LXXXV

Gesetz des Gleichgewichts

[314] Die drei bis jetzt entwickelten Gesetze fliessen alle aus dem Begriff der Darstellung einer Handlung her; sie sind im Ganzen eben so gut der Tragödie eigen und nehmen nur durch den epischen Gebrauch eigne Bestimmungen an, Die folgenden entspringen mehr aus der eigenthümlichen Natur der Epopee, den betrachtenden Sinn unsres Gemüths und zwar denselben in seiner höchsten Allgemeinheit zu beschäftigen. In dieser Hinsicht zeigt sich uns zuerst:[314]

4. das Gesetz des Gleichgewichts. Von dem Gleichgewichte, in welchem der epische Dichter alle einzelnen Elemente seiner Totalwirkung erhält, hängt die Ruhe ab, die er in dem Leser bewirken soll. Ohne dasselbe würde zugleich die epische Sinnlichkeit, Stetigkeit und Einheit leiden. Man kann es als den Charakter der Natur, mit welcher der epische Dichter uns harmonisch stimmt, ansehen, dass sie, den ausschliesslichen Ansprüchen Einzelner feind, sogar gegen den nothwendigen Untergang Einzelner gleichgültig, nur mit unermüdlicher Sorgfalt über das Daseyn des Ganzen wacht. Auch er also darf nur allein darauf sein Augenmerk richten und die Wichtigkeit zum Ganzen seines Plans ist der einzige Maassstab, nach welchem er den Raum abmessen darf, den er den einzelnen Theilen anweisen kann.

Aber vor allem hat er dafür zu sorgen, dass sich keine Empfindung ausschliessend oder auch nur mit auffallendem Uebergewicht unsrer Seele bemeistre. Daher würde z.B. ein eigentlich tragischer Stoff einer wahrhaft epischen Behandlung grosse Schwierigkeiten in den Weg setzen, da neben der Herrschaft, welche die Gefühle der Furcht und des Mitleids über uns ausüben, leicht nicht noch etwas andres emporkommen kann. Auch ist ein solcher von epischen Dichtern fast nie behandelt worden; denn das Tragische der Messiade z.B. löst sich wenigstens am Ende in Sieg und Triumph auf.

Indess darf man darum dennoch auch einen solchen Stoff nicht ganz und gar aus dem Gebiete der Epopee verbannen. Bei keiner Dichtungsart kommt es eigentlich auf das Object, bei allen nur auf die Art an, wie dasselbe bearbeitet wird. Selbst die vollkommenste Tragödie, um sogleich das auffallendste Beispiel zu wählen, liesse sich auch an einer durchaus glücklichen und gelingenden Begebenheit ausführen. Die höchsten und heftigsten Bewegungen der Freude, Bewunderung und Entzücken, sind einer eben so grossen Macht über die Seele fähig und nehmen im Ganzen denselben heftigen und beschleunigten Gang, als die höchsten Bewegungen der Trauer und des[315] Schmerzes; und wenn ein Dichter glücklich genug wäre, einen Stoff zu finden, in welchem der gelingende Erfolg, der das Ende krönte, einen Sterblichen auf einmal zu einem beinahe göttlichen Wohlthäter seines Geschlechts erhöbe, in dem der, welchem diese Auszeichnung zu Theil würde, ein Charakter wäre, der mit der kraftvollsten Energie und dem edelsten Enthusiasmus das reinste und einfachste Gefühl der Unwürdigkeit zu einer so hohen Bestimmung verbände, und in dem endlich die Wendung, durch welche das Schicksal diess vollendete, recht plötzlich und überraschend einträfe, so könnte er gerade eben die Gefühle der unruhigen Anspannung, der qualvollen Ungewissheit und der höchsten und heftigsten Rührung bei der Entwicklung in uns hervorbringen, die uns jetzt bei eigentlich tragischen Stoffen so mächtig ergreifen. Wir würden uns auch, vorzüglich wenn der Dichter geschickt genug wäre, diejenige Leidenschaft, in welcher Ungewissheit, Qual und Entzücken am engsten mit einander verbunden sind, die zweifelnde und endlich beglückte Liebe, so gross zu behandeln, dass dadurch sein Gegenstand (den er schlechterdings nur durch seine Erhabenheit retten kann) nicht verkleinert würde – dann würden wir uns eben so auf einen Augenblick von der Natur abgeschnitten und auf unsre eigne Selbstständigkeit beschränkt empfinden, als bei der eigentlichen Tragödie. Denn das Gefühl eines unverdienten und überschwenglichen Glücks schlägt die Seele mit nicht geringerer Gewalt, als die Grösse des Schmerzes nieder.

Die Behandlung ähnlicher Stoffe, nur mehr ins Sinnlich-Grosse, als ins Moralisch-Erhabene, mehr phantastisch als pragmatisch bearbeitet, giebt, um diess im Vorbeigehen zu bemerken, den höchsten und vollkommensten Begriff der ernsten und feierlichen Oper.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 314-316.
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