LXXVIII

Eigenthümliche Grösse des Gegenstandes unsres Gedichts

[301] Des Beweises, dass Herrmann und Dorothea nicht der heroischen Epopee beigezählt werden darf, werden uns unsre Leser leicht überheben. Es liegt von selbst am Tage und ist noch mehr durch dasjenige klar, was wir bei der allgemeinen Prüfung des Geistes, in welchem es gedichtet ist, über seinen geringeren sinnlichen Reichthum und seinen überwiegend grösseren Gehalt für den Geist und die Empfindung gesagt haben. Es ist unverkennbar, dass, so rein bildend es auch den Sinn und die Einbildungskraft beschäftigt, es doch diese letztere und die Sinne nicht in den lebhaften Schwung versetzt, in welchem uns z.B. Homer durch den Glanz und den Reichthum seiner Dichtungen mit sich fortreisst. Aber desto nöthiger wird es seyn, einige Worte über die Grösse und Wichtigkeit des Gegenstandes, den es darstellt, hinzuzufügen, um es gegen den Vorwurf zu retten, dass es nur die unbedeutenden Schicksale Herrmanns und Dorotheens schildert.

Es ist natürlich, dass diese Grösse nicht im ersten Augenblick in die Augen fallen kann, dass sie sogar eben deswegen, weil sich ihr Bild erst nach und nach vor unserm Geiste gestaltet, eine eigen modificirte Empfindung hervorbringt. Es ist ganz etwas anders, mit der Ankündigung eines schon vorher bekannten Gegenstandes oder mit der Sache selbst anzuheben; ganz etwas anders, als epischer Sänger, als lebendiges Organ des Rufs und der Geschichte oder als einfacher Erzähler, als blosser Dichter aufzutreten. In dem ersteren Fall erhebt sich die Einbildungskraft des Lesers auf den blossen Ton, den sie anstimmen hört, wird, noch ohne dass der Gegenstand selbst wirkt, von dem Feuer mit ergriffen, das den Dichter begeistert;[301] in dem letzteren muss erst der Geist und das Herz den Stoff selbst umfassen, ehe das Interesse daran sich ihr ganz mitzutheilen vermag. Natürlich muss also dort das Gefühl einer glänzenderen, mehr phantastischen, aber eben so natürlich hier das einer gehaltvolleren und innigeren Grösse entstehen. Und so finden wir es auch in der That. Die ersten Verse des Dichters wecken bloss Neugierde und Theilnahme in uns, aber bei den letzten Gesängen sind wir von dem Höchsten und Besten durchdrungen, was wir je in unsern glücklichsten Momenten dachten oder empfanden.

Das grösseste Geheimniss besonders des epischen Dichters besteht in der Kunst, den Boden zuzubereiten, auf welchem seine Figuren erscheinen, ihnen den Hintergrund zu geben, vor dem sie hervortreten sollen. Diese Kunst hat unser Dichter auf eine ausnehmende Weise verstanden. Die Personen seines Gedichts sind allein sein Werk; sie haben keinen andern Werth, keine andere Wichtigkeit, als die er ihnen mitgetheilt hat, aber die Begebenheiten, die Zeitumstände, in die er ihre Schicksale verwebt, das, was er eigentlich durch sie darstellt, was, indess wir sie sehen, in ihrer Gestalt, in ihren Handlungen auf uns einwirkt, das hat für sich und unabhängig von seiner Bearbeitung ein grosses, ein allgemeines, ein hinreissendes Interesse.

Gleich in dem ersten Gesange zeigen sich uns zwei bedeutende, sichtbar von einander geschiedene Gruppen: im Vordergrunde einige einzelne Charaktere, Menschen, die Gleichheit des Wohnorts, der Beschäftigung, der Gesinnungen in einen engen Kreis mit einander verbindet; dann in der Ferne ein Zug von Ausgewanderten, durch Krieg und bürgerliche Unruhen aus ihrer Heimath vertrieben. Gleich hier also steht die Menschheit und das Schicksal vor uns da, jene in reinen, festen, idealischen und zugleich durchaus individuellen Formen, dieses in einer Staaten erschütternden, wirklichen und historischen Begebenheit. Die Ruhe einer Familie contrastirt gegen die Bewegung eines Volks, das Glück Einzelner gegen den Unternehmungsgeist Vieler.[302]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 301-303.
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