4. Kapitel
Das natürliche Gesetz ist das Gesetz Gottes

[119] 1. Das natürliche und moralische Gesetz pflegt auch das göttliche Gesetz genannt zu werden, und nicht mit Unrecht; denn einmal ist die Vernunft, welche das natürliche Gesetz selbst ist, jedem von Gott als Regel für sein Handeln gegeben worden, und sodann sind die Lebensregeln, welche daraus abgeleitet werden, dieselben wie die, die von Gottes Majestät als Gesetze des himmlischen Reiches durch unsern Herrn Jesus Christus und seine heiligen Propheten und Apostel bekannt gemacht worden sind. Alles was in bezug auf das natürliche Gesetz durch Vernunftschlüsse ermittelt worden ist, das werde ich in diesem Kapitel aus der Heiligen Schrift zu bestätigen suchen.

2. Ich führe zunächst die Stellen an, wo es heißt, daß das göttliche Gesetz in der rechten Vernunft enthalten sei. Psalm 36, 30, 31: »Der Mund des Gerechten redet die Weisheit, und seine Zunge lehret das Recht. Das Gesetz Gottes ist in seinem Herzen.« Jeremias 31, 33: »Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben.« Psalm. 18, 8: »Das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele.« V. 9: »Die Gebote des Herrn sind lauter und erleuchten die Augen.« 5. Buch Moses 30, 11: »Das Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht verborgen, noch zu ferne.« V. 14: »Denn es ist das Wort gar nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Psalm 118, 34: »Unterweise mich, daß ich bewahre dein Gesetz, und halte es von ganzem Herzen!« V. 105: »Dein Wort ist eine Leuchte meinen Füßen und ein Licht auf meinen Pfaden.« Sprüche Salomonis 9, 20: »Die Wissenschaft der Heiligen, die Klugheit.« In Johannes 1, 1 wird[119] Christus, der Verkünder des Gesetzes, selbst der logos genannt; und V. 9 wird derselbe Christus das wahre Licht genannt, welches jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Das alles sind Umschreibungen der rechten Vernunft, deren Gebote, wie oben gezeigt worden, die natürlichen Gesetze sind.

3. Daß das von mir als Grundgesetz der Natur aufgestellte Gebot, den Frieden zu suchen, auch die Hauptsumme des göttlichen Gesetzes bildet, erhellt aus folgenden Stellen: In Römer 3, 17 wird die Gerechtigkeit, welche die Hauptsumme des Gesetzes ist, der Weg zum Frieden genannt. Psalm 84, 11 heißt es: »Die Gerechtigkeit und der Friede haben sich geküßt.« Matthäus 5, 9, »Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen.« Nachdem Paulus im Briefe an die Ebräer, Kapitel 6, letzter Vers, gesagt hatte, Christus (der Geber des Gesetzes, worüber hier gehandelt wird) sei nach der Anordnung des Melchisedek der Hohe Priester in Ewigkeit, fügt er in dem folgenden Kapitel, V. 1 hinzu: »Dieser Melchisedek war ein König zu Salem, ein Priester des höchsten Gottes« usw., und V. 2: »Aufs erste wird er verdolmetscht ein König der Gerechtigkeit, darnach ist er aber auch ein König Salems, das ist ein König des Friedens.« Hieraus ergibt sich, daß Christus als König in seinem Reiche die Gerechtigkeit mit dem Frieden vereinigen wird. Psalm 33, 15 heißt es: »Laß vom Bösen, und tue Gutes; suche Frieden, und jage ihm nach.« Jesaias 9, 6, 7: »Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst. Auf daß seine Herrschaft groß werde« usw. Jesaias 52, 7: »Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Boten, die da Frieden verkündigen, Gutes predigen, Heil verkündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König.« Bei Lukas 2, 14 rufen die Stimmen derer, die bei der Geburt Christi Gott loben: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.« In Jesaias 53, 5 heißt das Evangelium eine Lehre des Friedens; Jesaias 59, 8 heißt die Gerechtigkeit der Weg des Friedens. »Sie kennen den Weg des Friedens nicht, und ist kein Recht in ihren Gängen.« Micha 5, 4, 5 sagt, von[120] dem Messias sprechend: »Er aber wird auftreten und weiden in Kraft des Herrn usw., denn er wird zu derselben Zeit herrlich werden, so weit die Welt ist, und er wird unser Friede sein.« Sprüche 3, 1, 2: »Mein Kind, vergiß meines Gesetzes nicht, und dein Herz behalte meine Gebote. Denn sie werden dir langes Leben und gute Jahre und Frieden bringen.«

