3. Kapitel
Von den übrigen natürlichen Gesetzen

[102] 1. Das zweite der abgeleiteten natürlichen Gesetze verlangt, daß man die Verträge halte und die gegebene Treue nicht breche. In dem vorhergehenden Kapitel ist gezeigt worden, daß das natürliche Gesetz als zur Erhaltung des Friedens notwendig gebietet, daß jeder gewisse Rechte auf andere übertrage, und daß dies durch einen Vertrag geschieht, wenn das Übertragene etwas Zukünftiges ist. Dieser dient aber nur insofern zur Herstellung des Friedens, wenn man das, was man zu tun oder zu unterlassen verspricht, auch tut oder unterläßt; Verträge würden nutzlos sein, wenn sie nicht gehalten würden. Da mithin die Einhaltung der Verträge und des gegebenen Wortes zur Herstellung des Friedens nötig ist, so ist sie nach Kapitel 2, Abschn. 2 ein Gebot des natürlichen Gesetzes.

2. Auch kann hier aus der Persönlichkeit derer, mit denen man übereingekommen ist, kein Einwand hergenommen werden; etwa, weil diese ihr Versprechen andern gegenüber nicht halten oder der Meinung sind, daß Versprechen überhaupt nicht gehalten zu werden brauchen, oder weil sie sonst einen Fehler an sich haben. Denn der Vertragschließende leugnet eben dadurch, daß er den Vertrag schließt, daß diese Handlung nutzlos sei; auch ist es gegen die Vernunft, daß jemand wissentlich etwas Nutzloses tue; wenn also jemand glaubt, einen Vertrag nicht halten zu müssen, so liegt in dieser Meinung schon die Bestätigung, daß der Vertrag nutzlos sein solle. Wer also einen Vertrag schließt, den er dem anderen Teil zu halten sich nicht gebunden glaubt, der erklärt damit, daß ein Vertrag zu gleicher Zeit nutzlos und auch nicht nutzlos[102] sei, was widersinnig ist. Deshalb muß man allen Menschen entweder Wort halten oder keinen Vertrag mit ihnen schließen, d.h. man muß entweder den Krieg erklären oder den Frieden sicher und getreu halten.

3. Den Vertragsbruch wie auch das Zurücknehmen des Gegebenen (was immer in einer Handlung oder Unterlassung besteht) nennt man ein Unrecht. Diese Handlung oder Unterlassung heißt eine unrechte; daher bedeutet ein Unrecht und eine unrechte Handlung oder Unterlassung dasselbe, und beide sind dasselbe wie Vertrags- und Treubruch. Der Name »Unrecht« ist der Handlung oder Unterlassung gegeben, weil sie ohne Recht geschah, da von dem Handelnden oder Unterlassenden das Recht bereits auf einen andern übertragen war. Zwischen dem, was im gewöhnlichen Leben Unrecht genannt wird, und dem, was man in den Schulen absurd zu nennen pflegt, besteht eine gewisse Ähnlichkeit. Von dem, der durch Gründe genötigt wird, seine frühere Behauptung zurückzunehmen, pflegt man zu sagen, daß er ad absurdum geführt worden; und so begeht auch der, welcher aus Gemütsschwäche etwas tut oder unterläßt, was er früher durch einen Vertrag nicht zu tun oder nicht zu unterlassen versprochen hatte, ein Unrecht und gerät ebenso in den Widerspruch wie der, welcher in den Schulen ad absurdum geführt worden ist. Denn wenn er eine zukünftige Handlung verspricht, so will er, daß sie geschehen solle; indem er aber sie nicht tut, will er, daß sie nicht geschehe; also will er, daß sie zugleich geschehe und nicht geschehe, was ein Widerspruch ist. Das Unrecht ist deshalb eine Art Absurdität im Verkehr, wie die Absurdität eine Art Unrecht in der Disputation ist.

4. Hieraus folgt, daß ein Unrecht6 nur gegen den begangen werden kann, mit dem man einen Vertrag eingegangen[103] ist oder dem man etwas geschenkt hat oder dem man durch Übereinkommen etwas versprochen hat. Deshalb unterscheidet man vielfach Schaden und Unrecht. Wenn ein Herr seinem Diener, der ihm Gehorsam versprochen hat, befiehlt, einem dritten Geld zu zahlen oder ihm Geschenke hinzutragen, und der Diener es nicht tut, so fügt dieser dem dritten wohl einen Schaden zu, allein ein Unrecht begeht er nur gegen seinen Herrn. Ebenso fügt im Staate der, welcher einen andern beschädigt, mit dem er keinen Vertrag geschlossen hat, diesem zwar einen Schaden zu; aber ein Unrecht verübt er nur gegen den, der die Staatsgewalt besitzt; denn wenn der, welcher beschädigt worden, sich über das Unrecht beschwerte, so könnte der Täter sagen: Was gehst du mich an? Warum soll ich eher nach deinem als nach meinem Belieben handeln, da ich ja dich nicht hindere, daß auch du nach deinem und nicht nach meinem Belieben handelst? Da hier keinerlei vorherige Verträge bestehen, so wüßte ich nicht, was man an solcher Rede tadeln könnte.

