VIII

Zweiter Vorzug der Kunst in ihrer letzten Vollendung: Totalität – Zwiefacher Weg, dieselbe zu erhalten

[145] Wir haben nunmehr gezeigt, wie der Dichter zur Idealität gelangt; aber unsre Behauptung im Vorigen erstreckte sich noch weiter: wir sagten, dass er allemal auch Totalität erreiche; wir bedienten uns des Ausdrucks einer Welt, und dieser Ausdruck sollte keine Metapher seyn.

Die Welt, als der geschlossene Kreis alles Wirklichen, lässt sich auf eine zwiefache Weise betrachten: einmal von den Gegenständen aus, die sie umfasst; dann von den Organen aus, womit der Mensch dieselben in sich aufnimmt. Denn nur insofern er entsprechende Organe besitzt, kann eine Aussenwelt für ihn vorhanden seyn.

Der Dichter kann daher die Totalität, nach der er strebt, auch auf diese doppelte Weise erreichen, in dem er entweder den Kreis der Objecte oder den Kreis der Empfindungen durchläuft, die sie hervorbringen. Das erstere ist gewöhnlich der Weg des beschreibenden, das letztere der des[145] lyrischen Dichters, obgleich beide auch diese Methode umtauschen können, da es nicht auf die unmittelbare, sondern nur auf die letzte Wirkung ankommt, die sie zurücklassen.

Auf keinem von beiden Wegen ist es ihm schwer, zu diesem Ziel zu gelangen. Alle verschiedenen Zustände des menschlichen Wesens und schon darum, weil diess der Standpunkt ist, aus dem wir die Natur betrachten, auch alle Kräfte der Natur sind so nahe mit einander verwandt, halten und tragen sich so gegenseitig unter einander, dass es kaum möglich ist, eine derselben lebendig darzustellen, ohne auch zugleich den ganzen Kreis mit in seinen Plan aufzunehmen. Für den beschreibenden Dichter insbesondere ist das Leben so reich an Verhältnissen, und es wird ihm so leicht, dieselben wiederum auf eine für den Menschen bedeutende Weise darzustellen, dass er nur einen selbst zufällig aufgenommenen Stoff näher zu entwickeln, nur die angelegten Figuren mehr zu individualisiren braucht, um immerfort auf Lagen zu stossen, die er dem Gemüth wichtig machen kann, und um bald nach und nach die ganze Masse von Gegenständen zu erschöpfen, welche sich seinem Blick von seinem Standpunkte aus darbieten.

In dieser Kunst, das ganze Leben der Phantasie vorzuführen oder den ganzen Menschen in seinem Innersten zu erschüttern und also immer auf einmal alles zu umfassen, was ihn zu rühren vermag, hat niemand die Alten übertroffen. Jede Hymne des Pindar, jeder grössere Chor der Tragiker, jede Ode des Horaz durchläuft, nur in unendlich abwechselnder Mannigfaltigkeit, denselben Kreis. Immer ist es die Erhabenheit der Götter, die Macht des Schicksals, die Abhängigkeit des Menschen, aber auch die Grösse der Gesinnung und die Höhe des Muths, durch welche er sich gegen das Schicksal zu behaupten oder gar über dasselbe zu erheben vermag, welche der Dichter schildert. Und wie anders, wie lebendiger, reicher, sinnlich-klarer noch ist eben diess im Homer gezeichnet! Nicht bloss in seinem ganzen Gedicht, in jedem einzelnen Gesänge, fast in jeder einzelnen Stelle liegt das ganze Leben offen und klar vor uns da, dass die Seele auf einmal leicht und sicher, was wir sind und[146] vermögen, was wir leiden und geniessen, wo wir recht thun und wo wir fehlen, entscheidet.

Daher die beruhigende Wirkung, die jedes rein gestimmte Gemüth bei der Lesung der Alten erfährt; daher, dass sie auch den leidenschaftlichsten Zustand heftiger Aufwallung oder erliegender Verzweiflung allemal zur Ruhe herab und zum Muthe hinaufstimmen. Denn diese Kraft einhauchende Ruhe fehlt niemals, sobald nur der Mensch sein Verhältniss zu der Welt und dem Schicksale ganz übersieht. Bloss wenn er gerade da stehen bleibt, wo die äussere Macht seine innere Kraft oder seine innere Heftigkeit das äussere Gleichgewicht zu überwältigen droht, entsteht verzweifelnder Mismuth, und so günstig ist die ihm in der Reihe der Dinge angewiesene Stelle, dass Harmonie und Ruhe immer sogleich zurückkehren, als er nur den Kreis der Erscheinungen vollendet, welche ihm die Phantasie in diesen Augenblicken einer ernsten Rührung, in welcher er mit dem Geschick Rechnung hält, vorführt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 145-147.
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