8. Kapitel
Von dem Recht des Herrn gegen seine Sklaven

[166] 1. In den beiden vorhergehenden Kapiteln habe ich über den institutiven oder künstlich errichteten Staat gesprochen, welcher durch Vereinbarung und gegenseitige Verträge der einzelnen, die sie miteinander abschließen, errichtet wird. Ich will jetzt über den natürlichen Staat sprechen, der auch der erworbene genannt werden kann, da er durch die Gewalt und die natürlichen Kräfte erlangt wird. Zunächst ist zu ermitteln, auf welche Weise das Herrschaftsrecht über Personen von Menschen erworben werden kann. Wo solch ein Recht erworben ist, da besteht eine Art von Königreich im kleinen; denn König sein bedeutet nichts anderes als der Besitz der Macht über viele Personen; somit ist eine große Familie ein Königreich, und ein kleines Königreich ist eine Familie. Wir wollen nun wieder auf den Naturzustand zurückgehen und annehmen, daß die Menschen gleichsam wie Schwämme plötzlich aus der Erde hervorgewachsen und erwachsen wären, ohne daß einer dem andern verpflichtet wäre. Dann würde es nur drei Fälle geben, wo einer über die Person eines andern eine Herrschaft erlangen könnte. Der erste ist, wenn die einzelnen des Friedens und des eigenen Schutzes wegen sich selbst durch gegenseitig miteinander eingegangene Verträge freiwillig in die Macht und Gewalt eines Menschen oder einer Versammlung begeben. Dieser Fall ist bereits früher behandelt worden. Der zweite Fall ist, wenn jemand im Kriege gefangen oder besiegt wird oder, seiner Kraft nicht mehr vertrauend, zur Erhaltung seines Lebens dem Sieger oder dem Starkem seine Dienste verspricht und zusagt, alles zu tun, was dieser verlangen sollte.[166] Bei diesem Vertrage erhält der Besiegte oder Schwächere den Vorteil, daß ihm das Leben gelassen wird, was nach dem Rechte des Krieges im Naturzustande der Menschen ihm genommen werden konnte, und der Sieger erhält als Vorteil die Dienste und den Gehorsam des andern. Kraft eines solchen Vertrages schuldet also der Besiegte dem Sieger unbeschränkte Dienste und Gehorsam, so viel er vermag (ausgenommen nur das Handeln gegen die göttlichen Gesetze); denn wer, auch ehe er weiß, was ihm befohlen werden wird, den Befehlen von irgend jemand zu gehorchen sich verpflichtet, hat einfach und ohne Beschränkung jeden Befehl zu erfüllen. Der so Verpflichtete heißt Knecht oder Sklave, der Verpflichtende der Herr. Drittens wird das Recht auf eine Person durch die Erzeugung erlangt; diese Erwerbsart wird in dem nächsten Kapitel behandelt werden.

2. Nicht bei jedem Kriegsgefangenen, dem das Leben gelassen worden, nimmt man einen Vertrag mit dem Herrn an; denn nicht jedwedem kann man so trauen, daß man ihm so viel Freiheit läßt, um, wenn er will, davonlaufen oder den Dienst verweigern oder seinem Herrn einen Nachteil oder Schaden bereiten zu können; deshalb müssen solche Gefangene in Werkhäusern oder in Fesseln arbeiten; und man nennt sie deshalb nicht bloß mit dem gemeinsamen Namen Sklaven oder Knechte, sondern Züchtlinge. So sind auch heutzutage die Diener von den Leibeigenen oder Sklaven verschieden.

3. Deshalb entspringt die Verpflichtung eines Sklaven gegen seinen Herrn nicht einfach daraus, daß dieser ihm das Leben geschenkt hat, sondern vielmehr daraus, daß er ihn nicht in Fesseln oder eingesperrt hält. Denn jede Verbindlichkeit entspringt aus einem Vertrage; einen Vertrag aber gibt es ohne Treue im Worthalten nicht, wie aus Kap. 2, Abschn. 9, erhellt, wo der Vertrag als ein Versprechen dessen, dem man vertraut, definiert worden ist. Es ist also hier mit dem Geschenk des Lebens auch ein Vertrauen und eine Treue verbunden, vermöge deren der Herr ihm die körperliche Freiheit beläßt; wären diese Verbindlichkeit und die Vertragspflichten nicht hinzugetreten, so könnte der Sklave oder Knecht nicht bloß davonlaufen,[167] sondern auch seinen Herrn, der ihm das Leben gelassen hat, töten.

4. Deshalb können solche Sklaven oder Knechte, die in Gefängnissen, Arbeitshäusern oder in Fesseln gehalten werden, unter die vorstehende Definition nicht befaßt werden, weil sie nicht vermöge eines Vertrages ihre Dienste leisten, sondern nur, um körperlicher Züchtigung zu entgehen. Deshalb handeln sie, wenn sie davonlaufen oder ihren Herrn töten, nicht gegen die natürlichen Gesetze. Denn wenn jemand in Fesseln gelegt wird, so zeigt dies ganz klar, daß der Fesselnde annimmt, der Gefesselte sei durch kein anderes Band genügend gebunden.

5. Der Herr hat sonach über den nicht gefesselten Sklaven ebensoviel Recht wie über den gefesselten; denn er hat über beide die höchste Macht und kann von dem Sklaven ebenso wie von jeder andern lebenden oder leblosen Sache sagen: Das ist mein. Daraus folgt, daß alles, was der Sklave vorher besessen hat, an den Herrn fällt; und daß alles, was der Sklave erwirbt, er für seinen Herrn erwirbt. Denn wer mit Recht über eine Person alle Gewalt hat, hat sie sicher auch über alle Sachen, über welche diese Person verfügen kann. Deshalb kann der Sklave nichts gegen den Willen seines Herrn als sein Eigentum sich vorbehalten. Indes vermag er, wenn der Herr ihm Sachen zuteilt, ein Eigentumsrecht an diesen so weit zu erlangen, daß er sie zurückbehalten und gegen seine Mitsklaven verteidigen kann, in derselben Weise wie, nach dem Frühern, dem Bürger gegenüber dem Willen des Inhabers der höchsten Gewalt eigentlich nichts als sein Eigentum gehört, jedem Bürger jedoch ein Eigentum gegenüber seinen Mitbürgern zusteht.