5. Die Worte Recht und Unrecht sowie die Worte Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit sind zweideutig und haben verschiedenen Sinn, je nachdem sie in Beziehung auf Personen oder Handlungen gebraucht werden. In bezug auf Handlungen bezeichnet »recht« die mit Recht getanen, und »unrecht« die mit Unrecht getanen. Die Person aber, die recht gehandelt hat, heißt deshalb nicht recht, sondern unschuldig, und die, welche etwas Unrechtes getan hat, nicht unrecht, sondern schuldig. In bezug auf Personen heißt »gerecht sein« so viel, wie sich am Rechthandeln erfreuen, der Gerechtigkeit sich befleißigen und sich bemühen, in allen Dingen nur das Rechte zu tun; »ungerecht[104] sein« bedeutet die Vernachlässigung des Rechthandelns und die Ansicht, daß der Maßstab meines Handelns nicht ein geschlossener Vertrag, sondern ein augenblicklicher Vorteil sei. So ist die Gerechtigkeit und die Ungerechtigkeit des Charakters oder des Menschen und die einer einzelnen Handlung oder Unterlassung verschieden; und unzählige Handlungen eines gerechten Menschen können ungerecht, und die eines ungerechten können gerecht sein. »Rechtlich« endlich heißt ein Mensch, der das Rechte infolge des Gebotes des Gesetzes tut und das Unrecht nur aus Schwachheit; »unrechtlich« heißt der, welcher das Rechte nur tut wegen der vom Gesetz angedrohten Strafe und das Unrechte aus der Schlechtigkeit seiner Gesinnung.

6. Die Gerechtigkeit der Handlungen pflegt gewöhnlich in zwei Arten eingeteilt zu werden, nämlich in die kommutative und die distributive. Bei der erstern soll das arithmetische Verhältnis gelten, bei der letztern das geometrische. Jene hat es mit dem Tauschen, Kaufen, Verkaufen, den Darlehnen, Zurückzahlungen, Vermietungen und sonstigen Geschäften von Vertragschließenden zu tun. Wenn hierbei Gleiches für Gleiches gegeben wird, so entsteht, wie man sagt, die kommutative oder austauschende Gerechtigkeit. Bei der distributiven Gerechtigkeit handelt es sich um den Wert und die Verdienste der Menschen; wenn daher jedem para tên axian gegeben wird, d.h. das Mehr dem Würdigern und das Weniger dem weniger Würdigen, und zwar nach Verhältnis, so entsteht die distributive oder verteilende Gerechtigkeit. Ich erkenne hier einen gewissen Unterschied in der Gleichheit an. Einmal ist die Gleichheit einfach eine, z.B. wenn zwei Sachen gleichen Wertes, wie ein Pfund Silber mit 12 Unzen desselben Silbers, miteinander verglichen werden. Die andere Gleichheit ist es nur beziehungsweise, z.B. wenn unter 100 Menschen 1000 Pfund zu verteilen sind und 600 an 60 Menschen und 400 an 40 gegeben werden. Hier besteht zwischen den 600 und 400 Pfund keine Gleichheit; allein da sich die Zahlen derer, unter die sie verteilt werden sollen, ebenso verhalten, so erhält doch jeder einen gleichen Teil davon, und deshalb heißt die Verteilung gleich. Eine solche Gleichheit ist dasselbe wie das geometrische Verhältnis. Allein was hat[105] dies mit Gerechtigkeit zu tun? Wenn man seine Sachen so teuer verkauft, wie man kann, so geschieht dem Käufer, der sie von mir gewollt oder verlangt hat, kein Unrecht; und wenn ich von dem Meinigen dem mehr gebe, der es weniger verdient, so geschieht dennoch keinem Teile ein Unrecht, solange ich dem andern das gebe, was ich versprochen habe. Dies bezeugt selbst Jesus Christus, unser Erlöser, im Evangelium. Es trifft also jene Einteilung nicht die Gerechtigkeit, sondern die Gleichheit. Indes wird man nicht leugnen können, daß die Gerechtigkeit eine Art Gleichheit ist; insofern wir nämlich von Natur alle gleich sind, hat der eine nicht mehr Recht zu beanspruchen, als er dem andern zugesteht, falls dieser nicht durch Vertrag das Recht zu einem besonderen Anspruch erlangt hat. Obgleich jene Einteilung der Gerechtigkeit allgemein angenommen ist, habe ich dies doch gesagt, damit man nicht glaubt, die Ungerechtigkeit sei etwas anderes als Vertrags- oder Treubruch, wie er oben definiert worden ist.

7. Es ist ein alter Spruch, daß dem kein Unrecht geschehe, der damit einverstanden ist (volenti non fit injuria); indes gestatte man mir, die Wahrheit dieses Spruches aus meinen Grundsätzen abzuleiten. Es sei also etwas geschehen, was jemand für ein Unrecht gegen sich hält, aber gewollt hat; also geschieht mit seinem Willen das, was nach dem Vertrage nicht zulässig war. Indem er aber will, daß das geschehe, was nach dem Vertrage nicht erlaubt war, wird der Vertrag selbst (nach Kapitel 2, Abschn. 15) aufgehoben; es kehrt also das Recht, es zu tun, zurück, und es geschieht also mit Recht; deshalb ist es kein Unrecht.

