieses Grundstück.[92]

5. Zur Übertragung eines Rechts gehört aber nicht bloß der Wille des Übertragenden, sondern auch der des Annehmenden. Fehlt dieser Wille auf einer von beiden Seiten, so bleibt das Recht unverändert; wenn ich das meinige jemand geben wollte, der es anzunehmen verweigert, habe ich mein Recht darum noch nicht einfach aufgegeben oder an einen Beliebigen übertragen; denn der Grund, weshalb ich es dem einen übertragen wollte, galt nur für diesen, nicht auch für andere.

6. Wenn der Wille, ein Recht aufzugeben oder zu übertragen, durch kein anderes Zeichen als nur durch Worte ausgedrückt wird, so müssen sich diese Worte auf die Gegenwart oder Vergangenheit beziehen; bezeichnen sie nur etwas Zukünftiges, so ist die Übertragung unwirksam. Wenn z.B. jemand sich von der Zukunft so ausdrückt: Ich will es dir morgen geben, so zeigt er damit offenbar, daß er es noch nicht gegeben hat. Das Recht bleibt also für heute ganz unverändert und bleibt es auch für morgen, wenn es nicht inzwischen tatsächlich übertragen worden ist: denn was mein ist, bleibt mein, bis ich mich davon getrennt habe. Wenn ich aber in der Gegenwart mich ausdrücke, etwa so: Ich gebe es, oder ich habe es dir zum Besitz von morgen abgegeben, so sagen diese Worte, daß ich es ihm bereits gegeben habe und daß sein Recht, es morgen zu erhalten, ihm heute von mir übertragen worden ist.

7. Trotzdem, wenn auch Worte allein nicht hinreichende Zeichen für Willenserklärungen sind, so können sie doch, wenn zu Worten, die sich auf die Zukunft beziehen, andere Zeichen hinzukommen, ebenso wirksam werden, als wenn sie von der Gegenwart gesprochen wären. Wenn es daher durch jene anderen Zeichen augenscheinlich ist, daß der von der Zukunft Sprechende beabsichtigt, daß seine Worte für die vollständige Übertragung seines Rechtes gültig sein sollen, so sollten sie auch wirksam sein. Denn die Übertragung eines Rechtes hängt nicht von Worten, sondern wie in Abschn. 4 dieses Kapitels gezeigt ist, von der Willenserklärung ab.

8. Wenn jemand einen Teil seines Rechtes auf einen andern überträgt, und dies nicht wegen eines dafür empfangenen Gewinnes oder infolge eines Vertrags tut, so[93] heißt eine solche Übertragung ein Geschenk oder eine freiwillige Schenkung. Hierbei verpflichten aber nur Worte, die auf die Gegenwart oder Vergangenheit sich beziehen; beziehen sie sich auf die Zukunft, so verpflichten sie als Worte nicht, wie in dem vorhergehenden Abschnitt ausgeführt worden ist. Die Verbindlichkeit muß also dann aus andern Zeichen des Willens erhellen. Da indes alles, was freiwillig geschieht, aus irgendeinem dem Wollenden zufließenden Vorteile geschieht, so kann man es als Zeichen der Absicht, zu geben, nur gelten lassen, wenn durch eine solche Schenkung ein Gewinn erworben wird oder erworben werden soll. Nun ist aber hier vorausgesetzt worden, daß kein solcher Gewinn erlangt worden ist und auch kein Vertrag vorliegt, weil es sonst keine freiwillige Schenkung sein würde; es bliebe also nur der Fall, daß ein Gewinn von der andern Seite auch ohne Vertrag erwartet würde. Hier gibt es aber kein Zeichen dafür, daß der, welcher auf die Zukunft bezügliche Ausdrücke demgegenüber gebraucht hat, der zu keiner Erwiderung der Wohltat verbunden ist, seine Worte so verstanden haben wolle, daß er selbst durch sie gebunden sei. Es ist gegen die Vernunft, daß gutmütige Menschen durch jedes Versprechen, das nur ihre gegenwärtige Gemütsstimmung darlegt, gebunden sein sollen. Deshalb muß man annehmen, daß ein solcher sein Versprechen überlegen und seine Stimmung ändern kann, wie ja auch die Verdienste dessen, dem etwas versprochen worden ist, sich ändern können. Wer aber überlegt, ist so lange noch frei und man kann nicht sagen, daß er schon geschenkt hat. Verspricht er jedoch oft, gibt aber selten, so darf man ihn der Unbeständigkeit zeihen; er kann nicht ein Schenker, sondern einer, der immer nur schenken will, genannt werden.