6. Wenn somit der Sklave selbst und alles, was er besitzt, dem Herrn gehört, und jeder nach natürlichem Rechte über das Seine nach Belieben verfügen kann, so kann auch der Herr das Recht, das er über seinen Sklaven hat, veräußern, verpfänden oder letztwillig jemandem vermachen, wie es ihm beliebt.

7. Wenn früher bei dem institutiven Staat gezeigt worden ist, daß der Inhaber der höchsten Gewalt dem Bürger kein Unrecht tun kann, so gilt dies auch von den Sklaven,[168] weil sie ihren Willen dem Willen ihres Herrn unterworfen haben. Alles, was dieser auch tun mag, geschieht deshalb mit ihrem Willen; niemandem kann jedoch mit seinem Willen ein Unrecht geschehen.

8. Sollte der Herr durch Gefangenschaft oder freiwillige Unterwerfung Sklave oder Untertan eines andern werden, so wird dieser andere nicht bloß der Herr von ihm selbst, sondern auch von seinen Sklaven; und zwar wird er der höchste Herr des Sklaven und der unmittelbare Herr des ersten Herrn. Denn da nicht bloß der Sklave, sondern auch sein Besitztum dem Herrn zufällt, so gehören auch seine Sklaven dem Herrn, und der mittelbare Herr kann nur so weit, als es dem obersten gut erscheint, über seine Sklaven verfügen. Wenn deshalb in einzelnen Staaten der Herr eine unbeschränkte Gewalt über die Sklaven hat, so ist diese aus dem Naturrecht entsprungen und nicht durch das bürgerliche Gesetz begründet; dieses hat sie nur zugelassen.

9. Der Sklave wird durch dieselbe Weise aus seiner Sklaverei befreit, durch welche in dem Vertragsstaat die Untertanen aus der Untertänigkeit loskommen. Erstens, wenn der Herr ihm die Freiheit schenkt, indem das Recht über ihn, das der Sklave von sich auf den Herrn übertragen hat, von dem Herrn dem Sklaven zurückgegeben werden kann. Eine solche Schenkung der Freiheit heißt Manumission, Freilassung; es ist derselbe Fall, als wenn der Staat einem Bürger erlaubt, in einen andern Staat überzusiedeln. Zweitens, wenn der Herr den Sklaven von sich fortjagt. In einem Staate ist das Verbannung; sie unterscheidet sich in der Wirkung [nicht von der Freilassung, sondern nur in der Art. Bei der Freilassung wird die Freiheit als ein Geschenk gewährt, bei der Verbannung ist sie eine Strafe. Eine Entsagung auf die Gewalt findet in beiden Fällen statt. Drittens wird, wenn der Sklave gefangen genommen wird, die alte Sklaverei durch die neue aufgehoben; denn so wie alle andern Sachen, so können auch Sklaven durch den Krieg erworben wer den, und es ist billig, daß der neue Herr sie beschütze, wenn er sie als die seinigen halten will. Viertens wird der Sklave frei, wenn kein Nachfolger des Herrn bekannt ist, z.B. wenn[169] der Herr ohne Testament oder Erben verstorben ist. Denn niemand kann verpflichtet sein, wenn er nicht weiß, wem er das Schuldige zu leisten habe. Endlich wird ein Sklave, der in Fesseln gelegt oder sonst seiner körperlichen Freiheit beraubt wird, dadurch von jener vertragsmäßigen Verbindlichkeit frei. Denn wo kein Vertrauen ist, kann auch kein Vertrag sein, und überhaupt nicht vorausgesetzte Treue kann nicht gebrochen werden. Wenn aber der Herr selbst der Sklave eines andern ist, so kann er seine Sklaven nicht völlig freigeben, sondern sie bleiben noch in der Gewalt des höhern Herrn, da, wie oben gezeigt worden, solche Sklaven nicht jenem, sondern dem höhern Herrn gehören.

10. Ein Recht über unvernünftige Tiere wird ebenso wie über menschliche Personen erlangt. Denn wenn in dem Naturzustande wegen des Krieges aller gegen alle jeder Mensch rechtlich andere sich unterjochen oder sie töten kann, sobald es ihm vorteilhaft erscheint, so ist das um so mehr gegenüber den Tieren erlaubt. Man kann also nach Belieben die Tiere, welche sich zähmen und zu Diensten gebrauchen lassen, in das Joch spannen und die übrigen in stetem Kriege als gefährlich und schädlich verfolgen und vernichten. Das Eigentum an den Tieren entspringt deshalb aus dem Naturrecht, nicht aus dem positiven göttlichen Recht. Denn hätte ein solches Recht nicht schon vor der Verkündigung der Heiligen Schrift bestanden, so hätte niemand die Tiere mit Recht zur Nahrung schlachten dürfen: eine sehr mißliche Lage für die Menschen, die von den Tieren ohne Unrecht verzehrt werden, aber ihrerseits die Tiere nicht verzehren dürfen. Wenn es also nach dem natürlichen Recht geschieht, daß ein Tier einen Menschen töten kann, so geschieht es nach demselben Rechte, daß der Mensch die Tiere schlachten darf.[170]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 166-171.
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