4. In bezug auf das erste Gesetz, über Abschaffung der Gemeinschaft aller Güter oder über die Einführung von Mein und Dein, haben wir zunächst über die Schädlichkeit der Gütergemeinschaft für den Frieden die Worte Abrahams zu Lot, I. Buch Moses 13, 8, 9: »Laß doch nicht Zank sein zwischen mir und dir und zwischen meinen und deinen Hirten; denn wir sind Gebrüder. Stehet dir nicht alles Land offen? Scheide dich doch von mir.« Und alle die Stellen der Heiligen Schrift, welche den Eingriff in fremdes Eigentum verbieten, wie: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht Ehe brechen, bestätigen das Gesetz über den Unterschied von Mein und Dein; denn sie setzen voraus, daß das Recht aller auf alles aufgehoben sei.

5. Dieselben Gebote bestätigen das zweite natürliche Gesetz, über Innehaltung der Treue. Denn die Worte: »Du sollst nicht in Fremdes einbrechen« sagen nur, du sollst nicht in das einbrechen, was durch Vertrag aufgehört hat, dein zu sein. Ausdrücklich wird aber in Psalm 14, 5 auf die Frage: »Herr, wer wird wohnen in deiner Hütte?« geantwortet: »Wer seinem Nächsten den Schwur leistet und nicht betrügt.« Und Sprüche 6, 1, 2 heißt es: »Mein Sohn, wirst du Bürge für deinen Nächsten, und hast deine Hand bei einem Fremden verhaftet, so bist du verknüpft durch die Rede deines Mundes, und gefangen mit den Reden deines Mundes.«

6. Das dritte Gesetz, über die Dankbarkeit, wird durch folgende Stellen bestätigt: 5. Buch Moses 25, 4: »Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden«; was nach Paulus, I. Korinther 9, 9 nicht bloß für die Ochsen, sondern auch für die Menschen gesagt worden ist. Sprüche 17, 13: »Wer Gutes mit Bösem vergilt, von dessen Hause wird Böses nicht lassen.« Und 5. Buch Moses 20, 10, 11: »Wenn du vor eine Stadt ziehst, sie zu bestreiten, so sollst[121] du ihr den Frieden anbieten. Antwortet sie dir freundlich, und tut dir auf, so soll all das Volk, das drinnen gefunden wird, dir zinsbar und untertan sein.« Sprüche 3, 29: »Trachte nicht Böses wider deinen Nächsten, der auf Treue bei dir wohnet.«

7. Dem vierten Gesetz, sich brauchbar zu erweisen, entsprechen folgende Gebote: 2. Buch Moses 23, 4, 5: »Wenn du dem Ochsen deines Feindes oder seinem verirrten Esel begegnest, so bringe sie zu ihm. Wenn du den Esel deines Gegners unter seiner Last nieder sinken siehst, so gehe nicht vorbei, sondern hilf ihm wieder denselben aufrichten.« V. 9: »Den Fremden sollst du nicht belästigen.« Sprüche 3, 30: »Streite nicht ohne Ursache gegen einen Menschen, der dir kein Leids getan hat.« Sprüche 12, 26: »Wer um des Freundes willen Schaden erleidet, ist der Gerechte.« Sprüche 15, 18: »Der zornige Mann ruft den Streit hervor; der sanftmütige beruhigt die Zornigen.« Sprüche 18, 24: »Ein geselliger Mensch ist mehr wert als ein Bruder.« Dasselbe wird Lukas 10 durch das Gleichnis vom Samariter bestätigt, der sich des von den Räubern verwundeten Juden erbarmte, und durch das Gebot Christi in Matth. 5, 39: »Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf den rechten Backen, dem biete auch den andern dar.«

8. Zu den vielen Stellen, welche das fünfte Gesetz bestätigen, gehören folgende: Matth. 6, 14, 15: »Denn so ihr den Menschen vergebt ihre Sünden, wird der himmlische Vater auch euch die Sünden vergeben, und er wird euch nicht vergeben« usw. Matth. 18, 21, 22: »O Herr, wie oft soll ich meinem Bruder vergeben, der gegen mich sündigt? Soll es siebenmal geschehen?« Und Jesus antwortet ihm: »Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenmal siebzigmal.« Das will sagen, immer, so oft er auch sündigt.