8. Das dritte Gebot des Naturgesetzes ist, daß du den, der im Vertrauen auf dich dir früher wohlgetan hat, deshalb nicht in eine schlimme Lage kommen läßt; oder daß man überhaupt eine Wohltat nur annehme in der Absicht, dafür zu sorgen, daß dem Geber nicht mit Recht die Gabe gereue. Denn ohne dieses Gebot würde man gegen die Vernunft handeln, wenn man jemand eine Wohltat erzeigte, von der man weiß, daß sie keinen Erfolg haben wird; und damit wäre alles Wohltun und alles Vertrauen unter den Menschen aufgehoben, und damit auch alle Mildtätigkeit;[106] es gäbe dann unter ihnen keine gegenseitige Hilfe, und niemand würde den Anfang machen, in den Menschen die Dankbarkeit zu erwecken. Es würde also notwendig der Kriegszustand bleiben, was gegen das Grundgesetz des Naturrechts verstieße. Indes ist die Verletzung dieses dritten Gesetzes keine Verletzung der Treue und der Verträge (denn ich nehme an, daß keine Verträge unter den betreffenden Personen geschlossen wurden); deshalb spricht man im allgemeinen hier auch nicht von Unrecht, sondern, da Wohltat und Dankbarkeit sich aufeinander beziehen, von Undankbarkeit.

9. Das vierte Gebot der Natur lautet, daß jeder dem andern sich gefügig erweise. Um dies recht zu verstehen, bedenke man, daß die Menschen entsprechend der Verschiedenheit ihrer Neigungen verschieden dazu geeignet sind, gesellschaftliche Verbindungen einzugehen, Verschiedenheiten, wie man sie ähnlich in Stoff und Form der Bausteine findet. So pflegt man einen Stein als ungefügig wegzuwerfen, wenn er wegen seiner rauhen und eckigen Gestalt den andern mehr Platz wegnimmt, als er selbst einnimmt, dabei wegen seiner Härte sich weder zusammenpressen noch behauen läßt und deshalb zum festen Zusammenfügen des Gebäudes nicht taugt. Ebenso pflegt man einen Menschen als ungefügig und lästig für die übrigen zu bezeichnen, wenn er in der Rauheit seines Wesens das zurückhält, was er selbst doch nicht braucht, dadurch andern das Notwendige vorenthält, aber aus Halsstarrigkeit keine Besserung annimmt. Da nun ein jeder nicht bloß dem Rechte nach, sondern auch durch natürliche Notwendigkeit mit allen Kräften dahin streben soll, daß er das zu seiner Erhaltung Notwendige erlange, so wird, wenn jemand dies durch sein Streben nach Überfluß hindert, durch seine Schuld Krieg entstehen, während ihn allein nichts zum Streite zwang; er handelt also gegen das Grundgesetz des Naturrechts. Daraus folgt (wie zu zeigen war), daß es ein Gebot der Natur ist, daß jedermann sich den andern gefügig erweise. Wer dieses Gesetz verletzt, kann ungefügig und lästig genannt werden. Indes stellt Cicero dieser Gefügigkeit Unmenschlichkeit gegenüber, gleichsam als wenn er dieses Gesetz im Auge hätte.[107]

10. Das fünfte natürliche Gesetz gebietet, daß einer dem andern, wenn er für die Zukunft Bürgschaft leistet, das Vergangene auf dessen Bitten und Reue verzeihe. Die Verzeihung des Vergangenen oder die Vergebung der Beleidigung ist nur ein Friede, welcher dem gewährt wird, der gegen uns Krieg geführt hat, aber dies nun bereut und um Frieden bittet. Wenn aber der Friede jemand gewährt wird, der nicht bereut, d.h. der seinen feindlichen Sinn behält oder für die Zukunft keine Bürgschaft leistet, d.h. der nicht den Frieden will, sondern nur die bessere Gelegenheit abwartet, so ist das kein Frieden, sondern Furcht, und deshalb kein Gebot der Natur. Wenn man übrigens dem Reuigen, der für die Zukunft Bürgschaft bietet, nicht vergeben will, so hat man selbst keinen Gefallen am Frieden, und dies geht gegen das natürliche Gesetz.

11. Das sechste natürliche Gesetz gebietet, daß man bei der Rache oder den Strafen nicht die vergangenen Übel, sondern das zukünftige Gute im Auge haben solle; d.h. die Auferlegung von Strafen ist nur zu dem Zwecke erlaubt, daß der, welcher gefehlt hat, gebessert werde, oder daß andere, durch die Strafe gewarnt, sich bessern. Dies ergibt sich zunächst daraus, daß nach dem natürlichen Gesetz jeder dem andern zu verzeihen hat, vorausgesetzt, daß für die Zukunft Bürgschaft geleistet wird, wie in dem vorigen Abschnitt angegeben worden; ferner daraus, daß Rache, sofern sie nur das schon Geschehene beachtet, bloß eine Art Triumph oder Ruhmsucht ohne Zweck ist; denn es wird dabei nur auf das Vergangene gesehen, während der Zweck auf ein Zukünftiges geht. Was aber zwecklos geschieht, ist eitel; die Rache, die nicht auf die Zukunft sieht, geht nur von der Ehrsucht aus und ist deshalb gegen die Vernunft. Wenn man aber jemand ohne vernünftigen Grund verletzt, so beginnt man den Krieg und handelt gegen das Grundgesetz der Natur. Deshalb ist es ein Gebot des Naturrechts, daß man bei der Rache nicht rückwärts, sondern vorwärts schaue. Die Verletzung dieses Gebotes heißt allgemein Grausamkeit.