9. Wenn zwei oder mehrere sich ihre Rechte gegenseitig übertragen, so heißt dies ein Vertrag. Bei jedem Vertrage leisten entweder beide sofort das, was sie versprochen haben, so daß keiner von dem andern noch etwas zu fordern hat; oder der eine erfüllt und dem andern wird Frist gegeben; oder keiner erfüllt. Wenn beide sofort erfüllen, so hört der Vertrag sofort mit der Erfüllung auf. Wo aber dem einen oder beiden Frist gegeben wird, da[94] verspricht der, dem diese Frist gegeben wird, eine spätere Erfüllung, und ein solches Versprechen heißt ein Übereinkommen.

10. Ein Übereinkommen, wo der eine erfüllt und der andere Frist erhalten hat, überträgt, auch wenn das Versprechen nur in Worten geschehen ist, die sich auf die Zukunft beziehen, dennoch das Recht für die zukünftige Zeit ebenso, als wenn die Worte sich auf die Gegenwart oder Vergangenheit bezogen hätten. Denn des einen Erfüllung ist das deutlichste Zeichen, daß er die Rede des andern, welcher Frist erhalten, so verstanden hat, daß dieser auch zu der bestimmten Zeit leisten wolle; und ebenso hat an dieser Erfüllung der andere erkannt, daß seine Worte so verstanden worden sind; da er dies nicht geändert hat, so ist es ein augenscheinliches Zeichen, daß er erfüllen will. Deshalb sind alle Versprechen für ein empfangenes Gut (wozu auch die Übereinkommen gehören) Zeichen des Willens, d.h. – wie es im vorigen Abschnitt gezeigt worden ist – des letzten Entschlusses, wodurch die Freiheit, nicht zu erfüllen, aufgehoben wird; mithin sind sie verpflichtend, denn wo die Freiheit aufhört, da beginnt die Verpflichtung.

11. Übereinkommen, wo beide Teile sich einander Frist gewähren und keiner gleich erfüllt, verlieren in dem Naturzustande, wenn berechtigtes Mißtrauen bei einem von ihnen entsteht5, ihre Gültigkeit. Denn der, welcher zuerst erfüllt, ist dann wegen der verdorbenen Gesinnungen der meisten Menschen, die nur auf ihren Vorteil, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht, bedacht sind, dem bösen Willen dessen überliefert, mit dem er übereingekommen ist. Aber es entspricht nicht der Vernunft, daß jemand zuerst erfülle, wenn es nicht wahrscheinlich ist, daß auch der andere später erfüllen werde. Über diese Möglichkeit hat aber nur der Fürchtende zu entscheiden, wie es im 1. Kap., Abschn. 9 gezeigt worden ist. So verhält es sich, behaupte ich, im[95] Naturzustande; in einem Staate dagegen, wo eine Macht beide Teile zwingen kann, hat der, welcher die frühere Erfüllung versprochen hat, auch zuerst zu erfüllen; denn da der andere gezwungen werden kann, so fällt hier der Grund der Furcht, daß der andere nicht erfüllt, weg.