9. Das sechste Gesetz bestätigen alle Stellen, welche das Mitleiden gebieten, z.B. Matth. 5, 7: »Selig sind die Mitleidigen, denn es wird ihnen selbst Mitleid zuteil werden.« 3. Buch Moses 19, 18: »Du sollst nicht nach der Rache gegen die Mitbürger streben und ihrer Beleidigungen nicht eingedenk sein.« Indes wird behauptet, daß dieses[122] Gesetz durch die Schrift nicht bloß nicht bestätigt, sondern widerlegt werde, weil die Gottlosen nach dem Tode, wo für die Besserung kein Raum mehr sei, ihre Strafe ewig zu erdulden haben. Manche beseitigen diesen Einwand damit, daß sie sagen, Gott sei durch kein Gesetz gebunden, und alles diene seinem Ruhm; allein dies gilt nicht auch für die Menschen; und sollte Gott wohl im Tode des Sünders seinen Ruhm suchen, d.h. sich daran erfreuen? Richtiger ist die Erwiderung, daß die Einrichtung der ewigen Strafe schon vor der Sünde erfolgt sei und nur bezwecke, die Menschen von den künftigen Sünden abzuschrecken.

10. Das siebente Gesetz billigen Christi Worte, Matth. 5, 22: »Ich aber sage euch, wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.« Sprüche 10, 18: »Wer schmäht, ist ein Tor.« Sprüche 14, 21: »Wer seinen Nächsten verachtet, sündigt.« 15, 1: »Ein hartes Wort erweckt den Zorn.« 22, 10: »Wirf den Spötter hinaus, und es wird mit ihm hinausgehender Zank und der Streit, und die Schmähungen werden ein Ende haben.«

11. Das achte Gesetz, über Anerkennung der natürlichen Gleichheit, d.h. über die Demut, wird in folgenden Stellen verordnet: Matth. 5, 3: »Selig sind die geistig Armen, denn das Himmelreich ist ihrer.« Sprüche 6, 16-19: »Sechs sind es, die Gott haßt, und den siebenten verabscheut seine Seele; die hoffärtigen Augen« usw. Sprüche 16, 5: »Jeder Hoffärtige ist ein Greuel dem Herrn, und selbst wenn sie Hand in Hand gehen, werden sie nicht unbestraft bleiben.« Sprüche 11, 2: »Wo der Stolz ist, da ist auch die Schimpfrede; wo aber die Demut ist, da ist auch die Weisheit.« Ebenso ruft Jesaias 40, 3, 4 (wo die Ankunft des Messias zur Vorbereitung seines Reichs verkündet wird) die Stimme in der Wüste: »Bereitet dem Herrn die Wege, macht eben in der Wüste die Pfade unsers Herrn. Jedes Tal soll erhöht werden, und jeder Berg und Hügel soll erniedrigt werden.« Diese Stelle bezieht sich offenbar nicht auf die Berge, sondern auf die Menschen.

12. Die Billigkeit, die ich als neuntes Naturgesetz aufgestellt habe, wonach jeder dem andern dasselbe Recht[123] einzuräumen hat, das er für sich beansprucht, und welches alle andere Gesetze in sich befaßt, wird auch von Moses im 3. Buch Moses 19, 18 geboten: »Liebe deinen Freund wie dich selbst.« Unser Erlöser nennt es Matth. 22, 36-40 das ganze Sittengesetz: »Meister, was ist das vornehmste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: Du sollst lieben Gott deinen Herrn usw., das ist das vornehmste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« Seinen Nächsten lieben wie sich selbst, ist aber so viel, als ihm alles gewähren, was wir für uns beanspruchen.

13. Das zehnte Gesetz verbietet die Begünstigung einzelner; dasselbe geschieht in folgenden Stellen: Matth. 5, 45: »Wie ihr die Kinder euers Vaters seid, der seine Sonne aufgehen läßt über die Gerechten und Ungerechten.« Kolosser 3, 11: »Es ist kein Heide und Jude, kein Barbar und Scythe, kein Herr und kein Knecht, sondern alles und in allen ist Christus.« Apostelgesch. 10, 34: »Erfahre es in Wahrheit, denn Gott sieht nicht die Personen an.« 2. Chron. 19, 7: »Bei unserm Gott ist keine Unbilligkeit und keine Bevorzugung einzelner.« Prediger 35, 15: »Der Herr ist der Richter, und bei ihm gilt kein Ruhm der Person.« Römer 2, 11: »Denn bei Gott ist kein Vorzug der Personen.«

14. Von dem elften Gesetz, welches gebietet, das, was nicht geteilt werden kann, gemeinsam zu besitzen, weiß ich nicht, ob die Heilige Schrift es ausdrücklich erwähnt; indes findet sich die Anwendung überall, in der gemeinsamen Benutzung der Brunnen, der Wege, der Flüsse, der heiligen Geräte usw.; denn sonst könnten die Menschen nicht leben.