12. Da aber alle Zeichen des Hasses und der Verachtung vorzüglich zum Kampf und Streit reizen, insofern als die meisten lieber ihr Leben, vom Frieden ganz abgesehen,[108] verlieren, als Schmach ertragen wollen, so folgt siebentens, daß das Naturrecht verbietet, jemandem durch Worte oder Handlungen, durch Mienen oder Lachen zu zeigen, daß man ihn hasse oder verachte. Die Verletzung dieses Gesetzes ist die Schmähung. Allerdings ist nichts häufiger als Spott- und Hohnreden der Mächtigen gegen die Schwachen und besonders der Richter gegen die Angeklagten, obgleich sie weder mit dem Vergehen des Schuldigen noch mit dem Amte des Richters etwas zu tun haben; aber doch handeln diese Menschen gegen das Naturrecht und sind als Beleidiger zu erachten.

13. Die Frage, wer von zwei Menschen der würdigere sei, gehört nicht in die Erörterung des Natur-, sondern in die des bürgerlichen Zustandes. In Kapitel I, Abschn. 3 ist gezeigt, daß von Natur alle Menschen gleich sind; deshalb kommt die jetzige Ungleichheit in bezug auf Reichtum, Macht, Adel usw. von den Staatsgesetzen. Ich weiß, daß Aristoteles im ersten Buche seiner »Politik« es als eine Grundlage aller politischen Wissenschaft aufstellt, daß von Natur der eine Teil der Menschen zum Befehlen und der andere zum Dienen geschaffen sei; so daß die Unterschiede zwischen Herren und Sklaven nicht auf dem Übereinkommen der Menschen, sondern auf ihrer Begabung, d.h. einem natürlichen Wissen oder Unwissenheit beruhen. Allein diese Begründung verstößt nicht nur gegen die Vernunft (wie ich schon gezeigt habe), sondern auch gegen die Erfahrung. Denn erstens ist kaum jemand so stumpfsinnig, daß er nicht lieber sich selbst bestimmte als von andern leiten ließe, und sodann sind bei einem Streite zwischen den Klügern und den Stärkern jene nicht immer oder auch nur häufig diesen überlegen. Sind also die Menschen von Natur gleich, so muß man diese Gleichheit anerkennen; sind sie ungleich, so müssen sie, da sie wahrscheinlich um die Herrschaft streiten werden, zur Erlangung des Friedens als gleich angesehen werden; darum ist es achtens ein Gebot des Naturrechts, daß jeder als von Natur gleich mit dem andern erachtet werde. Das Gegenteil von dieser gebotenen Gleichachtung ist der Stolz.

14. Ebenso wie die Erhaltung eines jeden die Entsagung gewisser Rechte von ihm erfordert, so erfordert[109] diese Erhaltung nicht weniger, daß er sich gewisse Rechte vorbehält, nämlich das Recht, seinen Körper zu schützen, die Luft zu atmen, des Wassers und aller zum Leben notwendigen Dinge sich zu bedienen. Somit behalten die den Frieden Schließenden viele Rechte, viele besondere werden erworben; daraus ergibt sich das neunte natürliche Gesetz, daß ein jeder die Rechte, welche er für sich verlangt, auch jedem andern zugestehe; andernfalls würde die in dem vorigen Abschnitt anerkannte Gleichheit nutzlos sein. Denn wie soll die Gleichheit der Personen in einer einzugehenden Gesellschaft anerkannt werden, wenn nicht dadurch, daß den einzelnen, die sonst gar keinen Grund zur Eingehung der Gesellschaft hätten, gleiche Rechte zugesprochen werden? Gleiches Gleichen zusprechen ist dasselbe, als jedem nach Verhältnis das Verhältnismäßige zuteilen. Die Befolgung dieses Gesetzes heißt die Bescheidenheit, seine Verletzung die pleonexia, Habsucht; die Verletzer hießen bei den Römern Unmäßige und Unbescheidene.

13. Zehntens gebietet das Naturrecht, daß ein jeder bei Verteilung des Rechts an andere sich gegen jeden Teil gleich verhalte. Das vorige Gesetz verbot, sich selbst mehr Recht von Natur anzumaßen, als man dem andern einräumt. Man kann weniger verlangen, wenn man will; denn das ist mitunter ein Zeichen der Bescheidenheit. Wenn man aber einmal das Recht unter andere austeilen soll, verbietet dies Gesetz, dem einen mehr oder weniger als dem andern zu geben; denn durch die Bevorzugung eines einzelnen wird die natürliche Gleichheit nicht innegehalten und der Zurückgesetzte wird beleidigt, was, wie oben gezeigt worden, gegen die natürlichen Gesetze verstößt. Die Beobachtung dieses Gebots heißt Billigkeit, seine Verletzung die Parteilichkeit. Die Griechen nennen es prosôpolêpsia.