12. Daraus, daß bei jeder Schenkung und bei jedem Vertrage die Annahme des übertragenen Rechts nötig ist, folgt, daß niemand mit demjenigen ein Übereinkommen treffen kann, der diese Annahme nicht erklärt. Deshalb kann man mit den Tieren keinen Vertrag schließen, noch kann man ihnen irgendein Recht gewähren oder nehmen, da ihnen Sprache und Verstand abgehen. Auch kann niemand einen Vertrag mit Gott abschließen, noch sich ihm durch ein Gelübde verpflichten, soweit es nicht Gott gefällt, sich durch heilige Schriften einige Stellvertreter unter den Menschen zu ernennen, welche die Ermächtigung haben, an Gottes Stelle dergleichen Gelübde und Verträge anzunehmen.

13. Deshalb sind die Gelübde der im Naturzustande befindlichen Menschen, welche kein bürgerliches Gesetz bindet, vergebens, es müßte ihnen denn durch unzweifelhafte Offenbarung der Wille Gottes, ihr Gelübde oder den Vertrag anzunehmen, bekannt werden. Denn wenn das, was sie geloben, gegen das Naturgesetz geht, bindet ihr Gelübde sie nicht, weil niemand verpflichtet ist, etwas Unerlaubtes zu tun; ist aber das, was sie geloben, durch irgendein Naturgesetz geboten, so sind sie nicht durch das Gelübde, sondern durch das Gesetz gebunden. Stand es aber vor dem Gelübde ihnen frei, dasselbe zu erfüllen oder zu unterlassen, so bleibt ihnen diese Freiheit; denn zur Verpflichtung durch Gelübde gehört notwendigerweise der deutlich erklärte Wille des Berechtigten, der in dem vorliegenden Falle nicht vorausgesetzt werden kann. Unter Berechtigten verstehe ich den, dem jemand etwas verspricht, unter Verpflichtetem den, der es verspricht.

14. Verträge betreffen nur die Handlungen, welche überlegt werden können; denn es gibt keinen Vertrag ohne den Willen des Abschließenden. Der Wille ist aber der Abschluß der Überlegung; er kann deshalb nur mögliche und zukünftige Handlungen betreffen, und es kann sich niemand[96] durch Vertrag zu etwas Unmöglichem verpflichten. Wenn wir auch oft Verträge abschließen über Dinge, die beim Vertragsabschluß möglich schienen, deren Unmöglichkeit sich aber später ergibt, so sind wir darum doch nicht frei von jeder Verpflichtung. Denn der, der etwas Zukünftiges verspricht, erhält sicherlich sofort einen Vorteil unter der Bedingung, daß er die Gegenleistung gewähre. Denn der Wille dessen, der einen gegenwärtigen Vorteil gewährt, geht einfach auf ein Gut für sich, von dem Werte der ihm versprochenen Sache; dagegen geht er nicht einfach auf die Sache selbst, sondern nur bedingt, wenn sie möglich ist. Trifft es sich aber, daß sie sich als unmöglich erweisen sollte, so muß die Leistung erfolgen, soweit sie möglich ist. Daher verpflichten Verträge nicht zur ausgemachten Sache selbst, sondern zur möglichsten Anstrengung, sie zu gewähren; weil nur dies, aber nicht die Dinge selbst in unserer Gewalt sind.

15. Die Befreiung von Verträgen geschieht auf zweierlei Weise, entweder durch Erfüllung oder durch den Erlaß des Berechtigten: ersteres deshalb, weil man darüber hinaus sich nicht verpflichtet hat; letzteres, weil damit der Berechtigte beabsichtigt, daß das auf ihn übertragene Recht auf den Verpflichteten zurückkehrt; denn der Erlaß ist eine Schenkung, d.h. nach Abschn. 4 dieses Kapitels die Übertragung eines Rechts an den, welchem die Schenkung gemacht ist.

