LXXXIX

Aecht dichterische Erfindung des Ganzen

[325] Bei der Anordnung des Détails ist kein Umstand, der aus einem andern, vorher angegebenen natürlich herfliesst, ausgelassen und kein angeführter unbenutzt geblieben, und eben so wenig findet man einen, dessen der Dichter bedurft hätte und der nicht schon durch die einmal vorausgesetzten Verhältnisse mit gegeben gewesen wäre. Wie in einer vollkommen ausgearbeiteten Bildsäule nichts mehr blosser Stoff ist, wie auch der kleinste Raum, über den der Finger hinweggleitet, seine eigne Form und seine eigne Begränzung hat, so ist auch hier alles bestimmt und jede Bestimmung erzeugt immer von selbst wieder die folgende. Der Leser hätte sie hinzufügen müssen, wenn es der Dichter versäumt hätte.

Gerade nun dadurch zeichnet sich das ächte Dichtergenie in der Composition aus, dass es seinen Gegenstand gleich dergestalt in die Phantasie auffasst, dass sich alles davon absondert, was keiner poetischen Wirkung fähig ist, alles hingegen, was diese vermehren kann, sich von selbst darin findet. Ohne nur irgend zu suchen, muss der Dichter in dem Stoff, den ihm die Begeisterung zuführte, selbst verwundert, alles vereint und nur das antreffen, was er bedarf; er muss bloss entwickeln, was ihm, gleich als wäre es das Geschenk eines glücklichen Ungefährs, sein Genius, ohne sein Bemühen, nur durch die Kraft seiner Natur gab. Diess ist hier um so auffallender, da ein so einfacher Stoff und im Grunde nur ein einziges Verhältniss[325] aufgestellt wird. Der Dichter kann hier nicht, wie z.B. Homer bei der Schilderung einer Schlacht, mehrere Bilder zugleich anlegen und von dem einen zum andern übergehn; er muss sein ganzes Material sich allein aus sich selbst erzeugen lassen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 325-326.
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