16. Aus dem vorhergehenden folgt das elfte Gesetz: Was nicht geteilt werden kann, ist gemeinschaftlich (wenn es angeht) zu benutzen, und zwar, wenn die Masse des Gegenstandes es erlaubt, von jedem so viel er will. Ist die Masse des Gegenstandes dazu nicht ausreichend, so ist der Gebrauch nach der Zahl der Teilnehmenden verhältnismäßig im voraus zu bestimmen. Denn andernfalls kann[110] durch keine Mittel jene Gleichheit erhalten werden, welche das natürliche Gesetz, wie ich im Abschn. 15 gezeigt habe, gebietet.

17. Kann eine Sache weder geteilt noch gemeinsam benutzt werden, so schreibt das natürliche Gesetz vor, und zwar an zwölfter Stelle, daß der Gebrauch dieser Sache unter den einzelnen wechsele oder einem nach dem Lose zugebilligt werde; ebenso ist bei dem wechselnden Gebrauche durch das Los zu bestimmen, wer zuerst den Gebrauch haben solle. Denn auch hier ist auf Gleichheit zu halten, die aber nur durch das Los hergestellt werden kann.

18. Lose sind jedoch von zweierlei Art, entweder künstlich oder natürlich. Jene beruhen auf dem Übereinkommen der Beteiligten, und es herrscht hier der reine Zufall, wie man sagt, oder das Glück. Natürlich ist dagegen die Erstgeburt, griechisch klêronomia (gleichsam das durchs Los Zugeteilte), ferner die erste Besitznahme. Was daher weder geteilt noch gemeinsam besessen oder benutzt werden kann, fällt dem zu, der es zuerst in Besitz nimmt; ebenso fällt das, was dem Vater gehörte, dem Erstgeborenen zu, wenn der Vater nicht vorher dieses Recht auf einen andern übertragen hat. Dies ist das dreizehnte natürliche Gesetz.

19. Das vierzehnte natürliche Gesetz gebietet, den Friedensvermittlern die Unverletzlichkeit zuzusichern. Denn wenn die Vernunft einen Zweck setzt, so gebietet sie auch die Anwendung der dazu nötigen Mittel. Das erste Gebot der Vernunft ist aber der Friede; alles übrige sind Mittel, den Frieden herbeizuführen; ohne sie kann er nicht bestehen. Nun kann der Friede nicht ohne Vermittlung und diese nicht ohne Unverletzlichkeit erlangt werden; deshalb ist es ein Gebot der Vernunft, d.h. ein natürliches Gesetz, daß den Friedensvermittlern Unverletzlichkeit gewährt werde.

20. Wenn die Menschen auch über alle diese und andere natürliche Gesetze einig wären und sie zu befolgen strebten, so würden doch täglich Zweifel und Uneinigkeiten über die Anwendung dieser Gesetze sich erheben; nämlich darüber, ob das Geschehene gegen das Gesetz verstoße oder nicht, und das nennt man Rechtsstreit; auch aus ihm entspringt Kampf zwischen den Parteien, von denen jeder sich für verletzt hält. Darum ist es in diesem Falle zur Erhaltung des[111] Friedens nötig, da kein anderes geeignetes Mittel sich auffinden läßt, daß die beiden streitenden Parteien die Sache einem dritten unterbreiten und durch gegenseitige Verträge sich verpflichten, seine Entscheidung der Streitfrage anzuerkennen. Der dritte, zu dem sie ihre Zuflucht nehmen, heißt Schiedsrichter. Das fünfzehnte Gebot des Naturrechts lautet also, daß, wenn zwei über das Recht unter sich uneinig sind, sie sich dem schiedsrichterlichen Ausspruche eines dritten zu unterwerfen haben.

21. Da der Unparteiische oder Schiedsrichter von den streitenden Parteien zur Entscheidung ihres Streites erwählt wird, so folgt, daß der Schiedsrichter nicht selbst einer der Streitenden sein darf. Denn von jedem Menschen nimmt man an, daß er das für ihn Nützliche von Natur, das Rechte aber nur des Friedens wegen und erst in zweiter Linie erstrebt; darum kann er jene von dem Naturrecht gebotene Gleichheit nicht so genau innehalten wie ein dritter. Deshalb besagt das sechzehnte Gebot des natürlichen Gesetzes, daß niemand in seiner eigenen Sache Richter oder Schiedsrichter sein darf.

22. Aus demselben Grunde folgt, siebzehntens, daß niemand Schiedsrichter sein darf, der für sich Vorteil oder Ehre aus dem Siege der einen Partei zu erhoffen hat. Der Grund ist derselbe wie bei dem vorigen Gesetz.

23. Wenn ein Streit über die Tatfrage sich erhebt, nämlich ob etwas so, wie es behauptet wird, geschehen sei oder nicht, so folgt aus dem natürlichen Gesetz (nach Abschn. 15), daß der Schiedsrichter beiden Parteien in gleicher Weise Glauben zu schenken, d.h. da sie das Entgegengesetzte behaupten, daß er keiner zu glauben hat. Er muß also einem dritten, oder einem dritten und vierten, oder noch mehrern glauben, um die Tatfrage zu entscheiden, wenn sie auf andere Weise nicht zu ermitteln ist. Deshalb gebietet das achtzehnte Gebot des natürlichen Gesetzes denen, die als Richter über eine Tatfrage zu entscheiden haben, daß, wenn sonst keine feste Gewißheit über die Tatfrage zu gewinnen ist, sie die Entscheidung nach der Aussage der Zeugen, welche hinsichtlich beider Teile sich als unparteiische erweisen, abgeben.