16. Es ist eine viel erörterte Frage, ob Verträge, die durch Drohungen erpreßt worden sind, gültig seien oder nicht. Wenn ich z.B., um mein Leben von einem Räuber zu erkaufen, ihm die Zahlung von 100 Pfund für den nächsten Tag versprochen und außerdem zugesagt habe, daß ich nichts zu seiner Ergreifung und gerichtlichen Auslieferung unternehmen wolle, bin ich dann verpflichtet, das Versprechen zu halten oder nicht? Allerdings muß ein solches Versprechen mitunter als ungültig angesehen werden, aber nicht, weil es aus Furcht entsprang; denn dann wären auch die Verträge, durch die die Menschen sich zum staatlichen Leben vereinigten und Gesetze erließen, ungültig (denn nur die Furcht vor gegenseitiger Ermordung bestimmt, daß einer sich der Herrschaft des andern unterwirft);[97] schließlich würde der auch unvernünftig handeln, welcher einem Gefangenen, der ein Lösegeld verspricht, Vertrauen schenkt. Es gilt allgemein, daß die Verträge verpflichten, wenn irgendein Gut empfangen ist, und wenn Versprechen und Versprochenes nicht den bürgerlichen Gesetzen widersprechen. Nun ist es gesetzlich erlaubt, zum Loskauf des Lebens etwas zu versprechen und von dem Meinigen wem auch immer, selbst einem Räuber, etwas zu geben. Deshalb verpflichten auch die aus Furcht geschlossenen Verträge, wenn nicht durch das bürgerliche Gesetz das Versprochene verboten ist.

17. Wenn jemand sich einem andern zu einer Handlung oder Unterlassung verpflichtet hat und nachher einem dritten das Entgegengesetzte verspricht, so bewirkt er nicht, daß der frühere, sondern daß der spätere Vertrag ungültig wird. Denn wer sein Recht bereits durch einen Vertrag auf einen andern übertragen hat, hat nicht mehr das Recht, die Handlung zu tun oder nicht zu tun; deshalb kann er durch spätere Verträge kein Recht übertragen, und das Versprochene ist ohne Recht versprochen. Er bleibt also an seinen ersten Vertrag allein gebunden und darf diesen nicht verletzen.

18. Niemand ist durch irgendeinen Vertrag verpflichtet, dem, der ihn töten oder verwunden oder sonst verletzen will, keinen Widerstand zu leisten; denn bei jedermann kann die Gewißheit, das schlimmste der Übel zu erleiden, zu einer solchen Angst sich steigern, daß er diesem Übel mit natürlicher Notwendigkeit entflieht, daher man annimmt, er habe hier nicht anders handeln können. Hat ein so hoher Grad von Furcht ihn überkommen, so kann man nichts anderes erwarten, als daß er durch Kampf oder Flucht sich zu retten suchen werde. Da nun niemand an Unmögliches gebunden ist, so sind die, denen der Tod (welches das größte natürliche Übel ist) oder Verwundungen oder andere Körperverletzungen angedroht werden, und die zu ihrer Ertragung nicht stark genug sind, auch nicht verpflichtet, sie zu ertragen. Übrigens vertraut man dem, der sich durch Vertrag verpflichtet hat; denn die Treue ist das allein Bindende bei den Verträgen; aber die, die der Strafe – entweder dem Tode oder einer geringeren[98] Strafe – überliefert werden, werden gefesselt oder stark bewacht; daraus erhellt deutlich, daß sie nicht als solche betrachtet werden, die durch ihren Vertrag genügend verpflichtet sind, sich nicht zu widersetzen. Etwas anderes ist es, wenn ich so übereinkomme: Du sollst mich töten, wenn ich an dem bestimmten Tage es nicht geleistet habe; und wieder etwas anderes, wenn es so geschieht: Im Fall ich es nicht geleistet haben sollte, will ich dem mich Tötenden keinen Widerstand leisten. In der erstern Art schließt jedermann Verträge, wenn es nottut, und dies ist mitunter der Fall; auf die letztere Art geschieht es von niemand und ist auch nie nötig; denn im Naturzustande hat man, wenn man will, vermöge dieses Zustandes das Recht, den andern zu töten, es ist also kein vorgängiger Vertrag dazu nötig, wenn man den Wortbrüchigen töten will. Dagegen steht in dem bürgerlichen Zustande das Recht über Leben und Tod und alle peinlichen Strafen nur dem Staate zu, und keinem einzelnen kann das Recht zu töten eingeräumt werden. Auch der Staat bedarf zur Bestrafung des einzelnen keines Vertrags mit ihm, wodurch dieser einräumt, es zu dulden; sondern es genügt, daß die andern ihn nicht verteidigen. Wenn in dem Naturzustande, wie er zwischen zwei Staaten besteht, ein Übereinkommen besteht, sich töten zu lassen, wenn etwas nicht getan werden sollte, so nimmt man an, daß zugleich ein anderes Abkommen vorhergegangen, wonach das Töten vor der bestimmten Frist nicht stattfinden soll. Wenn daher an diesem Tage die Leistung nicht erfolgt, so tritt das Recht des Kriegs wieder ein, d.h. ein feindlicher Zustand, wo alles erlaubt ist, also auch der Widerstand. Endlich würde man durch das Versprechen, keinen Widerstand zu leisten, verpflichtet sein, von zwei gegenwärtigen Übeln das größere zu wählen; denn der Tod ist sicher ein größeres Übel als der Kampf. Allein von zwei Übeln das kleinere nicht zu wählen, ist unmöglich; ein solcher Vertrag würde also zu etwas Unmöglichem verpflichten, was der Natur der Verträge widerstreitet.