15. Ich habe es zwölftens für ein natürliches Gesetz erklärt, daß das, was weder geteilt noch gemeinsam besessen werden kann, durch das Los verteilt werde. Dies wird durch das Beispiel Moses' bestätigt, welcher auf Geheiß Gottes, 4. Buch Moses 34, die Teile des gelobten Landes den Stämmen nach dem Lose zum Besitz gab; ebenso Apostelgeschichte 1, 24-26 durch das Beispiel der Apostel welche zu ihrer Zahl den Matthias statt des Justus durch das Los hinzunahmen mit den Worten: »Du, Herr, der du erwählt hast« usw. Dasselbe in Sprüche 16, 33:[124] »Die Lose werden in den Korb geworfen, aber von Gott geleitet.« Ebenso zeigt sich das dreizehnte Gesetz darin, daß die Erbschaft dem Esau, als dem Erstgeborenen Isaaks, gebührte, wenn er sie nicht verkauft gehabt, oder der Vater anders bestimmt hätte (I. Buch Moses 25, 33).

16. Der heilige Paulus tadelt in seinem ersten Briefe an die Korinther, Kap. 6, die Christen jener Stadt, daß sie vor ungläubigen Richtern, ihren Feinden, Prozesse unter sich führen. »Es ist unrecht,« sagt er, »daß ihr nicht lieber wollt Schaden leiden und den Betrug ertragen; denn es ist gegen jenes Gesetz, das uns befiehlt, einander zu helfen.« Allein wenn ein Streit über notwendige Bedürfnisse entsteht, was soll da geschehen? Deshalb sagt der Apostel V. 5: »Ich sage es zu eurer Beschämung, es ist also unter euch kein Weiser, der unter seinen Brüdern Recht sprechen könnte!« Damit bestätigt er jenes natürliche Gesetz, das ich als das fünfzehnte aufgeführt habe, wonach, wenn der Streit nicht zu vermeiden ist, die Parteien sich über einen dritten als Schiedsrichter zu einigen haben, so daß (wie das sechzehnte Gesetz verlangt) keiner der Streitenden Richter in seiner eigenen Angelegenheit sein kann.

17. Daß der Richter oder Schiedsmann keinen Lohn für seinen Spruch annehmen darf (das siebzehnte Gesetz), erhellt aus 2. Buch Moses 23, 8: »Und du sollst keine Geschenke annehmen, die auch die Klugen blind machen und die Worte der Gerechten verkehren.« Und Prediger 20, 31: »Geschenke und Gaben blenden die Augen der Richter.« Daraus folgt, daß der Richter sich dem einen Teile nicht mehr als dem andern verpflichten darf; dieses, das neunzehnte Gesetz, wird bestätigt durch 5. Buch Moses 1, 17: »Es soll kein Unterschied der Person sein, und ihr sollt den Kleinen hören wie den Großen.« Auch durch alle die Stellen, welche oben gegen die Bevorzugung der Personen angeführt worden sind.

18. Daß bei der Entscheidung über die Tatfrage Zeugen gehört werden sollen (das achtzehnte Gesetz), bestätigt die Schrift nicht allein, sondern sie schreibt auch mehrere Zeugen vor; in 5. Buch Moses 17, 6 heißt es: »Durch den Mund zweier oder dreier Zeugen wird der[125] untergehen, welcher gemordet hat.« Dasselbe wiederholt 5. Buch Moses 19, 15.

19. Die Trunkenheit, die ich deshalb als eine Verletzung des natürlichen Gesetzes zuletzt mit aufgenommen habe, weil sie den rechten Gebrauch der Vernunft hindert, wird auch in der Heiligen Schrift aus demselben Grunde verboten. So Sprüche 20, 1: »Der Wein macht böse Leute, und starkes Getränk macht wild; wer dazu Lust hat, wird nimmer weise.« Ferner Sprüche 31, 4, 5: »Gib den Königen nicht Wein zu trinken; sie möchten trinken und der Rechte vergessen und die Sache der Kinder des Armen verändern.« Auch ergibt der folgende Vers, daß wir die Schlechtigkeit dieses Lasters nicht in der Menge des getrunkenen Weines suchen sollen, sondern in der dadurch bewirkten Schwächung des Urteils und der Vernunft; denn er sagt: »Gebet starkes Getränk denen, die umkommen sollen, und den Wein den betrübten Seelen, daß sie trinken und ihres Elends vergessen und ihres Unglücks nicht mehr gedenken.« Denselben Grund gebraucht Christus gegen die Trunkenheit, Lukas 21, 34: »Aber hütet euch, daß eure Seelen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen.«