24. Aus der obigen Definition des Schiedsrichters erhellt[112] ferner, daß kein Vertrag oder Versprechen zwischen ihm und den Parteien, die ihn gewählt haben, stattfinden darf, das ihn nötigte, zugunsten der einen Partei den Spruch zu tun, ja auch nicht dahin, daß er einen Ausspruch tue, der billig sei oder den er für billig halte. Der Richter ist nach dem natürlichen Gesetz (Abschn. 15) dazu verpflichtet, den Spruch zu tun, den er für billig hält; diese Verbindlichkeit kann durch einen Vertrag nicht verstärkt werden; deshalb ist ein solcher Vertrag nutzlos. Außerdem würde, wenn er einen unbilligen Spruch täte und ihn für einen billigen ausgäbe, solange ein solcher Vertrag gälte, der Streit auch nach getanem Ausspruch fortwähren, was gegen die Bestellung eines Schiedsrichters läuft, der von den Parteien so erwählt ist, daß sie beide den von ihm getanen Spruch gelten lassen wollen. Deshalb gebietet das natürliche Gesetz, daß der Spruch frei sei; dies ist das neunzehnte Gebot.

25. Da die natürlichen Gesetze nur Gebote der rechten Vernunft sind und richtig nur von dem beobachtet werden können, welcher den rechten Gebrauch derselben sich zu erhalten sucht, so folgt weiter, daß der, welcher wissentlich oder absichtlich etwas tut, was das Vermögen der Vernunft schwächt oder zerstört, wissentlich und absichtlich das natürliche Gesetz verletzt. Denn es macht keinen Unterschied, ob jemand seine Pflicht nicht erfüllt oder ob er absichtlich etwas tut, was ihn an der Erfüllung seiner Pflicht hindert. Das Vernunftvermögen wird aber von denen zerstört und geschwächt, welche etwas tun, was die Seele in ihrem natürlichen Zustande stört; offenbar ist dies der Fall bei Trunkenbolden und Schlemmern. Man vergeht sich also durch Trunkenheit an dem zwanzigsten natürlichen Gebot.

26. Man wendet mir vielleicht ein, daß die vorstehenden natürlichen Gebote zwar von dem einzigen Gebote der Vernunft, das uns ermahnt, sich zu erhalten und unverletzt zu erhalten, kunstvoll abgeleitet seien, aber daß diese Ableitung der Gesetze doch so schwierig sei, daß man deren allgemeine Kenntnis nicht erwarten könne, und daß sie daher auch nicht verpflichteten: denn Gesetze, die man nicht kenne, verpflichten nicht, ja sind nicht einmal Gesetze. Hierauf antworte ich, daß allerdings Hoffnung, Furcht,[113] Zorn, Ehrgeiz, Habsucht, Eitelkeit und andere Leidenschaften jemand an der Kenntnis dieser Gesetze hindern können, wenn diese Leidenschaften die Übermacht haben; indes hat doch jedermann auch ruhige Zeiten, und dann kann selbst der ungelehrte und beschränkte Mensch seine Zweifel leicht mittels der Regel beseitigen, daß er sich fragt, ob er das, was er dem andern tun will, auch für recht halten würde, wenn er an jenes Stelle wäre. Dann werden dieselben Gemütsbewegungen, die sonst zur Tat treiben, indem sie gleichsam in die andere Wagschale gelegt werden, ihn von der Tat abhalten. Diese Regel ist nicht bloß leicht zu befolgen, sondern auch längst durch den Ausspruch gefeiert: Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu.

27. Die meisten Menschen sind jedoch infolge des falschen Begehrens nach dem gegenwärtigen Vorteil wenig geeignet, die vorgenannten Gesetze, obgleich sie sie anerkennen, zu befolgen. Wenn daher einzelne, die gemäßigter als die übrigen sind, diese von der Vernunft gebotene Billigkeit und Rücksicht üben wollten, so würden sie damit, da die andern nicht dasselbe täten, keineswegs der Vernunft folgen; sie würden sich hiermit nicht den Frieden, sondern nur einen sicherern und frühzeitigern Untergang bereiten und durch Beobachtung der Gesetze eine Beute jener werden, welche sie nicht befolgen. Man kann daher nicht annehmen, daß die Menschen von Natur, d.h. durch die Vernunft zur Erfüllung aller dieser Gebote7 verpflichtet seien, solange das Gleiche nicht auch von den andern geschieht. Indes soll man doch bereitwillig sein, sie zu erfüllen, sobald ihre Erfüllung zu dem Ziele, weshalb sie verordnet sind, hinzuführen scheint. Daher folgt, daß die natürlichen Gesetze immer und überall innerlich oder vor[114] dem Gewissen verpflichten; aber nicht immer vor dem äußern Richter, hier nur dann, wenn die Erfüllung mit Sicherheit geschehen kann.