19. Ebenso wird auch niemand durch irgendein Übereinkommen verpflichtet, sich selbst oder einen andern anzuklagen, dessen Verurteilung ihm das Leben verbittern[99] würde. Deshalb braucht der Vater nicht gegen seinen Sohn, der Ehegatte nicht gegen seinen Ehegatten, der Sohn nicht gegen seinen Vater, noch jemand gegen seine Ernährer ein Zeugnis abzulegen; denn ein Zeugnis hat keinen Wert, das von Natur als verfälscht angesehen werden muß. Wenngleich indes niemand durch Vertrag zu einer Anklage gegen sich selbst verpflichtet werden kann, so kann er doch in einer öffentlichen Verhandlung durch die Tortur zur Antwort gezwungen werden. Solche Antworten sind indes kein Beweis, sondern nur ein Mittel, um die Wahrheit aufzufinden; ob daher der zur Tortur Gebrachte wahr oder falsch oder gar nicht antwortet, er handelt recht.

20. Der Eid ist eine mit einem Versprechen verbundene Rede, durch welchen der Versprechende erklärt, daß er, wenn er nicht Wort halte, auf die Barmherzigkeit Gottes verzichte. Diese Definition folgt unmittelbar aus den Worten, die das Wesentliche des Eides enthalten, nämlich: »So Gott mir helfe«, oder aus andern gleichbedeutenden, wie z.B. bei den Römern: »Du, Jupiter, schlachte den, der betrogen hat, wie ich dieses Schwein schlachte.« Auch steht dem nicht entgegen, daß ein Eid nicht immer als ein bloß versprechender, sondern mitunter auch als ein behauptender angesehen werden kann; denn auch der, welcher eine Behauptung durch den Eid bekräftigt, verspricht die Wahrheit zu sagen. Wenn in einzelnen Gegenden die Untertanen bei ihren Königen zu schwören pflegten, so kam dies daher, daß diese Könige göttliche Ehren für sich in Anspruch nahmen. Der Eid ist nämlich deshalb eingeführt worden, damit durch die Religion und durch die Rücksicht auf die göttliche Macht eine größere Furcht, das Versprechen zu verletzen, entstehe, als man vor den Menschen hat, denen unsere Werke verborgen bleiben können.