20. Wenn ich oben die natürlichen Gesetze für ewig erklärt habe, so bestätigt das Matth. 5, 18: »Denn ich sage euch wahrlich, bis daß Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Titel vom Gesetz, bis daß alles geschehe«; und Psalm 118, 160: »In Ewigkeit bleiben alle Urteile deiner Gerechtigkeit.«

21. Ich habe auch gesagt, daß die Naturgesetze das Gewissen binden, d.h. daß der gerecht ist, der nach Möglichkeit sie zu erfüllen strebt. Und wenn auch jemand alle seine Handlungen in betreff des äußeren Gehorsams so einrichten würde, wie das Gesetz gebietet, es aber nicht des Gesetzes wegen tut, sondern wegen der angedrohten Strafe oder aus Eitelkeit, so ist er trotzdem ungerecht. Beides bestätigt die Heilige Schrift; das erste Jesaias 55, 7: »Der Gottlose wird seine Wege verlassen, und der ungerechte Mann seine Gedanken, und zurückkehren zu dem Herrn, und man wird sich seiner erbarmen.« Hesekiel 18, 31: »Werfet von euch all eure Übertretung, womit ihr übertreten habt, und machet euch ein neues Herz und einen[126] neuen Geist; denn warum willst du also sterben, du Haus Israel?« Aus diesen und ähnlichen Stellen erhält deutlich, daß Gott die Taten derer nicht strafen werde, deren Herz rein ist. Den zweiten Teil des Gesetzes bestätigt Jesaias 29, 13, 14: »Und der Herr sprach: Darum, daß dies Volk zu mir nahet mit seinem Munde und mit seinen Lippen mich ehrt, aber sein Herz fern von mir bleibt, will auch ich mit diesem Volke wunderlich umgehen« usw. Matth. 5, 20: »Denn ich sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser denn die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.« In den folgenden Versen erklärt unser Erlöser, daß die Gebote Gottes nicht bloß durch Taten, sondern auch durch den Willen verletzt werden können. Denn die Schriftgelehrten und Pharisäer beobachteten in ihrem äußern Handeln die Gesetze streng, aber nur um der Ehre willen; ohnedem würden sie dieselben verletzt haben. Es finden sich in der Heiligen Schrift unzählige Stellen, wo es deutlich heißt, daß Gott den guten Willen für die Tat nehme, und zwar sowohl bei guten wie bei bösen Handlungen.

22. Daß das natürliche Gesetz leicht zu erfüllen ist, sagt Christus Matth. 11, 28, 29, 30: »Kommt alle zu mir her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen, denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.«

23. Jene Regel endlich, nach der, wie ich gesagt, ein jeder leicht erkennen kann, ob eine vorzunehmende Handlung dem Gesetze entspricht oder nicht, nämlich: Was du nicht willst, daß dir geschehe, das tue auch den andern nicht, wird beinahe mit denselben Worten von unserm Erlöser ausgesprochen, Matth. 7, 12: »Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tuet auch ihnen.«

24. Wie das ganze natürliche Gesetz göttlicher Natur ist, so ist umgekehrt das Gesetz Christi (welches vollständig in Matth. 5, 6 u. 7 gelehrt wird) auch ganz (mit Ausnahme des einen Gebotes, daß man die Frau nicht ehelichen solle, die wegen Ehebruchs geschieden worden, welches Jesus behufs Erklärung des positiven göttlichen Gesetzes gegen[127] die Juden anführte, welche das Gesetz Moses' nicht richtig auslegten) die natürliche Lehre. Ich sage, das ganze Gesetz Christi ist in den genannten Kapiteln enthalten, aber nicht seine ganze Lehre. Denn ein Teil der christlichen Lehre ist der Glaube, der nicht unter dem Gesetz mit befaßt ist. Denn die Gesetze werden für die Handlungen gegeben, die nach unserm Willen geschehen, aber nicht für Meinungen und für den Glauben; diese sind nicht in unserer Gewalt und folgen nicht unserm Willen.[128]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 119-129.
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