28. Die das Gewissen verpflichtenden Gesetze können nicht bloß durch eine ihnen widersprechende Handlung, sondern auch durch eine damit äußerlich übereinstimmende verletzt werden: wenn nämlich der Handelnde das Entgegengesetzte beabsichtigt; denn dann stimmt zwar die äußere Handlung mit dem Gesetze überein, aber nicht die innere Gesinnung.

29. Die natürlichen Gesetze sind unveränderlich und ewig: was sie verbieten, kann niemals erlaubt sein, was sie gebieten, niemals unerlaubt. Denn niemals werden Stolz, Undankbarkeit, Vertragsbruch (oder Unrecht), Unmenschlichkeit, Schmähungen erlaubt sein, noch die entgegengesetzten Tugenden unerlaubt, soweit sie nach der innern Absicht betrachtet werden, d.h. vor dem Gewissen, vor welchem sie allein verpflichten und als Gesetze gelten. Dagegen können die äußern Handlungen nach den Umständen und dem bürgerlichen Gesetz sich so verschieden gestalten, daß das zu einer Zeit Rechte zu einer andern Zeit unrecht und das zu einer Zeit Vernünftige zu einer andern unvernünftig wird. Die Vernunft bleibt aber dieselbe und wechselt weder ihr Ziel, welches in dem Frieden und der Verteidigung besteht, noch die Mittel dazu, d.h. jene Tugenden der Seele, die oben dargelegt worden sind und welche durch keine Gewohnheit und kein bürgerliches Gesetz aufgehoben werden können.

30. Aus dem Bisherigen erhellt, wie leicht die natürlichen Gesetze zu befolgen sind; denn sie verlangen nur den guten Willen (aber den wahren und beharrlichen), und wer diesen hat, kann in Wahrheit ein Gerechter genannt[115] werden. Wer fortwährend mit ganzer Seele bemüht ist, daß all sein Handeln den natürlichen Geboten entspreche, zeigt damit klar, daß er den Willen hat, alle diese Gesetze zu erfüllen, und dazu allein sind wir nach der vernünftigen Natur verbunden. Wer alles getan hat, wozu er verpflichtet ist, der ist ein Gerechter.

31. Alle Schriftsteller stimmen darin überein, daß das natürliche Gesetz dasselbe ist wie das Moralgesetz. Wir wollen sehen, weshalb dies richtig ist. Man bemerke, daß gut und schlecht Worte sind, mit denen Dinge benannt werden, um das Begehren nach ihnen oder den Abscheu vor ihnen bei den Personen zu bezeichnen, die sie so benennen. Nun ist aber das Begehren der Menschen verschieden, gemäß ihren verschiedenen Anlagen, Gewohnheiten, Ansichten; man kann das an den durch die Sinne empfundenen Dingen bemerken, z.B. bei dem Schmecken, Fühlen, Riechen. Aber viel mehr gilt dies für Dinge, die sich auf das tägliche Leben beziehen, wo der eine das lobt, d.h. gut nennt, was der andere tadelt, d.h. schlecht nennt; ja derselbe Mensch lobt sehr oft das, was er zu anderer Zeit tadelt. Aus solchem Verfahren muß Uneinigkeit und Streit entstehen; deshalb gilt der Kriegszustand so lange, als das Gute und Schlechte nach dem verschiedenen gegenwärtigen Begehren mit verschiedenem Maße gemessen wird. Dieser Zustand wird von allen darin Befindlichen leicht als ein schlechter, und deshalb der Friede als gut anerkannt. Somit einigen sich die, welche über das gegenwärtige Gute nicht einig werden können, über das zukünftige, da dies die Tat der Vernunft ist; denn das Gegenwärtige wird durch die Sinne, das Kommende nur durch die Vernunft erfaßt. Wenn somit die Vernunft lehrt, daß der Friede gut ist, so folgt auch aus dieser Vernunft, daß alle zu dem Frieden nötigen Mittel gut seien; mithin sind Bescheidenheit, Billigkeit, Treue, Menschlichkeit, das Mitleiden (die, wie ich gezeigt, zu dem Frieden nötig sind) gute Sitten oder Gewohnheiten, d.h. Tugenden. Das Gesetz gebietet daher als Mittel zum Frieden auch gute Sitten oder die Ausübung der Tugenden; deshalb heißt es das moralische.