21. Hieraus ergibt sich, daß der Eid nach der Formel geleistet werden muß, deren sich der bedient, welchem der Eid geleistet wird; denn durch einen Eid bei einem Gott, an den man nicht glaubt und den man daher auch nicht fürchtet, wird niemand gebunden. Wenn man auch durch das natürliche Licht erkennen kann, daß es einen Gott gibt,[100] so meint doch niemand, daß er nach einer anderen Formel oder anderen Worten zu schwören hat als der, die seine eigene, d.h. (wie der Schwörende glaubt) die wahre Religion ihm vorschreibt.

22. Aus der obigen Definition des Eides kann man ersehen, daß der bloße Vertrag ebenso verpflichtet wie der beschworene; denn der Vertrag ist es, welcher uns bindet, während der Eid sich auf die göttliche Strafe bezieht, die man nicht herausfordern könnte, wenn die Verletzung des Vertrags nicht an sich unerlaubt wäre; das wäre nicht der Fall, wenn nicht schon der Vertrag bände. Übrigens verpflichtet sich der, welcher auf die Gnade Gottes verzichtet, noch nicht zu einer Strafe; da es immer gestattet ist, um Erlaß einer wie auch immer verursachten Strafe zu bitten und sich der Nachsicht Gottes, wenn sie gewährt wird, zu erfreuen. Die Wirkung des Eides ist daher nur die, daß in die von Natur zur Verletzung der versprochenen Treue neigenden Menschen durch den Schwur eine größere Scheu vor dem Treubruch kommt.

23. Wenn man den Eid für Fälle verlangt, wo die etwaige Verletzung des Vertrags nicht unbemerkt bleiben kann und wo dem, welchem der Eid geleistet wird, die Macht zu strafen nicht mangelt, so tut man mehr, als zu der eigenen Verteidigung nötig ist, und man zeigt damit, daß man nicht bloß sich wohl will, sondern auch dem andern übel will. Denn der Eid enthält nach seinen Worten einen Anruf des Zornes Gottes, d.h. des Zornes des Allmächtigen gegen die, welche ihr Wort deshalb nicht halten, weil sie meinen, durch eigene Macht der Strafe der Menschen entgehen zu können, und des Allwissenden gegen die, welche ihr Wort meist deshalb zu brechen pflegen, weil sie hoffen, daß es den Augen der Menschen verborgen bleiben werde.[101]

4

Unter rechter Vernunft im Naturzustande der Menschen verstehe ich nicht, wie viele, ein untrügliches Vermögen, sondern den Denkakt selber, d.h. die eigene und wahre Schlußfolgerung eines jeden in betreff derjenigen seiner Handlungen, welche zum Nutzen oder Schaden anderer ausschlagen können. Ich sage »die eigene«; denn wenn auch im Staate die Vernunft des Staates selbst, d.h. die bürgerlichen Gesetze, von jedem einzelnen Bürger für die rechte gehalten werden muß, so muß doch außerhalb des Staates, wo jeder die rechte Vernunft von der falschen nur durch Vergleichung mit seiner eigenen unterscheiden kann, die eigene Vernunft eines jeden nicht bloß als die Regel für seine Handlungen, die auf seine Gefahr geschehen, sondern auch als das Maß für die Vernunft anderer, soweit sie jenes Angelegenheiten berührt, erachtet werden. »Wahr« nenne ich die Schlußfolgerung, wenn sie aus wahren, richtig geordneten Grundsätzen schließt; denn alle Verletzung der natürlichen Gesetze besteht in der falschen Schlußfolgerung oder in der Torheit der Menschen, welche ihre Pflichten gegen andere, die zur Erhaltung ihres eigenen Lebens nötig sind, nicht einsehen. Jedoch sind die Grundsätze der rechten Vernunft in bezug auf diese Pflichten im ersten Kapitel, Abschn. 2-7, bereits dargelegt worden.

5

Das Mißtrauen ist nur berechtigt, wenn irgendwelche Handlungen oder Willenszeichen des andern aufs neue erkennen lassen, daß er nicht erfüllen werde. Ein Grund, der einen Teil an dem Abschluß des Vertrages nicht hinderte, darf ihn auch nicht an dessen Erfüllung hindern.

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 90-102.
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