32. Da indes die Menschen sich der unvernünftigen Begierden nicht entledigen können, vermöge deren sie das[116] Gegenwärtige (dem, in strenger Konsequenz, eine Menge unvorhergesehener Übel anhängen) bei weitem dem Kommenden vorziehen, so kommt es, daß zwar alle in dem Lobe der genannten Tugenden übereinstimmen, aber über deren Wesen dennoch verschiedener Ansicht sind. So oft nämlich jemandem eines andern gute Handlung mißfällt, gibt er ihr den Namen eines verwandten Lasters; umgekehrt werden Schlechtigkeiten, welche gefallen, auf eine Tugend zurückgeführt. So kommt es, daß dieselbe Handlung von dem einen gelobt und für Tugend erklärt wird, während der andere sie tadelt und als ein Laster bezeichnet. Hiergegen haben die Philosophen bis jetzt noch kein Mittel aufgefunden, da sie nicht bemerkten, daß das Gute der Handlungen darin besteht, daß sie zum Frieden führen, und die Schlechtigkeit darin, daß sie zum Streit führen; sie gründeten deshalb die Moralphilosophie auf ein falsches und mit sich nicht übereinstimmendes Gesetz. Nach ihnen soll das Wesen der Tugenden in einem Mittleren zwischen zwei Extremen bestehen, die Laster hingegen diese Extreme sein; was indessen offenbar falsch ist. Denn die Kühnheit wird gelobt und unter dem Namen der Tapferkeit zu den Tugenden gerechnet, auch wenn sie zum Äußersten schreitet, sobald nur die Ursache zu billigen ist. Ebenso macht nicht die Größe eines Geschenks, sei es groß oder klein oder nur ein mittleres, die Freigebigkeit aus, sondern nur der Beweggrund zum Geschenk. Ebenso ist es kein Unrecht, wenn ich jemand von dem Meinigen mehr gebe, als ich schuldig bin. Deshalb bilden die natürlichen Gesetze das Wesentliche der Moralphilosophie. Ich habe davon hier nur die Lehren behandelt, welche sich auf unsere Erhaltung beziehen und gegen die Gefahren, die aus dem Unfrieden entspringen, sich richten. Daneben gibt es aber noch andere Lehren der natürlichen Vernunft, aus denen andere Tugenden entspringen; so ist die Mäßigkeit ein Gebot der Vernunft, weil die Unmäßigkeit zur Krankheit und zum Tode führt; ebenso die Standhaftigkeit, d.h. das Vermögen, bei gegenwärtigen Gefahren, die schwerer zu vermeiden als zu überwinden sind, kräftigen Widerstand zu leisten; denn sie ist ein Mittel, wodurch sich der Widerstehende erhält.[117]

33. Was ich die natürlichen Gesetze nenne, sind nur gewisse Folgerungen, welche die Vernunft erkennt und die sich auf Handlungen und Unterlassungen beziehen. Dagegen ist das Gesetz nach dem strengen Sprachgebrauch der Ausspruch dessen, der andern etwas zu tun oder zu unterlassen mit Recht befiehlt. Daher sind jene natürlichen Gesetze eigentlich keine Gesetze, denn sie gehen aus der Natur selbst hervor; soweit sie indes von Gott in der Heiligen Schrift gegeben worden sind, wie das folgende Kapitel zeigen wird, heißen sie recht eigentlich auch Gesetze; denn die Heilige Schrift ist ein Ausspruch des mit dem höchsten Recht über alles gebietenden Gottes.[118]

6

Das Wort Ungerechtigkeit bezeichnet die Beziehung auf irgendein Gesetz; das Wort Unrecht die Beziehung auf eine Person wie auch auf ein Gesetz. Denn das Ungerechte ist für alle ungerecht; ein Unrecht kann aber begangen sein, ohne mich oder dich zu treffen, sondern gegen einen andern; und manchmal gegen keinen einzelnen, sondern nur gegen den Staat; manchmal weder gegen einen Menschen noch gegen den Staat, sondern nur gegen Gott. Nur der Vertrag und die Übertragung eines Rechts bewirkt es, daß man sagen kann, das Unrecht ist gegen diesen oder jenen begangen worden. Daher kommt es, wie es sich in allen Staaten zeigt, daß das, worüber die Privatpersonen schriftlich oder mündlich übereingekommen sind, nach dem Belieben des sich Verpflichtenden wieder aufgegeben werden kann. Aber die Schäden, welche gegen die Staatsgesetze getan werden, wie Diebstahl, Mord und ähnliches, werden nicht nach dem Belieben dessen bestraft, der beschädigt worden ist, sondern nach dem Ermessen des Staats, d.h. nach den bestehenden Gesetzen. Deshalb kann ein Unrecht gegen jemand erst, nachdem er ein Recht durch Übertragung erlangt hat, begangen werden.

7

Es gibt sogar einige unter diesen Gesetzen, deren Unterlassung, sei es des Friedens oder der eigenen Erhaltung wegen, eher als eine Erfüllung als eine Verletzung des natürlichen Gesetzes erscheint. Denn wer sich alles gegen die gestattet, die sich selbst alles gestatten, wer die Raubenden beraubt, handelt billig. Umgekehrt ist das, was im Frieden eine gute Handlung eines ehrlichen Mannes ist, im Kriege Feigheit, Dummheit und Verrat an sich selbst. Indes gibt es einige natürliche Gesetze, deren Ausübung selbst im Kriege nicht unterbleiben darf; denn ich wüßte nicht, was die Trunkenheit oder Grausamkeit, d.h. eine Rache, welche auf kein künftiges Gut Rücksicht nimmt, zum Frieden und zur Erhaltung irgendeines Menschen beitragen könnte. Kurz, im Naturzustande wird das Rechte und Unrechte nicht nach den Handlungen, sondern nach den Absichten und dem Gewissen des Handelnden bestimmt. Das, was die Not fordert, was in Sorge für den Frieden, was zur eigenen Erhaltung geschieht, ist recht; sonst würde jeder einem Menschen zugefügte Schaden eine Verletzung des natürlichen Gesetzes und ein Unrecht gegen Gott sein.

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 102-119.
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Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

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